Ort/Bundesland: Niedersachsen |
|
Andreas Kraus Am Steinbruch 12 D-30449 Hannover Tel.: +49 (0) 5 11 44 06 67 Fax: +49 (0) 5 11 44 06 67 |
Stellen Sie sich vor, Sie seien in einer großen Behörde angestellt, ein Job in irgendeiner Bürokratie. Nehmen wir einfach an, Sie seien bei einer Eisenbahngesellschaft beschäftigt. Ihre Aufgabe bestehe darin, Fahrpläne zu erstellen oder vielleicht Eisenbahnwaggons für Reisende zu planen und auszustatten. Sie sind froh, dass Sie diesen Job haben, die Zeiten sind schlimm genug, viele Menschen sind arbeitslos, das politische und gesellschaftliche System ist von Krisen geschüttelt. Sie würden sich selbst als ganz normalen, durchschnittlichen Menschen bezeichnen, der einen Arbeitsplatz und eine Familie hat.
Sie erhalten nun die dienstliche Anweisung von Ihrem Vorgesetzten, spezielle Fahrpläne für Züge auszuarbeiten, die aus bestimmten, ihnen nicht bekannten Gründen, nur in der Nacht fahren. Diese Züge sind Bestandteil eines Regierungsprogramms, von dem Sie auch schon in der Zeitung gelesen haben. Die Regierung hat beschlossen, vor allem arbeitslose Ausländer vom wirtschaftlich schwachen Norden der Republik in den wirtschaftlich starken Südwesten umzusiedeln und dort neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ihr Vorgesetzter betont Ihnen gegenüber die Dringlichkeit und Priorität dieses Projekts, das, wie alles in dieser Zeit, aus Kostengründen so schnell und sparsam wie möglich abgewickelt werden muss. Falls Sie nicht für die Fahrpläne, sondern für die Eisenbahnwaggonausstattung zuständig wären, würden Sie nun ebenfalls in dieses Projekt involviert und müssten spezielle Wagen entwerfen, die Platz für 50 Umsiedler böten.
Welcher Grund bestünde, diesen Job nicht zu erledigen, mit Arbeitsverweigerung oder Kündigung zu reagieren? Nicht der geringste? Wann würden Sie diese Konsequenz ziehen und das Risiko Ihrer Entlassung tragen, d.h. des Arbeitsplatzverlustes mit allen Folgen für Sie und Ihre Familienangehörigen? Wenn Sie erfahren, dass nicht 50, sondern 150 Personen pro Waggon umgesiedelt werden? Dass auch Kinder und alte Menschen dabei sind? Aber Sie sind ja nicht für die Belegung verantwortlich, Sie erstellen doch nur den Fahrplan oder statten die Waggons aus! Würden Sie reagieren, wenn Sie erfahren, dass während der Transporte auch Menschen zu Schaden kommen? Oder dass der Zielort der Transporte, wie Sie den Zeitungen beiläufig entnehmen können, mit hoher Wahrscheinlichkeit radioaktiv verseucht ist, dass die Umsiedler also in den sicheren Tod geschickt werden?
Niemand würde dabei mitmachen, jeder würde sich verweigern, ist Ihre erste Vermutung. Aber wir wissen es aus der Geschichte (und der Gegenwart) leider besser - dieses fiktive Szenario hatte eine vergleichbare historische Realität.
In der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, aber auch im United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C., gehört ein Eisenbahnwaggon zu den imposantesten Ausstellungsstücken. Er ist eines der bedeutsamsten Symbole für den Holocaust. In der Tat, die Ermordung von Millionen Juden und Nicht-Juden in den Vernichtungslagern wäre ohne die Massentransporte mit der Eisenbahn unmöglich gewesen. Die Opfer wurden teilweise Hunderte von Kilometern bis zu ihrem Bestimmungsort verfrachtet. Die Deutsche Reichsbahn, eine der größten Dienstleistungsunternehmungen und bürokratischen Organisationen im Deutschen Reich, löste ihren Deportationsauftrag absolut zuverlässig, aber ohne jeden Anflug eines moralischen Zweifels.
