Anne Sauer ist Medienpädagogin und Game Designerin bei Playing History. Sie beschäftigt sich seit über 13 Jahren mit Spielen und deren pädagogischem Einsatz. Seit 2009 entwickelt sie Spiele für Bildungseinrichtungen und Unternehmen. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt dabei im Game-Design sowie in der Projektorganisation, -planung und -kommunikation bis zur Umsetzung der Spiele.
Hannah Sandstede ist Historikerin und neben ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta im Gedenkkreis Wehnen e.V. als stellvertretende Vorsitzende engagiert.
Anfang Mai endete der Zweite Weltkrieg in Europa und mit ihm die zwölf Jahre des Nazi-Regimes. Wir wissen heute, dass über 200.000 Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen in dieser Zeit Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde wurden. Die Anstalt Wehnen in der Nähe von Oldenburg galt lange Zeit als „die einzige psychiatrische Klinik in Deutschland, die der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘ entgehen konnte“ (Fleßner/Harms 2007: 18). Erst 1996 begannen Angehörige der Personen, die während der NS-Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen untergebracht waren, mit einer historischen Aufarbeitung. Sie fanden heraus, dass in Wehnen mehr als 1.500 Menschen durch systematischen Nahrungsentzug und die daraus resultierende Unterernährung und Entkräftung ermordet wurden. Und das bis ins Jahr 1947 – zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die Idee, ein Serious Game über die NS-Krankenmorde zu entwickeln, entstand im Jahr 2021, als die Gedenkstätte Wehnen das Entwicklerstudio Playing History um Unterstützung bat. Schüler*innen der 9. bis 13. Klasse und anderen Bildungsgruppen eine grobe Vorstellung von „Euthanasie“ und den Krankenmorden in der NS-Zeit zu vermitteln. Dabei sollten auch die konkreten Vorgänge in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen thematisiert werden, so dass Spieler*innen diesen Ort in den Kontext der Krankenmorde einordnen können.
Innerhalb eines dreiviertel Jahres entstand „Spuren auf Papier“ – ein Spiel, das nicht nur die Geschichte der „Euthanasie“ in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt erzählt, sondern auch auf einer Metaebene deren Aufarbeitung durch Angehörige in den 1990er Jahren abbildet. Das Projekt wurde im Rahmen von „dive in. Programm für digitale Interaktion“ der Kulturstiftung des Bundes entwickelt und durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert.
„Spuren auf Papier“ ist eine investigative Detektivgeschichte, die die Spielenden aus der Perspektive von Josephine erleben. Ziel des Spiels ist es, herauszufinden, was mit Josephines Schwester Anna passiert ist, die Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen war. Dazu dient ein Buch, das Josephine im hohen Alter schreibt. In diesem verbindet sie Zeichnungen von Anna aus der Zeit in der Anstalt mit Dokumenten, Briefen und Fotos, die sie Jahre später . Die Spielenden interagieren mit dem Buch, schalten so neue Bildfragmente und Informationen frei und treiben die Geschichte voran.
Ausschnitt aus dem Digitalen Spiel „Spuren auf Papier“. © Playing History
Die zehn Kapitel legen jeweils den Fokus auf ein Thema, angefangen bei Annas Depression, ihrer Einweisung und Zwangssterilisation, über die Arbeiten in der Heil- und Pflegeanstalt, Einsparungen und Hunger, Briefzensur bis hin zu Annas Tod. Dabei werden verschiedene Perspektiven eröffnet: auf der einen Seite die individuelle, mitunter intime, aber gleichzeitig auch eingeschränkte Perspektive von Anna in Form symbolischer, teils schwer lesbarer Zeichnungen. Und auf der anderen Seite die außenstehende Perspektive von Josephine, die mit ihrem heutigen Blick auf die Dinge und mit den jetzt verfügbaren Hintergrundinformationen die Geschehnisse in Wehnen einzuordnen vermag. Die Figuren im Spiel sind alle fiktiv, basieren aber auf realen Biografien und Dokumenten und sind inspiriert von den Einzelgeschichten der sogenannten „roten Bücher“ der Gedenkstätte Wehnen.
Die Interaktionsmöglichkeiten sind einfach gedacht und gewährleisten hohe Zugänglichkeit und geringe Einarbeitungszeiten, was vor allem mit Blick auf das Einsatzszenario im Bildungskontext und der dort begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit sinnvoll ist. Darüber hinaus sind die Interaktionen eng mit den Inhalten verknüpft. In einem Kapitel, das sich dediziert den Aufgaben der arbeitsfähigen Patient*innen widmet, führen Spieler*innen beispielsweise diverse Liefertätigkeiten aus, um diese Arbeit nachvollziehen zu können. In einem anderen Kapitel, welches sich um bettlägerige Patient*innen dreht, gibt es dagegen keine Handlungsmöglichkeiten. Dies spiegelt auf einer Metaebene die Situation der Patient*innen wider, die als Arbeitsunfähige nicht mehr ausreichend ernährt, zunehmend schwächer und damit handlungsunfähig wurden. Es wird bewusst darauf verzichtet, Spieler*innen in die Täterrolle schlüpfen zu lassen. Das heißt, es werden keine direkten Entscheidungen oder Interaktionsmöglichkeiten ermöglicht, die die Gesundheit der Patient*innen gefährden. Im konkreten Fall sind es nicht die Spieler*innen, die Anna ans Bett binden.
Bei der Entwicklung eines Spiels wie „Spuren auf Papier“ folgten wir (Gedenkstätte und Entwicklerstudio) einem bewährten Schema, beginnend mit einer gründlichen Analyse, in der wir uns drei zentrale Fragen stellten: Welche Zielgruppe möchten wir mit dem Spiel ansprechen? Welche Bildungsziele verfolgen wir? Und in welchem Nutzungsszenario soll das Spiel konkret zum Einsatz kommen?
