Ort/ Bundesland: Berlin |
|
Dagmar Schneider-Krane Albrecht-Haushofer Oberschule Kurzebracker Weg 40/46 D-13503 Berlin Tel.: +49 (0)30 431 90 72 Fax: +49 (0)30 436 14 47
|
In der 7. Klasse zeigten sich neben einer Offenheit für politisch rechte Jugendtrends, die sich vor allem in der Faszination des Verbotenen ausdrückte, auch fremdenfeindliche Tendenzen und die Verherrlichung des NS-Systems. Die Worte „Pole“ und „Jude“ waren den Schülern als Schimpfworte geläufig. Doch schnell wurde deutlich, dass sie keine konkreten Vorstellungen mit diesen Bezeichnungen verbinden konnten. Um dieser Situation angemessen zu begegnen und die Provokationen zu reduzieren, begann ich, in Form von Projekttagen das Thema ausgehend von den Fragen der Schüler aufzugreifen und sachlich zu bearbeiten.
Während der Projekttage und insbesondere nach einem gemeinsamen Besuch in der Gedenkstätte Sachsenhausen in der 8. Klasse mit einem Zeitzeugen formulierten die Schüler wiederholt den Wunsch in die Gedenkstätte Auschwitz fahren zu wollen. Da aus meiner Sicht nur ein mehrtägiger Aufenthalt sinnvoll ist, verabredete ich Bedingungen zur Durchführung einer solchen Studienfahrt mit den Schülern, die sie nachvollziehen konnten und akzeptierten. Ich nahm mit Israel Loewenstein im Kibbuz Yad Channa in Israel Verbindung auf und erzählte ihm von der Idee und dem Schülerwunsch, gemeinsam mit einem Überlebenden nach Oświęcim/Auschwitz zu fahren. Trotz anfänglicher Bedenken erklärte er sich bereit, die Schüler zu begleiten und gab bereits im Vorfeld viele Anregungen für die Vorbereitung.
Im Rahmen des Geschichts- und Sozialkundeunterrichts sowie der Projekttage haben sich die Schüler Grundkenntnisse zur Geschichte des Nationalsozialismus und zum Verlauf des 2. Weltkrieges erworben, haben sich intensiv mit der Entstehung der Konzentrationslager und der Ausschaltung politischer Gegner im Nationalsozialismus befasst. In der 9. Klasse haben wir die Möglichkeit wahrgenommen, zur Vertiefung des Themas einen ehemaligen Zwangsarbeiter aus der Ukraine in die Schule einzuladen.
Das hier beschriebene Projekt "Unterwegs mit Israel Loewenstein" sollte diese kontinuierliche Arbeit mit den Schülern fortsetzen und inhaltlich logisch ergänzen. (1. NS-System, politische Gleichschaltung, Ausschaltung der politischen Gegner, Einrichtung der ersten Konzentrationslager, 2. Zweiter Weltkrieg, Zwangsarbeit, 3. Judenverfolgung und Schoah).
Ziel war neben der Kenntnisvermittlung vor allem die Sensibilisierung für politisches Unrecht, die Antastbarkeit der Menschenwürde, Umgang mit Minderheiten und die Hervorhebung der Bedeutung eines demokratischen Rechtssystems. Die Schülerinnen und Schüler sollen ermutigt werden, ihre eigene Rolle in der Gesellschaft wahrzunehmen. Die Geschichte von Israel (Jürgen) Loewenstein, der in einer Berliner Arbeiterfamilie groß wurde und als Jugendlicher nach Auschwitz deportiert wurde, ermöglicht Identifikation, emotionale Betroffenheit und Nachvollziehbarkeit für die Schüler.
Israel Loewenstein wurde 1925 in Berlin geboren, verbrachte im „Scheunenviertel“ in Berlin-Mitte seine Kindheit, war 1939 bis 1943 in Vorbereitungslagern der Hachschara für die Auswanderung nach Palästina, zuletzt eingesetzt zur Zwangsarbeit, und wurde er im März 1943 nach Auschwitz deportiert. Er überlebte den Todesmarsch ins KZ Mauthausen, wo er im Mai 1945 befreit wurde. Seit 1949 lebt er in einem Kibbuz in Israel. Die Schüler sollten außerdem durch die Begegnung mit einem Zeitzeugen verstehen lernen, wie stark Geschichte, persönliche und kollektive Erinnerungen heute die Lebensrealität von Israelis prägen und auch das deutsch-israelische Verhältnis beeinflussen.
