Der Russland-Ukraine-Krieg ist für die politische Bildung eine Herausforderung. Der Bedarf an einordnendem Wissen ist groß, dieses steht aber nicht unmittelbar zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag das Potenzial von Forschungswissen für die politische Bildung in akuten Krisensituationen diskutiert. Dabei beziehe ich mich nicht auf eine bestimmte Definition von politischer Bildung, adressiere aber folgende Aspekte, die für diese relevant sind: Fachwissen vermitteln, unterschiedliche und widerstreitende Positionen vermitteln, (jungen) Menschen eine eigene Orientierung und Positionierung ermöglichen, das Gefühl von Handlungsmöglichkeiten und Selbstwirksamkeit stärken.
Diese Ziele stellen bereits in Nicht-Krisenzeiten eine Herausforderung dar. In der akuten Krise sind sie noch viel schwerer zu erreichen, denn diese ist durch drei Aspekte gekennzeichnet: eine (oder auch mehrere) Bedrohungen, Unsicherheit durch begrenzte Informationen sowie Handlungsdruck. Der Krieg schafft für politische Bildende eine Situation, die die Zeit in ein Vorher und ein Nachher teilt. Ein zwischenstaatlicher Krieg in Europa schien zuvor nicht denkbar und er macht eine Neuordnung des vorhandenen Wissens und das Schaffen neuen Wissens notwendig.
Ich gehe – ohne dass diese Behauptung zu belegen wäre – davon aus, dass Forschungswissen die politische Bildungsarbeit in der gegenwärtigen Krise unterstützen kann. Neben Medien sind es vor allem wissenschaftliche Quellen – wissenschaftlich fundierte Analysen in Interviews, Podcasts, Blogs – auf die politische Bilder*innen sich im Jahr 2022 stützen konnten. Gerade hinsichtlich der mit dem Russland-Ukraine-Krieg verbundenen Fragen – Verhandlungen, Sanktionen, Waffenlieferungen – ist reiches Forschungswissen bereits vorhanden und für die Analyse der aktuellen Situation nützlich, auch wenn dieser Krieg für sich ein singuläres Ereignis darstellt.
Forschungswissen in der politischen Bildung zu nutzen, ist aber keineswegs trivial. Um das zu erkennen, wirkt die Krise wie ein Vergrößerungsglas auf ein Problem, das auch sonst existiert. Die Bildungswissenschaft beschreibt es als Research-Practice-Gap. Lehrkräfte und andere Praktiker*innen der politischen Bildung sind auf Informationen und Forschungswissen angewiesen. Dies trifft insbesondere auf akute Krisen und Konflikte zu, die in Schulmedien noch nicht verarbeitet sind. Zugleich berichten Praktiker*innen, dass Forschungswissen nicht in einer Form angeboten wird, die im Unterricht genutzt werden kann. Das betrifft zum einen wissenschaftsspezifische Publikationsformen und -sprachen, die andere Wissenschaftler*innen ansprechen sollen, aber nicht Schüler*innen. Forschungswissen ist zudem nicht eindeutig zu interpretieren bzw. wissenschaftliche Schlussfolgerungen – das liegt im Wesen des wissenschaftlichen Prozesses – widersprechen sich bisweilen. Umgekehrt ist es so, dass in Schulbüchern wissenschaftliche Einordnungen aus didaktischen Gründen manchmal verkürzt werden. Für die mit der Wissenschafts-Praxis-Lücke einhergehenden Probleme gilt es außerhalb der Krise Lösungen zu finden. Sie erfordern etwa eine gemeinsame Arbeit von Forschenden und Bildungspraktiker*innen an Lehrmedien, für die in der Regel aber wenig Zeit und wenige Ressourcen vorgesehen sind.
Stefan Kroll bei seinem Vortrag. Auf dem Podium Manuela Pietraß, Thomas Clausen und Uli Jäger (v.l.n.r). © Christiane Deuse
In Zeiten akuter Krisen ist ein Ansatz, die Wissenschafts-Praxis-Lücke zu schließen, Wissenschaftler*innen in den Unterricht einzuladen. Wissenschaftskommunikation bedeutet dabei nicht nur „Vermittlung“ von Wissen, es geht vielmehr um einen Dialog. Den Wissenschaftler*innen hilft dieser, besser zu verstehen, welche Erwartungen an die Forschung gestellt werden und welche Fragen der Gesellschaft durch sie beantwortet werden sollen.
Welche Erwartungen und Herausforderungen an Wissenschaftler*innen bestehen in der aktuellen Situation bei einem Schulbesuch?
