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Gegen mein Gewissen – Eine grafische Auseinandersetzung mit der Wehrdienstverweigerung

Einsatz von Comics, Erinnerungskulturen/Geschichtskultur, BRD
Sabrina Pfefferle ist freie Autorin und Psychotherapeutin in Ausbildung. 

Sabrina Pfefferle 

Die aktuelle Debatte um eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht steht im Zeichen einer kollektiven gesellschaftlichen Neuausrichtung. Ein Blick zurück ist dabei aufschlussreich: Was bedeutete die Wehrpflicht für die Generationen vor ihrer Aussetzung im Jahr 2011? Welche Folgen hatte sie auf das Leben Einzelner?

Hannah Brinkmann erzählt in ihrem Comic Gegen mein Gewissen eindringlich und persönlich von den Konsequenzen, die eine kollektive Entscheidung für das Individuum haben kann. Sie zeichnet das Schicksal ihres Onkels Hermann nach, der mit den Auswirkungen des verpflichtenden Dienstes an der Waffe und den hohen Hürden einer Verweigerung aus Gewissensgründen konfrontiert war.

Cover des Comics Gegen mein Gewissen von Hannah Brinkmann © Hannah Brinkmann/avant-verlag

Um der großen Zahl an Wehrdienstverweigerern in der Bundesrepublik zu begegnen, wurde der im Grundgesetz verankerte Artikel 4, Absatz 3 – „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“ – zwischen 1956 und 1984 durch ein aufwendiges Prüfverfahren ergänzt. Die „Gültigkeit“ der Gewissensgründe wurde dabei durch eine schriftliche Begründung sowie durch eine mündliche Anhörung vor einem Ausschuss, der der Bundeswehr unterstand, überprüft. Der Antrag von Hermann Brinkmann auf Kriegsdienstverweigerung wurde abgelehnt. Während seiner Grundausbildung nahm er sich das Leben.

 

Ausschnitt aus dem Comic Gegen mein Gewissen, S. 4−5: „Lindern 1956“ © Hannah Brinkmann/avant-verlag

Die Erzählung beginnt 1956 in einer Küche in Lindern: Eine Frau mit dunklem Haar und weißer Schürze backt, im Hintergrund läuft eine Sendung des deutschen Hörfunks vom 30. Juli 1956. Der Moderator spricht über die „inzwischen unvermeidliche Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik“ (S. 5). Diese Unmittelbarkeit zieht sich durch das ganze Werk: Der*die Leser*in ist unmittelbar in das Geschehen hineingeworfen und folgt einer nicht-linearen Erzählweise, die zwischen den Jahren 1956, 1962, den 1970ern, 1995 und der Gegenwart springt. Es ist an der Leserschaft, diese zeitlichen Sprünge zu entschlüsseln – eine lohnende Herausforderung, denn entlang dieser Zeitsprünge entfaltet die Autorin gleich drei miteinander verwobene Erzählstränge: Die juristisch-politische Entwicklung des entsprechenden Grundgesetzartikels, die biografisch-psychologische Lebensgeschichte ihres Onkels Hermann sowie die Geschichte des innerfamiliären Umgangs mit dessen Suizid – und der Frage nach der staatlichen Mitverantwortung.

Der Protagonist: Hermann Brinkmann

Ausgangspunkt aller Erzählstränge ist dabei die Figur Hermann Brinkmann. In Anekdoten erfahren wir Einzelheiten seines Charakters, seiner Kindheit und Jugend: wie er unter Albträumen von dem Wildschweinkopf leidet, der an der Wohnzimmerwand hängt; wie er lieber Schmetterlinge präpariert, als mit zur Jagd zu gehen; wie er die Munition seines Vaters heimlich im Garten vergräbt. Die Autorin nähert sich Hermanns Innenleben durch symbolische Verdichtungen und nutzt Metaphern, um die emotionale Dringlichkeit innerer Konflikte sichtbar zu machen. So wird der äußere Zwang zum Dienst an der Waffe als das Gefühl eigener Gefangenschaft inszeniert – dargestellt durch starre, unbewegliche Libellen und Schmetterlinge, die Hermann mühevoll in einem Plexiglaskasten konserviert. Brinkmann gelingt es, Hermann zugleich als reale wie auch als erzählerisch konstruierte Figur zu zeigen – eine große Stärke des Comics, denn dadurch öffnet sich der Blick für andere (Lebens-)Geschichten, die in vergleichbaren gesellschaftspolitischen Zwängen verortet sind. Zugleich macht die anekdotische Erzählweise deutlich, dass Wissen über eine Person immer ein Prozess der Annäherung ist. Die Biografie erscheint hier nicht als objektive Abbildung, sondern als subjektive Konstruktion.