In erster Linie waren die Schüler und Schülerinnen der 9. Hauptschulklasse als Zielgruppe des Projektes angesprochen. Im Rahmen der gemeinsamen Veranstaltungen - zur Begrüßung, dem Kennenlernen sowie der Verabschiedung von Israel Loewenstein in der Schule, zur Abreise nach Polen, sowie zur Ausstellungseröffnung - waren, stärker als zuvor angenommen, alle Eltern in das Projekt einbezogen. Sie zeigten großes Interesse an der Begegnung und den Gesprächen mit Israel Loewenstein und standen dem Projekt schließlich außergewöhnlich positiv gegenüber. Dies hat mit Sicherheit vor allem mit der sympathischen, offenen Art von Herrn Loewenstein und seiner Glaubwürdigkeit zu tun. Er fand schnell Kontakt zu Schülern und Eltern und war stets ein gesuchter Gesprächspartner.
Darüber hinaus konnte erfreulicherweise auch das gesamte Kollegium der Albrecht-Haushofer-Oberschule über die gemeinsamen Abende und die Ausstellungseröffnung mit in das Projekt einbezogen werden, sowie drei 10. Klassen der Schule, die ein gemeinsames Gespräch mit Israel Loewenstein führten.
Während der Tage in Berlin besuchte Herr Loewenstein auch als Zeitzeuge das Ausbildungszentrum des SOS Kinderdorfes im Berliner Stadtteil Wedding und sprach dort mit Auszubildenden aus dem Gastronomiebereich und ihren Lehrern und Erziehern.
Vor der Reise fand ein gemeinsamer Abend von Lehrern und Pädagogen verschiedener Einrichtungen statt. Thema war neben der Geschichte von Israel Loewenstein auch die Frage des pädagogischen Arbeitens und eine aktuelle politische Diskussion.
Zur Vorbereitung gehörten drei Projekttage im Juni 2004 in der Schule mit den inhaltlichen Schwerpunkten: Judentum, Judenverfolgung im Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Geschichte Polens, Polen heute. In Arbeitsgruppen bereiteten die Schülerinnen und Schüler Kurzvorträge für die Gruppe vor. Abschluss der Projekttage bildete das gemeinsame Kochen polnischer Gerichte in der Schulküche.
Am 3. Juni 2004 begrüßten alle gemeinsam Herrn Loewenstein bei seiner Ankunft in Berlin-Schönefeld und begleiteten ihn in seine Unterkunft nach Berlin-Frohnau. Am selben Abend fand ein Begrüßungsabend gemeinsam mit Eltern, Schülern, Schülerinnen und interessierten Kollegen sowie der Schulleitung statt. Israel Loewenstein stellte sich vor und erzählte von seiner Kindheit in Berlin, der Verfolgung, seiner Familie und seinem heutigen Leben in Israel.
Am darauf folgenden Freitagmorgen fand ein gemeinsamer Rundgang durch das Scheunenviertel statt, wo Israel Loewenstein seine Kindheit verbrachte. In der Almstadtstraße, früher Grenandierstaße 4a, wo er mit seinen Eltern und der Großmutter wohnte, erinnern Stolpersteine an die Familie. Die Eltern wurden nach Auschwitz, die Großmutter nach Theresienstadt deportiert und ermordet, das Haus wurde nach dem Krieg abgerissen.
Am 6. Juni 2004 kam die Gruppe nachmittags in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz an und wurde dort von den pädagogischen Mitarbeitern mit den Möglichkeiten und Angeboten der Arbeit in der Gedenkstätte vertraut gemacht. An den drei Vormittagen während des Aufenthaltes in Oświęcim arbeiteten die Schüler/Schülerinnen auf dem Gelände der Gedenkstätte als Beitrag zum Erhalt.
An den Nachmittagen fanden die Führungen durch die Teile des Lagers Auschwitz I, II und III sowie eine Stadtführung durch Oświęcim statt. An den Abenden gab es zunächst immer die Gelegenheit zum Gespräch im eigenen Gruppenraum und Zeit für die Tagebücher. Anschließend nutzten die Jugendlichen die Abende für Begegnungen mit anderen Gästen der Internationalen Jugendbegegnungsstätte IJBS aus Polen und Deutschland. Der Aufenthalt wurde am vierten Abend mit einer Gedenkfeier in Birkenau und anschließenden langen Gesprächen beim Gruppenabend beendet. Den letzten Tag der Reise verbrachten die Schüler und Schülerinnen in Krakau mit einrer Stadtbesichtigung und viel Freizeit.