Auf Grundlage dieser Überlegungen entwickelten wir gemeinsam eine erste Spielidee. Sobald diese stand, begann die Ausarbeitung der Spielinhalte. Hier arbeiteten verschiedene Abteilungen zusammen, darunter Storytelling, Game Design, Illustration, UI-Design (Gestaltung aller Elemente, mit denen User*innen im Spiel interagieren), Sound-Design, Entwicklung und Qualitätssicherung. Wir ließen Textdokumente schnell hinter uns, da sie unterschiedliche Assoziationen und Interpretationen hervorrufen können. Ein erster Prototyp hingegen machte Ideen frühzeitig sichtbar und greifbar. Prototypen können zwar nicht das finale Spielerlebnis in seiner gesamten Tiefe wiedergeben. Sie enthalten oft Konzeptskizzen und beschränkte Interaktionsmöglichkeiten. Doch zeigt die Erfahrung, dass eine visuelle Darstellung der Idee zu einem frühen Zeitpunkt alle Projektbeteiligten abzuholen vermag und damit eine gemeinsame Gesprächsgrundlage schafft.
Der gesamte Entwicklungsprozess wurde von regelmäßigen internen und externen Tests begleitet. In internen Tests prüften wir die Funktionalität und stimmten Interaktion, Feedback etc. aufeinander ab. Externe Tests erfolgten mit den Zielgruppen, mit Schüler*innen und Lehrkräften. Die Ergebnisse daraus flossen kontinuierlich in die Weiterentwicklung des Projekts ein.
Bei der Entwicklung von „Spuren auf Papier“ haben sich alle Projektbeteiligten thematisch auf einem spielerisch weitgehend unerschlossenen Terrain bewegt. Uns war bis zum Projektstart kein Spiel bekannt, dass sich der „Euthanasie“ widmet. Das hat alle Projektbeteiligten gefordert, aber auch weitergebracht. Zudem hat sich in der Arbeit erneut gezeigt, wie wichtig Kommunikation und gegenseitiges Vertrauen in einem solchen Projekt sind. Nur wenn alle Projektbeteiligten Ideen und Wünsche, aber auch Bedenken und Sorgen offen kommunizieren, können gemeinsame Lösungen gefunden und Herausforderungen bewältigt werden.
Für uns als Historiker*innen der Gedenkstätte war der gedankliche Transfer der Inhalte weg von gedenkstättenpädagogischer und klassisch wissenschaftlicher Arbeit hin zu einem immersiven und spielerischen Ansatz anfänglich nicht leicht. Während der Zusammenarbeit mit Playing History entwickelte sich jedoch zunehmend eine immer klarer werdende Vision eines Serious Games, welches der Sensibilität der Thematik Rechnung trägt und dennoch seinen Spielcharakter nicht verliert. Die Schwächen unserer ursprünglichen Idee eines Spiels mit Wimmelbildcharakter wurden schnell deutlich: fehlende Tiefe, eindimensionale Spielmechaniken, wenig Storytelling. Bestehen blieb der Wunsch, detektivisches Arbeiten zu ermöglichen, angelehnt an echte Archivarbeit, verbunden mit einer persönlichen Geschichte. Dies stellte uns vor viele Fragen, etwa die nach der Authentizität der Opferbiografie. Wir entschieden uns letztlich für eine fiktive Figur, um möglichst exemplarisch arbeiten zu können. Auch die künstlerische Umsetzung entwickelte sich stetig weiter: weg von realistischen Darstellungen hin zu surrealen Bildern, die Emotionen und Botschaften subtiler vermitteln.
Den gesamten Entwicklungsprozess begleitete die große Herausforderung, die historischen Hintergründe für die Spielform drastisch zu reduzieren, ohne sie dadurch zu verfälschen oder unverständlich werden zu lassen. Einen guten Mittelweg fanden wir hier mit dem Handbuch in PDF-Form, welches zusätzliche Informationen bietet und die Dokumente einordnet.
Das äußerst positive Feedback zu „Spuren auf Papier“ zeigt uns, dass sich ein spielerischer, kreativer Ansatz und wissenschaftliche Forschung nicht ausschließen, sondern im Gegenteil neue Möglichkeiten für die Geschichtswissenschaft bieten. Komplementär zur klassischen Gedenkstättenpädagogik am authentischen historischen Ort können durch Formate wie Serious Games in Zukunft besonders jüngere Zielgruppen verstärkt erreicht werden. Denn Serious Games sind ein vielseitiges Werkzeug, um auch komplexe und ernsthafte Themen auf eine zugängliche wie ansprechende Weise zu vermitteln. Obwohl ihnen noch immer vereinzelt mit Skepsis begegnet wird, können Spiele – wie auch andere Kulturgüter – sensibel und pietätvoll ernste und mitunter melancholische Geschichten erzählen.
Ein Spiel wie „Spuren auf Papier“ kann und soll die Arbeit der Gedenkstätten nicht ersetzen. Es schafft jedoch neue Zugänge und erreicht so möglicherweise neue Zielgruppen. Angesichts schwindender Zeitzeug*innen kann es darüber hinaus einen wertvollen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten, damit die Verbrechen der NS-Zeit und das Thema „Euthanasie“ auch langfristig nicht in Vergessenheit geraten. Es ist spannend zu sehen, dass sich nach der Veröffentlichung von „Spuren auf Papier“ immer mehr Gedenkstätten für die Darstellung ihrer Themen in Form von Spielen zu öffnen scheinen.
Literatur
Fleßner, Alfred/Harms, Ingo: Die oldenburgische NS-„Euthanasie“ und ihre Opfer, in: Einblicke H. 46/2007, S. 18–20.