Das Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Unterricht oder außerschulischen Aktivitäten wird häufig als eine Form der Arbeit mit Oral History bezeichnet. Somit wird Bezug auf eine in Deutschland (junge) Richtung innerhalb der Geschichtswissenschaft genommen, die in den skandinavischem Ländern, Polen und den USA schon seit dem 19. Jahrhundert zu den üblichen Arbeitsweisen von Historiker/innen gehört. Aus der Elitenforschung kommend (USA) entwickelte sich die Oral History zu einem Instrument zur Erforschung von Alltagsgeschichte. Mittels der Befragung von „ganz normalen Menschen“ sollte die Bedeutung der Alltagsgeschichte herausgestellt und die „offizielle“, an „wichtigen“ Personen und Ereignissen orientierte Geschichte („Herrschaftsgeschichte“) demokratisiert werden.
Insbesondere für soziale Bewegungen wie die Frauenbewegung oder die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA stellte Oral History eine wichtige Form der (Wieder-)Entdeckung nichtrepräsentierter Geschichte dar. Die deutsche Geschichtswissenschaft mit ihrem bis in die 1960er Jahre hinein stark positivistischen Geschichtsbild sträubte sich lange Zeit gegen die Befragung von Zeug/innen als „subjektive“ Quellen, die sich mit dem absoluten Objektivitätsanspruchs des deutschen Historismus nicht vereinbaren ließen. Seit den 1970er Jahren gewann die Oral History jedoch langsam auch hierzulande an Popularität. Seit den 1980er Jahren boomte der Erinnerungs-Diskurs, es setzte sich die Erkenntnis durch, dass Zeitgeschichtsforschung sich zu einem wesentlichen Anteil aus den Erzählungen von Zeitzeug/innen konstituiert.
Zudem wurde deutlich, dass ein Großteil des heutigen Wissensstandes zu den nationalsozialistischen Verbrechen auf den Aussagen der Verfolgten und den mündlichen Überlieferungen oder schriftlichen Aufzeichnungen der Opfer basiert. Ohne diese Zeugnisse ließe diese Geschichte sich nur aus den Dokumenten der Täter/innen und Mitläufer/innen rekonstruieren.
In der Geschichtswissenschaft ist Oral History eine hermeneutische Methode, mit der mündliche Quellen hergestellt und dann bearbeitet bzw. interpretiert werden. Das zentrale Interesse der Oral History liegt auf der subjektiven Erfahrung einzelner Menschen und deren Verarbeitung dieser Erfahrung (Erinnerung). Untersuchungsgegenstand ist die aktive Kombination subjektiver Geschichte(n) mit kollektiver Erinnerung bzw. den gesellschaftlichen Mainstreamerzählungen.
Erzählt z.B. jemand über ein Ereignis, das mehr als 70 Jahre vergangen ist und dieses Ereignis ist seitdem öffentlich und für die erzählende Person wahrnehmbar in Zeitungen, Filmen, Büchern oder im Schulunterricht verhandelt worden, so kann davon ausgegangen werden, dass all dieses im Nachhinein angesammelte Wissen den Erinnerungsbericht beeinflussen und verändern wird. Erinnerung wird somit als subjektives und produktives Verfahren verstanden. Erlebnisse und Ereignisse werden also nicht so wiedergegeben, wie sie passiert sind, sondern wie sie von Einzelnen wahrgenommen wurden. Sie werden auch nicht so wiedergegeben, wie sie während des Geschehens wahrgenommen wurden, sondern es wird später Erlebtes/ Rezipiertes eingebaut und so neue Sinnzusammenhänge erschaffen.
Oral History beschäftigt sich also mit der Untersuchung der Verarbeitung von historischen Ereignissen oder Erlebnissen und den Veränderungen der Selbstbeschreibung von Menschen in ihrer/ der Geschichte. Die Geschichtswissenschaft verwendet dazu sog. lebensgeschichtliche Interviews, aber auch andere autobiographische Zeugnisse wie Tagebücher. Diese Quellen sollen durch die Historiker/innen so wenig wie möglich beeinflusst werden. Deshalb werden in den Interviews nur wenige Fragen gestellt, zu denen die Befragten frei assoziieren bzw. erzählen sollen. Jedwede „Formung“ der Quelle sollte durch die Historiker/innen kenntlich gemacht werden, denn sie beeinflusst die Produktion der historischen Quelle. Wie jede andere historische Quelle müssen Interviews oder Tagebücher in ihrer wissenschaftlichen Verarbeitung quellenkritisch betrachtet und interpretiert werden.