Die Tage nach der Reise waren geprägt von der gemeinsamen Arbeit an der Ausstellung und den vielen Gesprächen während der Arbeit über die Eindrücke der Fahrt. Wir verabschiedeten Herrn Loewenstein auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit Schülern und Schülerinnen, Eltern, Kollegen und Kolleginnen und Schulleitung. Die Schüler hatten für diesen Anlass eine Power-Point-Präsentation vorbereitet, um auf diese Weise von den Erfahrungen der Reise zu berichten. Am darauf folgenden Tag begleiteten die Schüler und Schülerinnen Herrn Loewenstein zum Flughafen und nahmen in der Hoffnung auf ein Wiedersehen herzlichen Abschied von ihm.
Zwei Tage vor Beginn der Sommerferien wurde die Ausstellung mit einer kleinen Feier in der Schule eröffnet. Die große positive Resonanz der Besucher, darunter viele Eltern, der Jugendstadtrat und stellvertretende Bürgermeister des Bezirks, Mitschüler der anderen Klassen und das gesamte Kollegium der Albrecht-Haushofer-Oberschule, war für Schüler wie Lehrer gleichermaßen beeindruckend.
Die Schüler zeigten große Motivation auch nach Auflösung der Klasse gemeinsam weiter zu arbeiten und eine Projektwoche zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Januar 2005 vorzubereiten. Zu diesem Anlass wurde die Ausstellung erneut mit weiteren Ergebnissen der Dokumentation (CD-ROM, Begleitheft) in einem größeren Rahmen gezeigt.
Als besonders förderlich für das Gelingen des Projektes hat sich die Zusammenarbeit mit Herrn Loewenstein gezeigt. Mit seiner Bescheidenheit, Freundlichkeit und Offenheit fand er schnell Kontakt zu allen Beteiligten des Projektes. Seine Geschichte hat alle tief berührt und die Schüler/Schülerinnen zeigten Einfühlungsvermögen und Dankbarkeit in der Begegnung mit Herrn Loewenstein.
Ebenfalls positiv war die Zusammenarbeit mit den Pädagogen vor Ort. Die Führung durch die Gedenkstätte war an zwei Tagen dank der Flexibilität, pädagogischen Kompetenz und einfühlsamen Art der Betreuerin im Umgang mit den jugendlichen Hauptschüler gelungen und eine unvergleichliche Erfahrung. Die Mitarbeiter der Jungendbegegnungsstätte unterstützten uns in der Vorbereitung sowie vor Ort durch praktische Hilfestellungen. Allerdings wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen, ohne finanzielle Unterstützung Dritter. Die Mitarbeiterinnen der Stiftung EVZ waren ausgesprochen hilfsbereit und geduldig in der Zusammenarbeit. Dank der Mittel der Bob-Stiftung konnten auch die Vorhaben zur Veröffentlichung unserer Arbeit verwirklicht werden.
Zur Ausstellungseröffnung erschien in der Lokalpresse, im "Nordberliner", ein ausführlicher Artikel (siehe Dokumente). Im Rahmen der Veranstaltungen zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, am 27. Januar 2005, wurde die Ausstellung erneut gezeigt und Presse dazu eingeladen.
Insgesamt wurden die Erwartungen weit übertroffen. Die Bedenken, die zuvor von verschiedenen Seiten in Hinblick auf die Gruppe junger Hauptschüler geäußert wurden, bestätigten sich nicht. Auch die Jugendlichen mit einem rechts orientierten Hintergrund haben sich sehr ernsthaft auf die Auseinandersetzung eingelassen, nachdem sie in Herrn Loewenstein einen glaubwürdigen Zeugen der Ereignisse gefunden hatten. Gerade diese beiden Schüler haben immer interessiert nachgefragt und ihre anfänglichen Versuche, doch Ungenauigkeiten oder Übertreibungen aufzudecken, aufgegeben. Viele bestätigten nach der Reise, sie hätten ihre Meinung über Juden geändert. Für die meisten war die Begegnung mit Herrn Loewenstein das erste bewusste Zusammentreffen mit einem Juden und Israeli. Sie fragten zu Informationen, die sie in der Vorbereitung gehört hatten, wollten von ihm oft eine Bestätigung oder weitere Informationen bezüglich Judentum und Israel.
