Beim Lesen des Titels stellt sich die Frage, ob eigentlich ein Beitrag zur Kolonialgeschichte im multikulturellen Klassenzimmer oder aber zur Geschichte der Weimarer Republik im multikulturellen Klassenzimmer für die Leserschaft ähnlich interessant gewesen wäre. Ich frage weiter, ob es denn bei der Kolonialgeschichte oder bei der Weimarer Republik keine Vermittlungsprobleme im multikulturellen Klassenzimmer gibt.
Sicherlich auch, aber bei der Geschichte des Holocaust wird ein besonderer Nerv getroffen, da der Unfassbarkeit des Grauens verbunden mit der Frage von Schuld, Verantwortung und Aufarbeitung im deutschen Erinnerungsdiskurs eine zentrale Bedeutung zukommt. Gerade Geschichtslehrerinnen und -lehrer nehmen diese Bedeutung ernst. Daher sind Einschätzungen wie "Das ist ein unumgänglicher, kanonischer Inhalt, mit dem sich jeder intensiv auseinander setzen muss" zu erwarten.
Zu der adäquaten Art der Auseinandersetzung ist damit noch nichts gesagt und gerade darum soll es hier gehen. In durch Migrationsprozesse heterogen zusammengesetzten Schulklassen, deren Schülerinnen und Schüler sich im Abstand von ca. 70 Jahren, d.h. ohne direkten familiären Bezugspunkte und ohne Vermittlung von Zeitzeugen mit der Geschichte des Holocaust auseinandersetzen sollen, scheint die Vermittlungsfrage aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen drängend geworden zu sein.
Zunächst einmal fällt der zeitliche Abstand zu den Ereignissen auf, so dass die Schülerinnen und Schüler inzwischen schon die 4. Nachkriegsgeneration darstellen. Ein persönlicher, auch familiärer Kontakt mit Zeitzeugen wird bald ganz unmöglich sein. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust als Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte - wie dies noch für viele Lehrerinnen und Lehrer der Fall war - rückt in den Hintergrund.
Was aber bleibt ist die Verantwortung für die Erinnerung an den Holocaust, also für den lebendigen Diskurs, für die Gestaltung der geschichtskulturellen Gedenkmöglichkeiten und für die Teilhabe an Ausstellungen, Aktionen wie die "Stolpersteine" oder das Wachhalten von individuellen Erinnerungen durch die Auseinandersetzung mit Biographien und videographierten Interviews.
Diese Verantwortung für die Erinnerung haben alle Schülerinnen und Schüler - unabhängig davon, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Denn sie leben alle in der Bundesrepublik: Sie sollen an deren Geschichtskultur teilhaben können, indem sie ihre Perspektive und ihre Bedürfnisse bezüglich der Erinnerung einbringen können.
Gerade letzterer Gedanke verweist auf die z.T. noch strittige Frage, nämlich wie diese Teilhabe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der bundesrepublikanischen Geschichtskultur aussehen kann. Der Begriff "bundesrepublikanische Geschichtskultur" verweist auf den nationalen Rahmen, in dem die Auseinandersetzung mit dem Holocaust häufig gesehen wird. Dieser kann - auch unbewusst von Seiten der Lehrkräfte - bewirken, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund ausgeschlossen werden, weil ihre Zugangsweise oder die Art ihrer Auseinandersetzung nicht den offiziellen Vorstellungen von Aufarbeitung entspricht oder aber deren Identifikation mit dem Erbe des Unrechtsregimes als zu gering erscheint.
Hier sollten sich Lehrkräfte selbstkritisch fragen, ob sie ihre Schüler mit Migrationshintergrund danach einschätzen, dass sie sich angemessen auseinandersetzen, indem sie selbst sozusagen die Form der Angemessenheit als "Entrebillet" für die deutsche Gesellschaft setzen. Vielmehr sollte es doch darum gehen im Sinne einer heterogenitätssensiblen Bildungsarbeit den historischen Gegenstand - die Geschichte des Holocaust - in den Mittelpunkt zu rücken und alle Schülerinnen und Schüler danach zu fragen, was ihr Interesse daran ist.
Das bedeutet offen zu sein auch für neue Perspektiven und Fragestellungen, um Teilhabe an der verantwortungsbewussten Aushandlung der Erinnerung an die Geschichte des Holocaust zu ermöglichen. So ergeben sich Schritte in eine Erinnerungspraxis, die Heterogenität aufgreift und den Anspruch auf gesellschaftlicher Teilhabe ernst nimmt, so dass eine Offenheit für die Weiterentwicklung des derzeitigen bundesrepublikanischen Diskurses unter den Bedingungen einer Einwanderungsgesellschaft geschaffen wird.
Dieser hier vertretene Ansatz setzt auf die produktive Dynamik einer Diskussion, die keine Mitglieder der Gesellschaft ausgrenzt. Er setzt auf neue Erfahrungen und Perspektiven, die durch Migrations- und Minderheitenerfahrungen eingebracht werden und wehrt sich gegen das Konstatieren herkunftsbezogener Geschichtsidentitäten, die sich nur durch Assimilation in den nationalen Erinnerungsdiskurs einbringen können.
Didaktisch-methodische Ansätze zur Vermittlung dieses Konzeptes gibt es bereits auf mehreren Ebenen. Das Anne-Frank-Haus setzt auf die biographische Methode und hat Unterrichtsvorschläge vorgelegt, wie anhand von sehr unterschiedlichen Migrantenbiographien Vorurteile, Minderheitserfahrungen, Handlungsmöglichkeiten des Individuums im historischen Kontext vermittelt werden können.
Das Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin spricht die Lerngruppen direkt auf ihre Heterogenität an und bietet den geäußerten Bedürfnissen entsprechendes Material an, um alle Jugendliche in den Erinnerungsdiskurs zu involvieren und die bundesrepublikanische Diskussion dadurch zu öffnen.
Matthias Heyl (Leiter der Pädagogischen Dienste der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück) hat ein Konzept der "conflicting memories" vorgelegt, das die Opfer-Täter-Dichotomie aufbricht und die Grauzonen, das Ungefähre mit anspricht, indem die Zuschauer, Kollaborateure, Profiteure, Helfer auch mit in den Blick kommen. Damit wird das Feld der Handlungsoptionen geweitet, was gerade in heterogenen Lerngruppen ein Mehr an Denkmöglichkeiten und Perspektiven ermöglicht.