Im pädagogischen Zeitzeug/innengespräch hingegen wurden und werden die Zeitzeug/innen als personifizierte, wandelnde unverfälschte Geschichte befragt. Zwar wird einerseits festgestellt und auch festgelegt, dass es um eine subjektive (Über-)Lebensgeschichte handelt, schließlich geht es ja um das „Selbsterlebte“, das „authentisch“ bezeugt werden soll. Andererseits soll aber nicht erzählt bzw. bezeugt werden, was erinnert wird, sondern das, was damals passierte. Ziel der Gespräche ist, dass sich den zumeist jugendlichen Teilnehmenden das historische Geschehen erschließt oder sie sich diesem zumindest annähern können.
Hingegen wird die Auseinandersetzung mit den individuellen Konstruktionen und Sinngebungen (Oral History) nur sehr selten angestrebt. Denn wenn die Authentizität der Erinnerung die zentrale Begründung für die Einladung der Zeitzeug/innen ist, kann nicht die subjektive Sinngebung von Erlebtem reflektiert, sondern es muss der Realitäts- und Wahrheitsgehalt der Äußerungen der Zeitzeug/innen betont werden. Damit wiederum ist eine quellenkritische Annäherung an den Bericht der Zeitzeug/innen unwahrscheinlich. Denn das Feststellen einer Differenz zwischen dem Zeugnis und z.B. dem, was im Geschichtsunterricht gelernt wurde, stellt die Authentizität des Berichts und damit der Person in Frage – wird doch Authentizität als das Erzählen der wahren objektiven Geschichte, bei der man zugegen war – und nicht der subjektiven Verarbeitung (Erinnerung) verstanden.
Soll das Zeitzeug/innengespräch einen Beitrag zur Kompetenzentwicklung der Jugendlichen im Rahmen historisch-politischer Bildung leisten, so muss mit den o.g. Widersprüchen umgegangen werden. Zeitzeug/innen und ihre Berichte sind als kritisch zu lesende historische Quelle und nicht als historische Wahrheit zu kennzeichnen. Die Authentizitätserwartung „Jemand, der dabei gewesen ist erzählt, wie es gewesen ist“, muss problematisiert werden. Echtheit kann nicht gleichbedeutend mit objektiver Wahrheit sein, die wiederum Ziel historischer Forschung, aber niemals die Beschreibung des Ist-Zustandes sein kann.
Hier klafft eine deutliche Lücke zwischen Geschichtswissenschaft einerseits und der pädagogischen Vermittlung ihrer Forschungsergebnisse in Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen andererseits. Während erstere den „Forschungsstand“ in Bezug auf historische Ereignisse, Personen oder Epochen präsentiert und damit die Vorläufigkeit der Ergebnisse kennzeichnet, vermitteln zweitere Geschichte zu einem großen Teil immer noch als „das, was gewesen ist“ – die objektive Geschichte bzw. Geschichtsschreibung. Dies macht es Jugendlichen unmöglich, die methodische Kernkompetenz „De-Konstruktion“ zu entwickeln.
Neben der „Re-Konstruktion“ – dem Aufbau eines Bildes historischer Ereignisse, Personen oder Epochen aus den zur Verfügung stehenden Quellen – bedarf es der Fähigkeit, diese Quellen als konstruierte Geschichte kritisch zu lesen. Diese Kompetenz ist Grundlage, um sich widersprechende und sich ergänzende Quellen miteinander in ein angemessenes Verhältnis bringen zu können. Vorstellungen von „objektiver historischer Wahrheit“ sind hier hinderlich, weil Quellen und so auch Zeitzeug/innenberichte entweder nur falsch oder wahr, niemals aber disparate Perspektiven sein können, die, um ein möglichst realitätsnahes Bild der Vergangenheit zu entwickeln, durch andere Perspektiven ergänzt werden müssen.
Deshalb gilt es, die „Verwandtschaft“ zwischen in den Pädagogik eingesetzten Zeitzeug/innengesprächen und geschichtswissenschaftlicher Oral History nicht nur selbstlegitimierend zu betonen, sondern inhaltlich ernst zu nehmen. Die Zeugnisse sind wahr und authentisch als subjektiv erlebte und verarbeitete Ereignisse. Im Sinne einer quellenkritischen Annäherung sind deshalb jedoch jene Koordinaten bestimmend, die den Prozess des Erlebens und Verarbeitens beeinflusst und geprägt haben könnten.
Dies wäre unseres Erachtens ein angemessener Umgang mit den Zeugnissen derer, die als Zeug/innen und Opfer zugleich die Wahrheit verkörpern, deren Zeugnisse jedoch in ein Verhältnis zu anderen Quellen gesetzt werden (müssen).