Mehr als 12.000 jüdische Kinder und Jugendliche konnten zwischen 1933 und 1941 durch jüdische Hilfsorganisationen aus dem nationalsozialistischen Deutschland ins europäische Ausland, nach Übersee und Palästina gebracht werden. Die zunehmend bedrückender und bedrohlicher werdenden Bedingungen für jüdisches Leben in Deutschland veranlassten viele jüdische Familien, zunächst ihre Kinder allein außer Landes zu schicken, in der Hoffnung, ihnen bald nachfolgen zu können. Briefe blieben der einzige Kontakt der Kinder zu den Eltern und Familienangehörigen, die zurückbleiben mussten, weil ihre Auswanderung durch bürokratische und finanzielle Bedingungen behindert wurde.
"Aus Kindern wurden Briefe" - diese Überschrift eines von vielen Artikeln in jüdischen Zeitungen nach 1933, die sich mit der Auswanderung jüdischer Kinder befassten, wurde damals zu einer gängigen Redewendung. "Aus Kindern wurden Briefe" wurde auch als Titel des 350 Seiten umfassenden, sorgfältig edierten Begleitbandes zur gleichnamigen Ausstellung gewählt, die bis Ende Januar in Berlin im Centrum Judaicum zu sehen war.
Nicht nur für diejenigen, die keine Gelegenheit hatten, die eindrucksvoll präsentierte Ausstellung in Berlin zu besuchen, ist der vorliegende Begleitband eine emotional sehr berührende und unerlässliche Quelle zur deutsch-jüdischen Geschichte. Das Thema ist besonders für die Behandlung im Schulunterricht zu empfehlen.
Den Herausgebern war es wichtig, die Geschichte aus der Perspektive der Kinder dazustellen. Die Überlebenden haben kostbare persönliche Dokumente, Fotos, Briefe und Tagebücher zur Verfügung gestellten und geben damit Einblick in ihre Gefühle und Erfahrungen, wie sie allein auf sich gestellt in der Fremde zurecht kommen mussten. Dafür ist den Zeitzeugen besonders zu danken.
Anhand der Lebensgeschichten der Retter, bisher unveröffentlichter Dokumente und Interviews erhält man Einblick in die Formen, Schwierigkeiten und Grenzen jüdischer Selbstbehauptung und in die Problematik persönlicher Entscheidungen unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Verfolgung. Da die Kindertransporte nach Großbritannien nach dem Novemberpogrom 1938 in den vergangenen Jahren schon wiederholt bearbeitet wurden, konzentrierten sich die Autoren der Ausstellung und des Buches auf die Dokumentation der Ausreise von Kindern und Jugendlichen nach Palästina und in die USA, jene zwei Fluchtwege, auf die nach 1933 die Arbeit der deutsch-jüdischen Hilfsorganisationen ausgerichtet war.
In den Jahren 1934 bis 1938 gelang es 377 Kinder nach Nordamerika und bis März 1938 im Rahmen der Jugend - Alija 2000 Kinder und Jugendliche nach Palästina zu bringen. Die Rolle der jüdischen Hilfsorganisationen in Deutschland sowie die Arbeitsweisen der Hauptakteure dieser Rettungsaktion waren bislang wenig beachtete Forschungsthemen. Es ist daher besonders verdienstvoll, dass mit diesem Buch das Wissen darüber vertieft wird. Es waren vor allem Frauen, die die Kinderauswanderung organisierten.
Zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, spielten eine entscheidende Rolle bei der Hilfsaktion: Recha Freier (1892-1984), Rabbinerfrau und Begründerin der Jugend-Alija, und der ehemals preußischen Beamtin Käte Rosenheim (1892-1979), Leiterin der Abteilung Kinderauswanderung in der Reichsvertretung der deutschen Juden. Recha Freiers Bericht über die Anfänge Jugend-Alija , 1953 in hebräischer und 1961 in englischer Sprache erschienen, wird als wichtigste Quelle zu der Thematik erstmals in dem Band in deutscher Übersetzung veröffentlicht.
Ein bisher unveröffentlichtes Interview aus dem Jahr 1967 mit Käte Rosenheim veranschaulicht die erheblichen Schwierigkeiten, die mit der Aus- und Einreise der Kinder und deren Unterbringung in den Zielländern verbunden waren. Insbesondere war der bürokratische Aufwand, um nur ein Kind in den USA unterzubringen, auf Grund der restriktiven Einwanderungspolitik sehr groß. Nach dem Verbot der Auswanderung für Juden aus Deutschland im Oktober 1941 konnten Tausende jüdische Kinder und Jugendliche das Land nicht mehr verlassen und wurden Opfer der Vernichtung. In vielen Fällen bedeutete aber auch die Auswanderung der Kinder ins europäische Ausland auf dem Kontinent keine Rettung auf Dauer.
Im Zuge der nationalsozialistischen Eroberungs- und Besatzungspolitik gerieten diese Kinder und Jugendlichen in vielen Fällen wenig später erneut in den Machtbereich der Nationalsozialisten und wurden deportiert und ermordet. Die Briefe der Kinder an die Eltern existieren nicht mehr, weil die meisten Empfänger- die Eltern- deportiert und ermordet wurden. Wenn einzelne Brief von Kindern erhalten blieben, dann weil sie nach der Deportation der Eltern als "unzustellbar" wieder an die Absender zurückgeschickt wurden.
Die Briefe der Eltern mit Fotos sind meist die einzigen Zeugnisse, die den Überlebenden von ihren Eltern geblieben sind. Besonders diese sehr persönlichen Dokumente und die Biographien der ausgewanderten Kinder lassen erahnen, welche Traumata und schmerzlichen Erinnerungen die Geretteten ihr Leben seither begleiten. (Die Ausstellung und der Begleitband wurden gefördert im Rahmen des Aktionsprogramms "Jugend für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, durch Mittel des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums des Inneren.)