Oral-History-Zeugnisse, wie zum Beispiel das am Denkmal für die ermordeten Juden Europas angesiedelte Videoarchiv "Leben mit der Erinnerung. Überlebende des Holocaust erzählen", sehen sich einer Spannung ausgesetzt, die im Wesentlichen mit der zugrunde liegenden Quelle zu tun hat. Es handelt sich dabei um die Vermittlung und zuweilen auch Konfrontation des subjektiven Relevanzsystems der Überlebenden mit den ereignisgeschichtlichen Abläufen und Fakten der Judenvernichtung.
Dieser spannungs- und facettenreiche Grundzug der Oral-History-Quellen wird von uns in heuristischer und museumspädagogischer Hinsicht jedoch nicht als Problem, sondern als Herausforderung begriffen, da in ihm zuallererst die originäre Aussagekraft der Zeugnisse zu Tage tritt. Dabei gilt es zu bedenken, dass die vor einer pädagogischen Nutzung nötige Erschließung des Quellenmaterials zweierlei Verlockungen widerstehen muss:
Einerseits darf sie nicht die Zeugnisse der Überlebenden in eine historiografisch abgesicherte, verabsolutierende und isolierte Schematisierung überführen. Der Zeuge wäre dann nurmehr Repräsentant des großen geschichtlichen Gesamtablaufs, sein jeweils singuläres Überleben und sein Verfolgungsschicksal wären reduziert auf eine Beispielhaftigkeit im Vernichtungsprozess und dienten zur Bebilderung ereignisgeschichtlicher Konstellationen.
Hinzu tritt die ästhetische wie inhaltliche Diskrepanz zum Ausgangsmaterial. Denn den Zeugnissen mit dem reduzierten Blick auf historiografische Einordnung zu begegnen, hieße, ihr Genre, ihre Absicht, ihren Inhalt und ihre Aussage grundlegend zu verkennen: Den Überlebenden geht es in ihren Interviewdarlegungen darum, von ihrer singulären Verfolgungsgeschichte, ihren Erlebnissen, von der Verfolgung und Ermordung ihrer Familie, Freunde und Bekannten und nicht zuletzt von einer unwiederbringlich zerstörten Kultur und Lebensweise Zeugnis abzulegen.Dieser Zeugnischarakter umfasst das Gedenken an das eigene wie kollektive Leid, die Stellvertretung jener Ermordeten, die ihr Schicksal nicht mehr zu bezeugen vermögen, und die appellative Übertragung der erlittenen Verfolgung und Gewalt an ein Archiv.
Andererseits darf die Erschließung nicht als eine emotionale und affektive Einfühlung mit den Überlebenden verstanden werden. Eine Reduktion auf diese Dimension läuft unweigerlich Gefahr, den Interviews den Charakter ahistorischer und statischer Unantastbarkeit zuzuweisen und damit das historische Ereignis und das gegenwärtige Zeugnis in eins zu setzen. Es ist vielmehr nötig, durch behutsame und begleitende, niemals jedoch das Zeugnis überlagernde Kontextualisierungen einen Bezug von der subjektiven Dimension zum historischen Geschehen zu gewährleisten. Erst dann wird die eigentliche Kraft des Zeugnisses erfahrbar, erst dann wird deutlich, welchen Stellenwert die Erfahrung und das Handeln des Einzelnen in der historischen Situation hatten.
Diesen beiden Gefahren darstellungsstrategischer Ahnungslosigkeit begegnet unser Projekt durch ein mehrstufiges Decodierungsverfahren, indem es die Zeugnisse als Erzählungen einer radikal singulären Erfahrung aufschlüsselt. Das bedeutet, sie werden im gleichen Moment als geheime und unzugängliche gleichwohl jedoch vermittelbare, weil in der Realität gemachte Erfahrung anerkannt. Werden Oral-History-Quellen zu Nationalsozialismus und Holocaust in dieser beschriebenen Spannung ernst genommen, dann sind sie allein schon aufgrund der Personalisierung von komplexen historischen Prozessen hervorragend geeignet für den Einsatz in der Jugendbildung. Der Verdacht liegt nahe, dass die nicht enden wollenden Seufzer über die schwierige Quelle »Interviews« mit anderen Dingen zusammenhängen als der viel beschworenen und gleichwohl nicht möglichen Unterscheidung von persönlicher Erinnerung und Faktenwissen.