Viel diskutiert wurde auch die Frage, wie es zu solchen schrecklichen Ereignissen wie in Auschwitz kommen konnte, warum so viele Menschen mitgemacht und sich nicht gewehrt haben. Erschüttert waren die Jugendlichen besonders darüber, wie den Menschen ihre Würde genommen und sie Schritt für Schritt entrechtet wurden. Das im Geschichts- und Sozialkundeunterricht so oft bemühte Ringen um Verständnis für eine demokratische Grundordnung mit ihren klar formulierten Menschenrechten bekam hier in der Auseinandersetzung mit den Schülern eine neue Dimension.
Aus pädagogischer Sicht ist das Projekt nach Meinung aller beteiligten Erwachsenen ein Erfolg gewesen. Der Religionslehrer, der selbst zum ersten Mal die Gedenkstätte Auschwitz besuchte, war von der Ernsthaftigkeit, dem Engagement und der Nachdenklichkeit der Schüler und Schülerinnen tief berührt und froh, diese Erfahrungen zum Abschluss seiner Dienstzeit noch gemacht haben zu können.
Die Ernsthaftigkeit der Schüler und Schülerinnen zeigte sich nicht nur in den langen Gesprächen, sondern im Besonderen auch in ihrem Verhalten im Umgang mit Herrn Loewenstein, sowie auch vor Ort während der Arbeit zum Erhalt der Gedenkstätte, bei den Führungen, die ein hohes Maß an Konzentration und viel Kraft forderten, als auch während der Freizeit, wo sie in der IJBS Oświęcim/Auschwitz besonders positiv auffielen. Aufgrund der Tatsache, dass sie aus einer Hauptschule kamen, war der Gruppe ein schlechter Ruf vorausgeeilt, aber vor Ort wollten einige nicht glauben, dass die Jugendlichen Hauptschüler sind. Es gab keine Alkoholprobleme und wir konnten uns als Pädagogen immer auf die Gruppe verlassen, die zuverlässig und pünktlich zu den verabredeten Terminen kam.
Herr Loewenstein äußerte die Überzeugung, dass Projekte wie dieses sehr wichtig für Jugendliche sein können und einen großen Beitrag zur Verständigung der Menschen und Völker sowie zum Verständnis von Geschichte und Gegenwart leisten können.
Leider wurde die Klasse zu Beginn des neuen Schuljahres aus schulorganisatorischen Gründen auf zwei zehnte Hauptschulklassen aufgeteilt. Immer donnerstags trafen sich die Schülerinnen und Schüler aber noch, um gemeinsam mit zwei Lehrern an der Dokumentation zu arbeiten und eine Veranstaltung mit erneuter Ausstellungseröffnung im Januar 2005 vorzubereiten.
Auf Wunsch der Schüler wurde begonnen, sowohl einen Video-Film, als auch eine Computerpräsentation zu erarbeiten. Im Januar 2005 wurden in der Schule erste Ergebnisse der Arbeit an dem Film anderen Schülern und Eltern gezeigt. Die das Projekt begleitenden Pädagogen waren positiv vom Engagement der Schüler überrascht und freuten sich über das bestehende und wachsende Interesse an geschichtlichen und politischen Themen. Einige Schüler haben sich in den Ferien Literatur zum Thema ausgeliehen, sehen sich nun TV-Dokumentationen und Spielfilme zum Nationalsozialismus an und beteiligen sich besonders aktiv im Geschichts- und Weltkundeunterricht.
Es ist zu hoffen, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fahrt diese Offenheit, ihr Interesse und ihr Engagement bewahren können und in Zukunft selbst als aktive Bürger und Bürgerinnen aktiv antidemokratischen Tendenzen in der Gesellschaft begegnen. Erste Erfahrungen mussten einige bereits sammeln, als sie in ihren rechts orientierten Freundeskreis mit neuen Erfahrungen und Kenntnissen zurückkehrten und alte gemeinsame Parolen für sie plötzlich eine andere Bedeutung hatten.
Vielleicht macht die gemeinsame Arbeit auch Anderen Mut, sich im Rahmen von ähnlichen oder ganz anderen Projekten dem Erziehungsauftrag der Schulen zu stellen, antidemokratischen Tendenzen entgegenzuwirken. Schüler, Lehrer und Eltern, die Israel Loewenstein in Berlin oder in der Gedenkstätte Auschwitz begegnen durften, sind durch die Erfahrungen mit diesem Projekt spürbar bestärkt und ermutigt worden, diese Auseinandersetzungen zu wagen.