Information:Werden Wissenschaftler*innen in den Unterricht eingeladen, geht es vor allem um Informationen. Welches sind die Ursachen und Hintergründe des Kriegs? Wie wirken Sanktionen? Kommt der Krieg zu uns? Wie steht es um die psychologische Beschaffenheit Putins? Für Wissenschaftler*innen besteht nun eine wesentliche Aufgabe darin, die Begrenztheit des eigenen Wissens zu vermitteln. Das Problem ist nicht in erster Linie die Bandbreite der Fragen, die ein*e einzelne*r Expert*in selten abzudecken vermag. Auch die oft in die Zukunft gerichteten Fragen, die nur spekulativ zu beantworten sind, machen nicht den Kern des Problems aus. Das besondere Problem liegt in den Fragen, die grundsätzlich beantwortbar sind, aber nicht zu diesem Zeitpunkt. Wissenschaftler*innen sind in der akuten Krise selbst mit dem Problem unvollständiger Daten konfrontiert. Sie werden zwar zu den genannten Fragen forschen und zu gegebener Zeit auch Antworten präsentieren können, aber in der akuten Lage geht es meist eher um ihre Kommentierung vor dem Hintergrund bereits existierenden Forschungswissens. Es muss durch die Wissenschaftler*innen in die aktuelle Situation transferiert bzw. für diese adaptiert werden. Dies ist aber mit Unsicherheiten verbunden, die transparent gemacht werden müssen. Interessanterweise führt dieser Umstand oft zu Formaten, die für den Unterricht eher geeignet sind als das im Wissenschaftskontext bewährte Arbeitspapier mit ausgefeiltem Forschungsdesign.
Widerstreitende Positionen: Die Vermittlung kontroverser Positionen in akuten Krisen kann eine große Herausforderung für Forschende sein. Zumindest, wenn die Expert*innen nicht zwischen Situationen der politischen Beratung und der politischen Bildung unterscheiden. In der Politikberatung werden von Expert*innen klare Empfehlungen bis hin zu Quasi-Entscheidungen gefordert. Solche entstehen aber in einem demokratisch defizitären Prozess, insbesondere dann, wenn Rollenverständnisse nicht klar eingehalten werden. Das heißt, Wissenschaftler*innen, die in der Beratung aktiv sind, sind selbst Teil der Kontroverse und repräsentieren eine der widerstreitenden Positionen. In ihrer Rolle als politische Bildner*innen sind sie daher gefordert, diese in einer Unterrichtssituation zu reflektieren, um entweder unterschiedliche Sichtweisen zu erläutern und in Ausgleich zu bringen oder eine eigene Position als solche zu markieren.
Stefan Kroll im Gespräch mit Manuela Pietraß, Thomas Clausen und Uli Jäger (v.l.n.r). © Christiane Deuse
Positionierung: Andererseits zielt der Schulbesuch für mich auch darauf, den Schüler*innen durch Orientierungswissen eine eigene Positionierung zu ermöglichen. Wie ich bei meinen Schulbesuchen feststelle, mangelt es keineswegs an Positionierung. Auch in der Schule finden sich im Wesentlichen die kontroversen Positionen, die in der öffentlichen Debatte vorgetragen werden, aber mit eigenen Akzentuierungen und persönlichen Verknüpfungen. Das betrifft meiner Erfahrung nach etwa die Themen Mehrausgaben für die Bundeswehr und Waffenlieferungen, sowie aber insbesondere auch das Thema Flucht und Migration, über das oft Diskussionsbedarf bei den Jugendlichen bestand. Diese Akzentuierungen und Positionierungen waren für mich die Art von Impuls auch für meine Transferarbeit, die ich mir von den Besuchen verspreche. Hieran sehe ich deutlich, welche Themen die jungen Menschen interessieren, welche Informationsbedarfe es gibt und an welchen Stellen gegen Desinformation angearbeitet werden muss.
Selbstwirksamkeit:Die Frage nach Selbstwirksamkeit geht eigentlich über den Aufgabenbereich von Expert*innen im Unterricht hinaus, dennoch halte ich diesen Aspekt für wesentlich. Zunächst habe ich diesbezüglich festgestellt, dass der Krieg – und ähnlich ließ sich das in Diskussionen über die Klimakrise beobachten – eine Form der Ohnmacht erzeugen kann, die eigenes Handeln hemmt. Ich finde es deshalb wichtig zu zeigen, dass in Krisen Handlungsmöglichkeiten bestehen und dass aus manchen Krisen Chancen erwachsen können. Ganz konkret geht es mir darum, den Schüler*innen zu vermitteln, dass sie sich in solchen Situationen engagieren können, wenn sie das möchten, und dass dafür eine Auseinandersetzung mit der Krise und ihre Haltung wichtig sind. Das ist in meinen Augen eine logische Konsequenz aus dem Verständnis von Wissenstransfer als Dialog mit den Bürger*innen. Zwar mag es im Unterricht nicht komplett gelingen, die Asymmetrie zwischen Expert*in und Schüler*innen aufzuheben, aber ich bemühe mich um Gespräche, die so weit wie möglich auf Augenhöhe stattfinden.
Der Beitrag sollte Herausforderungen bei der Verwendung von Forschungswissen in der politischen Bildung in akuten Krisensituationen sowie diesbezügliche Lösungsansätze aufzuzeigen. Es wurde deutlich, dass die Rolle von Wissenschaftler*innen über die Vermittlung von Wissen hinausgeht. Wissenstransfer als Dialog bietet auch für die politische Bildung einen Mehrwert. Zugleich müssen Forschende gerade in akuten Krisensituationen auf die Grenzen ihres Wissens hinweisen und als Berater*innen ihre Positionierung in kontroversen Auseinandersetzungen reflektieren. Die Positionierung junger Menschen bietet gleichzeitig Impulse für die Forscher*innen selbst, wenn es gelingt, die Asymmetrie im Verhältnis zwischen Expert*innen und Schüler*innen zu verringern. Expert*innen könnten so ein Bindeglied im Verhältnis zwischen Schüler*innen und Lehrkräften sein.