Diese Unterscheidung hat ihre merkwürdige Analogie in einem Ungleichgewicht im pädagogischen Einsatz und der Bewertung von Opfer- und Täterquellen. Dabei müssen doch nicht nur Interviews und andere persönliche Dokumente in individuelle und gesellschaftliche Kontexte eingebunden und quellenkritisch gedeutet werden, dasselbe trifft auch für so genannte Täterquellen zu. Jeder, der pädagogisch mit Prozessaussagen von Tätern gearbeitet hat, weiß, wie schwer Jugendliche sich tun, quellenkritisch mit Selbstdarstellung und Entlastungsstrategien der Angeklagten umzugehen und wie unabdingbar eine Einbettung solcher Aussagen in den biographischen, historischen und sogar gesellschaftlichen Kontext ist.
Doch ob es sich um Berichte mit »Heil Hitler«-Stempeln oder vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos (und selbst noch Prozessaussagen) handelt, jene Quellen stehen häufig, weil sie auf Papier vorliegen und wegen einer ihnen zugewiesenen authentischen Aura, ganz oben als Medien von Geschichtsvermittlung. Die mündlich vorliegenden Erzählungen und Berichte der Verfolgten zeugen in umfassender Weise davon, dass sie sich nicht als zweidimensionales Opferbild zum Abheften in den Ordner »Unterrichtseinheiten zum Thema NS und Holocaust« eignen, sondern dass die Zeugen vielmehr immer auch Akteure und Reflektierende waren (und noch im Interview sind!) und entsprechend in heutiges Lernen einbezogen werden sollten.
Das heißt, diese Oral-History-Quellen enthalten ohne Frage eine Fülle von historischem Wissen, der gesamte Prozess der Verfolgung und Vernichtung wird detailgenau vergegenwärtigt. Erst in einem zweiten Schritt gilt es, sich bewusst zu machen, das das biographische Erzählen natürlich auch einen persönlichen Sinn verfolgt und/oder dass bestimmte Daten, Ereignisse evtl. nicht übereinstimmen mit offiziellen Daten, sondern vielmehr ihren logischen Sinn in der biographischen Konstruktion der Erzählung haben.
Dass die oft Stunden dauernden Interviews in der Regel im Rahmen der Jugendbildung nicht in Gänze angehört/gesehen werden können, ist offenbar. Wie bei allen lebensgeschichtlichen Äußerungen bleibt der Umstand, dass in einer zeitlich begrenzten Beschäftigung damit nicht das gesamte Leben vorgestellt und verstanden werden kann. Es ist ohne weiteres möglich, eine Interviewsequenz auszuwählen und damit pädagogisch und historisch sinnvoll zu arbeiten. Das mindert den Wert des Zeugnisses als Quelle nicht. Und das Zeugnis ist auch nicht heilig im Sinne von unantastbar.
Die entscheidende Frage ist, wie es gelingt, dem Zitat und damit auch der Person, aus deren Mund es kommt, ein solches Schicksal zu ersparen, wie es in den Dokumentationen unter Leitung des Historikers Guido Knopp salonfähig wurde. Was heißt es, den Grundcharakter dieser Oral-History-Quellen ernst zu nehmen? Ein Beispiel: Oft wird erzählt von der Reichspogromnacht im November 1938. Die Person, die erzählt, war Augenzeuge und Betroffene, sie steht aber nicht als Teil für das Ganze und erst Recht hat sie das Ereignis nicht produziert. Anders gesagt: Das Zeugnis ist nicht dasselbe wie das Ereignis, und der Zeuge ist nicht identisch mit dem Zeugnis. Das historische Foto einer brennenden Synagoge und zwei Zitatenschnipsel von Augenzeugen, die das historische Ereignis illustrieren, machen noch kein Zeugnis. Das Zeugnis ist weit mehr als Illustrationsobjekt geschichtlicher Ereignisse. Denn letztlich findet auch im Hören und/oder Sehen des Interviews ein komplexer Kommunikationsprozess statt. Gemeinsam wird an einer Vergegenwärtigung von Erfahrungen im Holocaust gearbeitet: Etwas in der Vergangenheit Erfahrenes wird in die Gegenwart geholt, und zwar über Sprache und mit allen Sinnen. Das Zeugnis entsteht im Moment des Sprechens und es bedarf einer Gemeinschaft. Ohne Erinnernden kein Zeugnis, ohne Zuhörer kein Zeugnis.
Die pädagogische Praxis in unserem Kontext legt nahe, dass Jugendliche bereit sind, von den Interviewten zu lernen. Voraussetzung ist allerdings eine sorgfältige Aufbereitung der Interviews, damit sich Jugendliche leichter in ihnen orientieren können. Und Voraussetzung ist auch, dass sie im Prozess der Vergegenwärtigung und Begegnung als Subjekte ernst genommen werden und als solche aktiv in Erscheinung treten dürfen.
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