Soweit wir aus den historischen Quellen, die Raul Hilberg akribisch ausgewertet hat, wissen, hat es bei keinem der Angestellten oder Beamten eine Arbeitsverweigerung gegeben, die aus moralischem Skrupel angesichts der "Sonderzüge nach Auschwitz" resultiert hätte. In dieser Hinsicht ist der Eisenbahnwaggon in Yad Vashem nicht nur ein Symbol des Leidens der Opfer, sondern auch der bürokratischen, arbeitsteiligen, moralisch indifferenten und systematisch effizienten Art und Weise des Verbrechens und der entsprechenden Mentalität der Täter.
Die Idee, das historische Vorbild "Deutsche Reichsbahn" für ein Planspiel zu nutzen, entstand 1973, also lange, bevor das Werk von Hilberg in deutscher Sprache existierte. Mitglieder der "Arbeitsgemeinschaft Christlicher Schüler" (ACS, Hannover) sichteten Filme, um eine Studienfahrt mit jungen Erwachsenen in die Gedenkstätte Auschwitz vorzubereiten. Als sie den Film "Nacht und Nebel" von Alain Resnais betrachteten, fielen ihnen Szenen mit Deportationszügen auf. Falls es möglich wäre, so war ihre Überlegung, Menschen heute in ähnliche Situationen zu versetzen, in der sich die Eisenbahner in der Vergangenheit befanden, dann wäre die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Holocaust nicht mehr nur eine abstrakt historische. Auch das berühmte Milgram-Experiment, das Stanford-Prison-Experiment oder das erst später verfasste Jugendbuch "Die Welle" waren ihnen gänzlich unbekannt.
Also entwickelten sie ein Planspiel, das die fiktive Deportation von Ausländern vom Norden Deutschlands zu einem radioaktiv verseuchten Gebiet im Südwesten simuliert - die eingangs geschilderte Entscheidungssituation. Und ähnlich wie im "Dritten Reich" sind die Informationen, die über das Szenario verfügbar sind, nicht deutlich ausgesprochen, aber jeder ist im Prinzip in der Lage, sofern er seinen Verstand benutzt, Teilinformationen zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Die Teilnehmer des Spiels erhalten eine Rolle und werden Mitglieder einer fiktiven tödlichen Bürokratie. Und wie die Eisenbahner in der Vergangenheit werden sie mit der Frage konfrontiert, ob sie erkennen, was sie tun, und ob sie sich diesem inhumanen System widersetzen. Thematisiert werden mit diesem Spiel mithin nicht Antisemitismus, Rassismus oder Xenophobie als intentionale Handlungsmotive, sondern moralische Apathie und kognitive Indifferenz gegenüber den eigenen Handlungen.
Natürlich kann ein Planspiel die historische Realität nicht kopieren, sondern es erzeugt eine eigene, inszenierte Realität. Dabei sind einige Charakteristika der Inszenierung mit dem Original vergleichbar, andere nicht. Aus didaktischen und pragmatischen Gründen sind die Anzahl der Rollen und der Grad der Bürokratie gegenüber der komplexen Organisation der historischen Deutschen Reichsbahn reduziert. Und selbstverständlich sind Zweck und Ziel der fiktiven Deportation modernisiert, d.h. gegenwartsbezogen.
Das Spiel ist unterteilt in drei Eisenbahndirektionen: Nord, Mitte und Süd. Jede von ihnen besteht aus einem Direktor, einem Fahrplanstellenleiter, einem Verpflegungsstellenleiter und einem Dienststellenleiter für Waggonausstattung. Jeder Direktion sind zwei Wirtschaftsunternehmen zugeteilt: ein Lebensmittellieferant und ein Verkaufsleiter der Firma "Karosseriebau Universal". Zwei Inspektoren, einer im Norden und einer im Süden, haben eine Kontrollfunktion am Beginn und am Ende der Deportationen. Ein Arzt, der am Zielort arbeitet, muss medizinische Berichte über den Zustand der "Umsiedler" verfassen, Statistiken auswerten und Medikamente ordern. Die Leitung des ganzen Spiels liegt beim "Bundesministerium für Wirtschaftsförderung" - Mitgliedern des pädagogischen Teams (siehe pdf-Dokument).
Die Anzahl der Spielteilnehmer sollte zwischen acht und 28 Personen betragen, jeweils realisierbar durch eine entsprechende Variierung der Rollen. Die Spielleitung sollte aus drei bis sechs Personen bestehen. Ihre Größe ist abhängig von der Anzahl der Spielteilnehmer.
