Seit dem Erscheinen der Lebenserinnerungen "Verwehte Spuren" (1995) des Breslauer Historikers Willy Cohn (1888-1941) gilt er als der wichtigste Chronist seiner Generation für das jüdische Breslau. Dass auch seine Tagebücher, die an seine Erinnerungen anschließen, erhalten geblieben sind, macht diese Buchedition zu einem der wichtigsten Zeugnisse der NS-Zeit. Damit liegt erstmals ein umfassender Augenzeugenbericht nicht nur über das Schicksal eines deutschen Juden und seiner Familie vor, sondern über den Untergang der drittgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands.
Willy Cohn war durch seinen Beruf als Historiker und Studienrat am Breslauer Johannes- Gymnasium für die Fächer Deutsch, Geschichte und Philosophie, als wissenschaftlicher Publizist aber auch durch seine politischen Ämter als Sozialdemokrat weit über Breslau hinaus bekannt. Er stand in Verbindung mit Leo Baeck und mit dem bekannten katholischen Kirchenhistoriker Hubert Jedin.
1933 im Alter von 44 Jahren aufgrund des NS-Berufsbeamtengesetzes aus „politischen Gründen“ aus dem Schuldienst entlassen, erlebte er Tag für Tag die zunehmende Entrechtung, Erniedrigung und den Exodus der Breslauer Juden, den Terror der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 und die Verzweiflung der verbliebenen Juden, denen die Flucht nicht mehr möglich war, wie auch ihm und seiner Familie.
Seine Beobachtungen geben ebenso Einblick in die Haltung der übrigen nichtjüdische Bevölkerung in dieser Zeit. Trotz der zunehmenden Bedrückungen arbeitete Cohn weiter wissenschaftlich, u.a. am Handbuch der Germania Judaica. In seiner Dissertation und seinen historischen Hauptwerken behandelte die Geschichte der Hohenstaufen in Sizilien, die auch ins Italienische übersetzt wurden, wodurch ihm die Ehrung eines korrespondierenden Mitglieds der Gesellschaft für Geschichte Siziliens in Catania zuteil wurde.
Der Erlebnisbericht Willy Cohns unterscheidet sich von den Notizen und Kommentaren in den bekannten Tagebüchern Victor Klemperers über die Verfolgungszeit in Dresden dadurch, dass Cohn absichtslos, nur für sich, vielleicht noch für seine Kinder schrieb, und damit unverstellt und ohne den Hintergedanken einer späteren Veröffentlichung. Das, so meinen Kommentatoren, macht sie als Zeitzeugnis so besonders, unmittelbar und bewegend.
Willy Cohn war gläubiger Jude und Zionist, aktives Mitglied seiner Gemeinde, besuchte regelmäßig die Synagoge und vermittelt zugleich einen bewegenden Einblick in gelebtes Judentum. Er liebte Breslau, seine schlesischen Heimat, Deutschland von ganzem Herzen und deutsche Kultur bedeutet ihm alles.
Cohn schildert, wie eine so bedeutende und von bekannten Persönlichkeiten geprägte jüdische Gemeinde wie die Breslaus in kurzer Zeit aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt, vertrieben, aufgelöst und die noch Verbliebenen vernichtet wurden. Cohn durchstreifte auf Vortragsreisen regelmäßig die kleinen und großen jüdischen Gemeinden nicht nur Schlesiens, sondern auch Süd- und Mitteldeutschlands wie auch Berlin. „Er kannte in Deutschland Gott und die Welt“, schrieb der jüdische Historiker Walter Laqueur über ihn.
Willy Cohns Tagebuchnotizen brechen am 17. November 1941 mitten im Satz auf der letzten Seite des Heftes ab. Da er ahnte, dass die „Verschickung“ jetzt unausweichlich bevorstand, hatte er bereits wenige Wochen zuvor Vorsorge getroffen, dass seine Tagebücher und Lebenserinnerungen an einen sicheren Ort kamen. Somit ließ sich wenigstens sein letzter Wunsch erfüllen, der Nachwelt berichten zu können, was jüdische Menschen im nationalsozialistischen Deutschland zu erleiden hatten.
Willy Cohn, seine Ehefrau und seine beiden Töchter, neun und drei Jahre alt, wurden am 21. November 1941 mit dem ersten Transport von 1000 Breslauer Juden ins litauische Kaunas deportiert. Direkt nach der Ankunft am 27. November wurden sie zusammen mit einer weiteren Gruppen von 1000 Deportierten aus Wien im außerhalb der Stadt gelegen Fort IX von SS-Leuten und litauischen Kollaborateuren unter dem Kommando des berüchtigten SS-Standartenführers Dr. Karl Jäger mit Maschinengewehrsalven ermordet und in den bereits vorbereiteten Massengruben verscharrt. Über diese Mordaktion verfasste Jäger einen seiner berüchtigten Einsatzgruppenberichte mit der Bilanz, dass an diesem Tag 1.155 Frauen, 693 Männer und 152 Kinder, alles jüdische „Umsiedler“, erschossen wurden.
Der selbst aus Breslau stammende Historiker Norbert Conrads, bis 2003 ordentlicher Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Stuttgart, hat die handschriftlichen Tagebuchaufzeichnungen Willy Cohns nicht nur sorgfältig und sachkundig transkribiert, eingeleitet, kommentiert und mit einem Index versehen. Die für die einbändige Ausgabe getroffene Auswahl von Tagebuchnotizen, ist thematisch in einzelne Kapitel gegliedert.
Somit eignet sich diese Ausgabe besondere gut für die Verwendung im Geschichtsunterricht und in der politischen Bildung. Conrads hat mit der Edition dieser einzigartigen historischen Quelle eines der emotional bewegendsten und zugleich informativsten Zeugnisse eines verfolgten und ermordeten deutschen jüdischen Menschen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Journalistin Petra Lidschreiber hat 2008 eine 45-minütige Fernseh-Dokumentation „Ein Jude, der Deutschland liebte. Das Tagebuch des Willy Cohn” über dieses Tagebuch und mit den Erinnerungen der überlebenden Kinder Willy Cohns für die ARD realisiert.