Politische Kultur der BRD in den 1970er Jahren

Die einfühlsame und kreative Darstellung des Protagonisten erfüllt eine zentrale Funktion: Anekdoten und Metaphern fungieren nicht nur als narrative Mittel, sondern auch als Belege für die Gültigkeit von Hermanns Gewissensmotiven. Sie veranschaulichen, was der Wehrausschuss nicht zu erfassen vermochte – das innere Erleben eines jungen Mannes, dessen ethische Überzeugungen mit dem staatlich verordneten Pflichtdienst kollidierten.

Die Kritik am Prüfverfahren wird dabei in eine detaillierte Skizze der politischen Kultur der Zeit eingebettet. Die Macht autoritärer Systeme zeigt sich nicht nur im staatlichen Handeln, sondern auch im familiären Gefüge – etwa durch die Figur des disziplinierenden Vaters, starre Geschlechterrollen sowie im Selbstverständnis von Kirche und Schule. In dieses autoritäre Gefüge ist auch das Prüfverfahren einzuordnen: Die Anhörung gleicht einem „Inquisitionsverfahren“ (S. 103), das Urteil erscheint weniger als objektive Entscheidung, denn als ideologische Bestrafung. Die Autorin entwirft so ein Panorama der politischen Kultur der Bundesrepublik der 1960er und -70er Jahre – einschließlich der gesellschaftlichen Gegenbewegungen, die sich gegen die Verhärtung und Veränderungsresistenz staatlicher Institutionen stellten.

  

Ausschnitt aus dem Comic Gegen mein Gewissen, S. 60–61: „Disziplinierender Vater“ © Hannah Brinkmann/avant-verlag

Besonders wertvoll ist die historisch präzise Darstellung alltäglicher kultureller Objekte: Songtexte von Franz Josef Degenhardt, eine Schallplatte von David Bowie, das Debütalbum von Roxy Music, Camus‘ Der Fall oder das Filmplakat von 2001: A Space Odyssey erscheinen beiläufig im Hintergrund der Szenen. Diese sorgfältig gesetzten Referenzen schaffen eine differenzierte kulturelle Kulisse, die hilft, die vorherrschenden intergenerationellen Spannungen einzuordnen und die Atmosphäre der Zeit erfahrbar zu machen.

Fantasie und Quellen

Hannah Brinkmann arbeitet mit einer vielfältigen Bildsprache: Neben Metaphern setzt sie zugespitzte, karikaturhafte Symbole ein und verdichtet damit Argumente und Emotionen. So wird etwa die staatliche Gewissensprüfung als experimentelles Laborverfahren inszeniert – mit Blick in ein offengelegtes organisches Gehirn. Collagenartige Kompositionen fantastischer Bilder bringen emotionale Kerne zum Vorschein, etwa Hermanns Sprachlosigkeit und Ohnmacht vor dem Ausschuss. Diese Gefühle werden visualisiert als ein Ertrinken in der schwarz-blauen Dunkelheit des Meeres, in dem sich Meerestiere ebenso befinden wie Erinnerungen an Waffen und Soldaten.

Ein wiederkehrendes Motiv in diesem Kontext sind Organe. Sie symbolisieren die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen innerem Erleben und äußerer Wahrnehmbarkeit. Genau vor dieser Problematik steht der Protagonist vor dem Ausschuss: Wie lässt sich das eigene Gewissen – ein innerer, subjektiver Zustand – gegenüber einem System vermitteln, das etwas anderes sah und sehen wollte? 

  

Ausschnitt aus dem Comic Gegen mein Gewissen, S. 124−125: „Hermanns Innenleben vor dem Militärausschuss“ © Hannah Brinkmann/avant-verlag 

Zudem integriert die Autorin verschiedene Dokument- und Bildarten in den Comic – Spuren ihrer Recherche. Zu sehen sind gezeichnete Familienfotos, Hermanns Antrag auf Kriegsdienstverweigerung, sein Truppenausweis, amtliche Schreiben, die Todesanzeige sowie Zeitungsausschnitte. Inwiefern die Zeichnungen reale Quellen abbilden, bleibt unklar.  Gerade dadurch wird auch auf grafischer Ebene die Gratwanderung zwischen Biografie und Fiktion deutlich.

Fazit

Der Comic vereint mehrere Perspektiven: einen persönlichen und eindringlichen Blick auf die Auswirkungen der Wehrpflicht auf das Leben eines jungen Menschen und seiner Familie; einen historischen Rückblick auf die politischen und ideologischen Voraussetzungen des Rechts auf Wehrdienstverweigerung sowie eine Reflexion über die Konstruktivität von Biografien. Diese Vielschichtigkeit eröffnet vielfältige Anknüpfungspunkte für die historisch-politische Bildung. Aufgeworfen werden Fragen nach Kontinuitäten in der Militarisierung der deutschen Gesellschaft, nach der Funktion innerer und äußerer Feindbilder sowie nach den Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher (Gegen-)Bewegungen. Dabei zielen diese Fragen nicht nur auf die Vergangenheit – sie richten sich ebenso an unsere gegenwärtige Gesellschaft.

Literatur

Brinkmann, Hannah: Gegen mein Gewissen, Berlin 2020. 

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  • 02/07/2025 - 09:08

 

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