Jeder Teilnehmer erhält zahlreiche Spielmaterialien: Zunächst eine Liste mit den allgemeinen Spielregeln. Sie besagen, dass die Kommunikation nur schriftlich auf vorbereiteten Formularen (siehe pdf-Dokumente) erfolgen darf und dass es verboten ist, den Arbeitsplatz zu verlassen.
Des weiteren erhalten die Teilnehmer eine Spielzeitung mit dem Namen "Der Globus". Diese Zeitung entwickelt in ihren Artikeln den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Hintergrund, vor dem die Bahnbürokratie agiert.
Drittens erhalten die Teilnehmer präzise Rollen- und Aufgabenbeschreibungen. Jede Rolle enthält spezielle Charakteristika, die für diesen Job erforderlich sind, wie z.B. Kooperationsbereitschaft, Organisationsfähigkeit, Karrierebewusstsein. Und jede dieser Beschreibungen enthält mehr oder weniger versteckte Hinweise über die Zweifelhaftigkeit dieses Jobs. So dürfen die Züge z.B. nur in der Nacht fahren, so ist es verboten, über die Transporte zu erzählen, so befinden sich die Arbeitsplätze des Arztes und des Inspektors/Süd in strahlungssicheren Bunkern.
Die wichtigsten Formulare sind der "Zuglaufzettel" und der "Verpflegungsnachweis" (siehe pdf-Dokumente). Sie repräsentieren die Transportzüge im Spiel.
Alle schriftlichen Mitteilungen werden von Postboten weitergeleitet - Mitgliedern des pädagogischen Teams, die auf diese Weise die Kontrolle über den Spielverlauf sicherstellen können.
Hauptsächlich wird dieses Spiel in der außerschulischen Bildungsarbeit eingesetzt, sinnvollerweise als Teil eines zwei- bis dreitägigen Seminars. Die für das Spiel und die Auswertung benötigte Zeit beträgt mindestens sechs Zeitstunden. Das Spiel selbst dauert ca. zweieinhalb Stunden, der im Anschluss gezeigte Film "Nacht und Nebel" 40 Minuten und die Gruppendiskussion zur Auswertung von Planspiel und Film etwa zwei bis drei Stunden.
In der ACS-Bildungsarbeit wird das Spiel, wie oben schon erwähnt, zur Initialmotivation und damit zur Vorbereitung auf den Besuch in ehemaligen Konzentrationslagern benutzt. Man kann es auch zu anderen didaktischen Zwecken einsetzen, sollte aber genügend Zeit zur Auswertung einplanen.
Meistens handelt es sich bei den Teilnehmern um junge Erwachsene zwischen 15 und 20 Jahren, es wurde aber auch schon mit älteren Studenten und mit Lehrern gespielt.
Natürlich wird den Teilnehmern der wahre Zweck des Spiels nicht mitgeteilt. Sie haben sich in der Regel zu einem Seminar über das "Dritte Reich" oder den Holocaust angemeldet und erwarten historische Informationen und nicht, dass sie selbst die zentrale Rolle spielen.
Zu Beginn des Seminars wird den Teilnehmern erzählt, dass der erste Programmpunkt in einem Spiel bestehe und dass jeder gleich die notwendigen schriftlichen Informationen erhalte. Vorab werden aber noch sehr deutlich die wichtigsten Spielregeln verkündet. Die erste: "Handle so, wie Du meinst, es verantworten zu können!", die zweite: "Handle so, wie Du meinst, dass es der Realität entspricht!" Die erste Regel spricht Selbstverantwortung und moralische Freiheit an, die zweite betont die Ernsthaftigkeit und Realitätsbezogenheit des Spiels.
Nach dieser kurzen Einleitung werden die Rollen verteilt und die Teilnehmer an ihre vorbereiteten Arbeitsplätze geführt. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass nur Spielteilnehmer in einem Raum zusammensitzen, die während des Spiels nicht direkt miteinander kommunizieren. Niemand darf die ganze Spielstruktur durchschauen, denn Anonymität und Arbeitsteilung sind zwei wichtige Elemente dieser Simulation.
