Gegenstand des didaktischen Materials "Polizei und Deportation" sind fünf Lebensläufe von Polizisten, die in den 40er-Jahren im Judenreferat der Stapoleitstelle Berlin gearbeitet haben. Dazu gehören Willi Rothe, Karl Becker und Felix Lachmuth. Gegen sie wurde in den Jahren 1963 bis 1971 wegen ihrer Beteiligung an den Deportationen der jüdischen Bevölkerung Berlins in einem Verfahren vor dem Landgericht Berlin ermittelt. Das Verfahren – nach dem Hauptbeschuldigten Bovensiepen-Verfahren genannt – war Teil eines umfangreichen Verfahrenskomplexes gegen ehemalige Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes. Grundlagen für die Unterrichtsmaterialien sind Aussagen der Polizisten vor der Staatsanwaltschaft und dem Gericht aus dem Aktenbestand des Verfahrens.
Die Lebensläufe und die Aussagen der Polizisten weisen, was den sozialen, beruflichen und polizeilichen Hintergrund, aber auch die Rechtfertigungsmuster und das eigene Bild von der Beteiligung an der Ermordung der Berliner Juden anbelangt, ein hohes Maß an Übereinstimmungen aus. Sie unterscheiden sich aber zum Teil stark in ihren Aussagen, wie sie ihren Eintritt bei der Gestapo begründen (bzw. was ihre Motivation gewesen ist), welche Handlungsspielräume sie bei ihrer Tätigkeit sahen und wie sie diese genutzt haben.
In fünf (optional auch drei oder vier) verschiedenen Arbeitsgruppen soll jeweils das Verhalten einer Person und ihr Umgang damit diskutiert werden: Was war der berufliche und soziale Hintergrund der Person? Wie betätigte sie sich vor und nach der Zeit im Judenreferat? Welche Tätigkeiten hat sie im Judenreferat gemacht? Welche Handlungsspielräume hat sie gesehen und ggf. genutzt und übernimmt sie Verantwortung für das eigene Handeln? Welche Entlastungsgründe führt sie an? Schließlich soll die Frage nach der Bestrafung für den Betroffenen diskutiert werden.
Um Anregungen für die Diskussion zu geben, können nach einer bestimmten Zeit Interpretationen der jeweiligen Aussagen, eine Einschätzung des Staatsanwaltes über die Polizisten oder die Aussage eines Gestapo-Fahrers über das Wissen um das Schicksal der Deportierten im Judenreferat in die Arbeitsgruppen gegeben werden. Alternativ dazu erhalten alle Gruppen das jeweilige Interpretationsangebot zu den Aussagen des Polizisten, während die Aussagen des Staatsanwaltes und des Gestapo-Fahrers zur inneren Differenzierung bereit liegen. I
m anschließenden Plenum werden die Biographien und die Ergebnisse der Arbeitsgruppen vorgestellt und gemeinsam diskutiert. Das Arbeitsblatt „Verfahrenseinstellungen und Urteile“ informiert über den Ausgang der Verfahren. Dabei soll es nicht nur um die „historische Perspektive“ des Nationalsozialismus gehen, sondern auch um die Frage, wie die ehemaligen Täter sowie die Gesellschaft (bzw. Politik) mit dieser Geschichte nach dem Krieg umgegangen sind.
Das didaktische Konzept knüpft an die Themenfelder Täterforschung und Vergangenheitspolitik an. In erster Linie zielt das Konzept auf die Förderung der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocausts. Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, dass neben der Zustimmung oder zumindest der Indifferenz eines großen Teils der Bevölkerung, erst das direkte Mitwirken zahlreicher und aus unterschiedlichsten Motiven handelnder Akteure verschiedener Institutionen den Mord an Millionen Menschen möglich gemacht hat.
Neben dem – um Kategorien der Täterforschung aufzugreifen – Typus des „Weltanschauungstäters“, des „utilitaristisch motivierten Täters“ und des „kriminellen Exzesstäters“ war es der „traditionelle Befehlstäter“ der bei Erschießungen „im Osten“, bei der Bewachung von (Konzentrations-) Lagern, an den Schreibtischen von Oberfinanzdirektion und Arbeitsamt seinen „unverzichtbaren Beitrag“ zur „arbeitsteiligen Kollektivtat“ leistete. Zu dem letzten Tätertypus gehören die Polizisten des Judenreferats der Stapoleitstelle Berlin, die Gegenstand dieses didaktischen Materials sind.
Die Polizisten, die ursprünglich zumeist bei der Schutz- bzw. Kriminalpolizei gearbeitet hatten, deportierten nach Maßgabe des Reichssicherheitshauptamtes die jüdische Bevölkerung Berlins in die Ghettos bzw. nach Auschwitz, wo diese systematisch ermordet wurden. Ihre konkrete Arbeit bestand in der Abholung der Betroffenen, im Bearbeiten von Karteikarten und Transportlisten und in der Begleitung der Transportzüge. In der Regel führten sie diese Arbeiten weitgehend selbständig, aber auch unhinterfragt aus. Handlungsspielräume, wie das Verschwinden lassen von Karteikarten und die Versetzung an eine andere Dienststelle, wurden nur von einem Bruchteil wahrgenommen.