Nach einer Einlesezeit von etwa 20 Minuten beginnt das Spiel mit der Eingabe der ersten Zuglaufzettel und Verpflegungsnachweise durch das "Ministerium". Die Aufgabe des pädagogischen Teams während des Spiels besteht darin, moralische und kognitive Konflikte im Bewusstseinshorizont der isolierten Spielteilnehmer zu erzeugen, um moralische Entscheidungen hervorzurufen. Allerdings muss das Team dabei berücksichtigen, dass der letzte Schritt zu einem adäquaten moralisch-politischen Verhalten den Teilnehmern vorbehalten bleiben muss. Ein wesentliches Mittel der Konfliktverschärfung liegt natürlich in der sukzessiven Verschlechterung der Deportationsbedingungen für die fiktiven "Umsiedler".
Meistens beschränkt sich der Widerstand während des Spiels auf unterschiedliche Formen individueller Arbeitsverweigerung, auf die das pädagogische Team flexibel reagieren kann. Fast nie gelingt es den Spielteilnehmern, die fiktive Deportation als ganze zu stoppen. Trotz der zu Beginn zugesprochenen moralischen Handlungsautonomie sind die situativen Bedingungen während des Spiels psychologisch so wirksam, dass sich die überwältigende Mehrheit der Spielteilnehmer problemlos anpaßt. Insofern werden auch die empirischen Ergebnisse des Milgram-Experiments weitgehend bestätigt.
Das Spiel ist beendet, wenn eine signifikante Anzahl von Zügen unter Beteiligung aller Rolleninhaber die Bahnhierarchie durchlaufen hat.
Nach einer Pause wird den Teilnehmern der Film "Nacht und Nebel" vorgeführt, der sie mit dem historischen Modell des Spiels konfrontiert. Die darauffolgende Gruppendiskussion hat bezüglich der inhaltlichen Möglichkeiten des Spiels drei Funktionen:
Wichtig für den Erfolg der Diskussion ist, dass die Teilnehmer nicht das Gefühl haben, auf der Anklagebank zu sitzen. Natürlich ist die Frage der Vergleichbarkeit zwischen dem aktuellen Verhalten im Planspiel und der historischen Situation während der Deportation in die Vernichtungslager einer der wichtigsten weitergehenden Diskussionspunkte, der ja mit dem Film aufgeworfen wurde. Auch hier muss das Team deutlich machen, dass es nicht um eine simple Abbildung der Realität geht, sondern um ein Verstehen des Verhaltens normaler Menschen, die unter bestimmten Bedingungen an verbrecherischen Handlungen teilnehmen.
Zweifelsohne handelt es sich bei der Konfrontation mit den möglichen Folgen eigenen Handelns um eine narzisstische Kränkung. Nicht alle Teilnehmer und nicht alle Gruppen können souverän und distanziert damit umgehen. Mit Abwehrreaktionen ist zu rechnen. Das pädagogische Team geht daher mit dem Einsatz des Spiels ein hohes Risiko ein und sollte sich dessen bei der Planung und dem Einsatz bewusst sein. Auch das ethische Problem einer pädagogischen Manipulation stellt sich bei diesem Spiel. Die Mitglieder des Teams benötigen auf jeden Fall ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und ein großes Repertoire an Reaktionen.
Im historischen und politischen Alltagsbewusstsein existieren in der Regel ausgesprochen naive und monokausale Erklärungsmuster: Die SS-Männer waren Sadisten, alle Deutschen waren Antisemiten, nur Hitler war verantwortlich, und er hat die Deutschen mit seiner Propaganda verführt, niemand konnte etwas von dem Massenmord an den Juden wissen, alle Widerstandskämpfer waren Helden usw. Geschichte ist in einem solchen Bewusstsein eine Abfolge singulärer Ereignisse. Vergangenheit und Gegenwart erscheinen getrennt.
Das Planspiel durchbricht diese Erklärungsmuster. Strukturen und Prozesse rücken in den Vordergrund, Vergangenheit und Gegenwart sind nicht länger voneinander getrennt, menschliches Handeln wird analysier- und interpretierbar, Verantwortung für das eigene Handeln wird zu einer fundamentalen Kategorie. Sehr oft läßt sich feststellen, dass den Teilnehmern die Relevanz ihrer Spielerfahrung bewusst ist, die häufigste Motivation nach dem Spiel besteht darin, diese Erfahrung weiterzutragen, auch andere mit dem Spiel zu konfrontieren.
Wichtig ist, die Motivation der Teilnehmer zu erhalten und damit weiterzuarbeiten. Dann ist das Planspiel eine sinnvolle Methode, Lernen zu initiieren, das beunruhigende Fragen aufwirft, die sich mit dem Holocaust in radikaler Weise gestellt haben.