Gleichwohl zeigen solche eher ungewöhnliche Verhaltensweisen, dass es Handlungsspielräume gegeben hat, die von den Polizisten unterschiedlich erkannt bzw. genutzt wurden und dem Bild eines determiniert handelnden Täters und dem wohlfeilen Argument „man hätte sowieso nichts machen können“ diametral widersprechen.
Bei dem Unterrichtsmaterial geht es darum zu verstehen, um was für Menschen es sich handelte, wie sie sich selbst begriffen und welche Prioritäten sie für sich selbst gesetzt haben. Die Polizisten waren weder „sadistische Ungeheuer“ (Sofsky) noch schuldlose determinierte Befehlsempfänger, sondern „ganz normale Männer“ (Browning), die gleichwohl so strukturiert waren, dass sie für sich z.T. nur bestimmte Handlungsmöglichkeiten – nämlich zumeist die konformen – sahen. Erkannt werden soll aber auch, dass es unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten gegeben hat, und dass das reibungslose Funktionieren der Polizei bei den Deportationen weniger Ergebnis eines vermeintlichen Befehlsnotstands, sondern vielmehr den Persönlichkeiten der Polizisten, das heißt dem, was sie „bis zu diesem Zeitpunkt geworden“ waren, geschuldet sind.
Die Aussagen der Polizisten vor dem Staatsanwalt und vor dem Richter in den 60er- und frühen 70er-Jahren verweisen darauf, wie die ehemaligen Täter sich die Geschichte angeeignet haben, wie sie damit umgegangen sind. Es mag nicht verwundern, dass sich die Polizisten durchweg für die eigene Beteiligung an den Deportationen nicht verantwortlich gesehen haben. Sie verteidigten sich mit dem Argument, nur auf Befehl gehandelt zu haben und zudem bei ihrer Tätigkeit „anständig“ geblieben zu sein. Vom weiteren Schicksal der Deportierten, nämlich ihrer Ermordung, hätten sie nichts gewusst. Die Verantwortung, die sie in den 40er-Jahren bei der Gestapo für sich nicht erkennen konnten, wehrten sie auch 20 Jahre später vehement ab. Ein Lernen aus der Geschichte, in einem sehr persönlichen Sinn, scheint nicht stattgefunden zu haben.
Das Bovensiepen-Verfahren steht beispielhaft für das Versagen der Justiz bei der Verfolgung ehemaliger NS-Täter, aber auch für die Schwierigkeiten einer juristischen Verfolgung des arbeitsteiligen und staatlich organisierten Massenmordes. Zugleich drückt das Verfahren deutlich die politische und gesellschaftliche Stimmung der 60er Jahre aus. Gegen sämtliche Beschuldigte wurde wegen Beihilfe zum Mord, nicht wegen Mordes selbst, ermittelt.
Ein Teil der Beschuldigten wurde sodann außer Verfolgung gesetzt, weil die Staatsanwaltschaft nicht widerlegen konnte, dass diese aufgrund ihrer nur kurzen Zugehörigkeit zum Judenreferat vom Schicksal der Deportierten nichts wissen konnten. Bei einem anderen Teil wurde die Anklage fallen gelassen, weil ihnen „niedrige Beweggründe“ nicht nachzuweisen waren. Sie profitierten von einer „stillen Amnestie“, die 1968 durch eine Gesetzesänderung die Verfolgung praktisch alle „Befehlstäter“ unmöglich machte.
Das Verfahren blieb, wie auch die anderen Verfahren des RSHA-Komplexes, von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Zudem musste die Staatsanwaltschaft gegen Behinderungen durch den Berliner Senat und offensichtliche Sympathien des Gerichts für die Beschuldigten bzw. Angeklagten kämpfen.
Das didaktische Material stellt somit die Frage nach der Verantwortung für das persönliche Handeln. Dabei ist es nicht das Ziel (oder nicht in erster Linie) die Handlungen der ehemaligen Polizisten moralisch zu bewerten, um daraus etwa Handlungsanleitungen für heute abzuleiten. Vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass das eigene Handeln Konsequenzen beinhaltet, die im Einzelfall genau reflektiert und in Bezug zur Gesellschaft gesetzt werden müssen, wofür das Individuum die Verantwortung trägt. Kurz, es geht darum, die Leute als Subjekte ihres Handelns anzuerkennen und – im Sinne Kants – auf ihre Mündigkeit zu bestehen. Dies beinhaltet die Anerkennung, aber auch die Einforderung von (späten) Erkenntnisprozessen und der Reflexion des eigenen Handelns.
Der Arbeitskreis Konfrontationen e.V. bietet Studientage für Schulklassen und außerschulische Gruppen an.
Akim Jah: jaha [at] arbeitskreis-konfrontationen [dot] de
http://www.arbeitskreis-konfrontationen.de/
Das Material steht auch auf der Website http://www.hoerpol.de zum Download bereit.
HÖRPOL ist eine Audio-Stadtteilführung für Jugendliche, die sich mit der NS-Geschichte und Antisemitismus in Berlin-Mitte beschäftigt. HÖRPOL ist kostenlos und besonders für Schulklassen-Exkursionen aller Schularten von Klassenstufe neun bis dreizehn geeignet. Als Audioguides dienen die MP3-Player und Handys der Jugendlichen. Auf unserem Portal finden Sie einen Beitrag über die Audioführung.