Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.
„Ich schrieb bereits, dass die Wiedervereinigung natürlich keinen Akt des Kolonialismus darstellte. Interessant aber ist dennoch, sich die Überlegenheitsgefühle des Westens anzuschauen. Durch den Untergang des Kommunismus fühlte sich der Westen derart in seinem Sein und Wesen bestärkt, dass er glaubte, seine Mission bestehe nun folgerichtig darin, den Rest – oder wenigstens Ostdeutschland und Osteuropa – nach seinem Ebenbild zu formen“ (102).
Kann beim Transformationsprozess im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung – auch das schon ein programmatischer Begriff – von westdeutschem Kolonialismus gegenüber Ostdeutschland, genauer: den Ländern der ehemaligen DDR gesprochen werden? Diese Frage steht zwar nicht im Fokus von Ilko-Sascha Kowalczuks Buch „Die Übernahme“, jedoch kommt auch er nicht umhin, Stellung zu ihr zu beziehen. Interessanterweise erfolgt das zunächst in einer Eindeutigkeit, die im Fortgang dann wieder etwas entschärft wird. So schreibt Kowalczuk in der Einleitung, dass eine begriffliche Gleichsetzung mit den europäischen kolonialen Massenverbrechen vollständig falsch sei: „Wer dies tut, verharmlost und relativiert den europäischen Kolonialismus mit Abermillionen Toten“ (16). Doch liefert der Autor mit der oben zitierten Beobachtung westdeutscher Überlegenheitsgefühle, die in dem Glauben an eine Mission mündeten, „Ostdeutschland und Osteuropa nach seinem Ebenbild zu formen“ (103), zumindest implizit Anknüpfungspunkte für einen solchen Vergleich.
Kowalczuk verdeutlicht bereits zu Beginn zweierlei: zum einen, dass ein sinnvoller und produktiver Vergleich stets ein hohes Maß an Differenzierung benötigt. Zum anderen, dass auch die Reflexion der Genese eigener Positionen produktiv sein kann. Denn direkt nach der Wende machten sich dem Historiker vor allem jene verdächtig, die von „Kolonialismus“ sprachen, denn: „Welcher Kolonisierte hätte seine Kolonialherren schon mit freien demokratischen Wahlen selbst herbeigerufen?“ (15). In seinem 2019 erschienenen Buch ordnet Kowalczuk diese Wahlergebnisse dann rückblickend in ihren sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und historischen Kontext ein; seine Schlüsse daraus fallen vielschichtig aus.
Durch die Einordnung auf zwei (zeitliche) Ebenen zeigen sich die beiden offensichtlichsten Stärken des Buches: Einerseits die Genauigkeit in der Analyse historischer Ereignisse und Phänomene, bei der Interpretation ihrer Ursachen wie Folgen und bei den an sie angelegten theoretischen Konzepten. Andererseits erfolgt diese in dem Wissen darum, dass solche Einordnungen immer aus einer bestimmten Perspektive erfolgen und sie sich wandeln können.
Kowalczuk liefert eine Gesamtschau der Ereignisse während und im Besonderen nach dem Beitritt der DDR zur BRD. Dies geschieht in zwölf Kapiteln, die sich in drei Bereiche untergliedern lassen: Kowalczuk beginnt mit einer historischen Rückblende. In dieser untersucht er die Revolution 1989, das Übergangsjahr 1990 und den Beitritt der DDR in die BRD. Darauf aufbauend analysiert er in vier weiteren Kapiteln das Verhältnis zwischen Ost und West im Rahmen des deutsch-deutschen Transformationsprozesses, für den er den Begriff „Übernahme“ verwendet. Er fokussiert hierbei auf vier Bereiche: Die sozial-psychologische Dimension mit Blick auf „die Konstruktion ‚des Ostdeutschen‘“, die „wirtschaftliche Übernahme“, „die soziale Katastrophe“ und die „kulturelle Hegemonie“. Ein eher separat stehendes Kapitel widmet sich dem Umgang mit der Stasi nach 1990 und der Aufarbeitung dieses wichtigen Aspekts der DDR-Geschichte. Im dritten Bereich, den letzten drei Kapiteln des Buches, beleuchtet Kowalczuk aktuelle Diskursfelder: Er beschreibt zentrale gesellschaftliche Problemfelder in Ost-, sowie am Rande in West-Deutschland, und die Art sowie die Bedingungen des Diskurses um „den Osten“ und wirft einen Blick auf sich abzeichnende zukünftige Spannungsfelder und Entwicklungen.
Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde © C. H. Beck Verlag
Das Buch führt die Leser*innen in die historischen Ereignisse rund um den Beitritt der DDR zur BRD ein. Hier gelingt es Kowalczuk, die Vielschichtigkeit des Transformationsprozesses und seiner Akteur*innen, die ihm vorangehenden Erwartungen und Hoffnungen sowie erste Enttäuschungen auszudifferenzieren. Gerade Versäumnisse während der ersten Monate nach dem Beitritt stellten „Fehler im Übergang“ dar: „Es gab keinen Vertrauensverlust in Demokratie, Freiheit, Politik und Politikerinnen und Politiker nach 1990. Das Besondere an den ersten Monaten nach dem Mauerfall bestand darin, dass sich ein solches Vertrauen überhaupt erst hätte aufbauen müssen“ (219). Dabei gelingt es dem Autor, mit einer ausführlichen Beschreibung der Beitrittsverhandlungen im Februar 1990 das Verhältnis zwischen West und Ost an einem konkreten Ereignis greifbar zu machen und mit Wahrnehmungen damaliger Beteiligter anzureichern. So hielt der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble beispielsweise im Rückblick fest, dass die Entsandten der DDR-Regierung „ganz bewusst kühl und distanziert“ empfangen worden seien, „um der Ablehnung ihrer Forderungen nach Soforthilfen auch so Ausdruck zu geben“ (67). Kowalczuk bewertet diese Begründungen als „merkwürdig“, „denn die politische Ablehnung einer Bitte […] erfordert nicht automatisch die Herabwürdigung“ (67). Kowalczuks Beobachtung der westdeutschen Arroganz wird so an ein konkretes Beispiel angebunden.
Im Kontext des verfassungsrechtlichen Umgangs mit der deutsch-deutschen Einigung betont Kowalczuk – sehr wohl unter Nennung damit konfligierender Einschätzungen – die symbolische Dimension der Schaffung einer neuen, gemeinsamen Verfassung. Mit ihr hätten die Westdeutschen verstehen können, „dass auch die alte BRD, das Nachkriegsprovisorium, in eine neue Zeit überführt werden“ hätte müssen (77). Stattdessen, so beschreibt der Autor, wurden die westdeutschen Verhältnisse durch den Beitritt zementiert.
Kowalczuk untersucht das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland auch auf sozial-psychologischer Ebene, indem er die Frage aufwirft, wer eigentlich ostdeutsch sei. Für ihn ist das Vorhandensein entsprechender „Erfahrungsräume“ (85) entscheidend – gleichzeitig spricht er von einer ostdeutschen Identität als „Konstruktion“ (86): „[A]lle erfanden sie ‚die Ostdeutschen‘“ (87). In diesem Spannungsverhältnis zwischen erlebter Realität der eigenen Lebensgeschichte und von anderen aufgezwängter Identität verortet der Autor die Konstruktion „der Ostdeutschen“. Zudem betont er die Hierarchisierung zwischen West- und Ostdeutschen entlang eines Machtgefälles: „Zum ‚Wessi‘ wurde man nur woanders, im Osten. Der Ossi hingegen ist immer Ossi, egal wo und in welcher Konstellation“ (94). Der Befund, dass die eigene Geschichte „nur das unbekannte Wesen erzählen [muss]“ (95), verweist auf zentrale Mechanismen des Othering: Die diskriminierte Gruppe wird zum „Anderen“, zum „Betrachteten“ gemacht, zu derjenigen, die sich erklären muss. Eine Betrachtungsweise, die dazu einlädt, die Erfahrungen Ostdeutscher auch mithilfe des begrifflichen Instrumentariums der Diskriminierungs- und Rassismusforschung zu untersuchen.
Verschränkungen sind für Kowalczuk ein wichtiges Instrument: Zum einen verschränkt er die Erzählung eines Einzelfalls als (auto)biografische Geschichte mit der Beschreibung der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Zum anderen verschränkt er die Methodik der historischen Rekonstruktion mit Hilfe von Quellenmaterial mit analytisch-deduktiven Methoden, um den Gegenstand möglichst vielschichtig erfassen zu können. Es ist die Art, wie der Autor ebendiese Verschränkungen vornimmt, die es den Leser*innen ermöglicht, die komplexen Bedingungen und Prozesse, die den Beitritt der DDR zur BRD formten, nachzuvollziehen – und so auch die Genese heutiger Problem- und Spannungsfelder. Zu ihnen zählt Kowalczuk vor allem nach wie vor das Verhältnis zwischen Ost und West, das durch einen Mangel an Verständnis und durch Stereotypisierungen gekennzeichnet sei: „Fehlende Anerkennung […] ist vielleicht die am meisten unterschätzte Erscheinung, jedenfalls in Deutschland. Anerkennung und Missachtung gehen Hand in Hand. Fehlt Anerkennung, wird das als Missachtung wahrgenommen. Anerkennung stellt eine Bedingung für Selbstanerkennung dar. Fehlende Anerkennung und wahrgenommene Missachtung können in Gewalt münden“ (271).
Fazit: Kowalczuk, der den auch bezüglich der Frage, ob „der Westen“ „den Osten“ kolonisiert habe, wichtigen Begriff „Übernahme“ geprägt hat, beschreibt in seinem Standardwerk ausführlich die mit ihm bezeichneten Prozesse und Folgen. Durch die erwähnten Verschränkungen tut er dies multiperspektivisch und detailliert. Er möchte Ostdeutschland als „Modell und Labor“ (285) der Demokratie betrachtet wissen und hofft, dass es noch möglich sei, „Ostdeutschland zu retten“ (285): Letztere Aussicht, so bevormundend und pathetisch sie auch formuliert sein mag, ist ein Aufruf zur politischen und zivilgesellschaftlichen Mitgestaltung. Dass es ein Bedürfnis danach gibt, zeigt sich gerade in den aktuellen Debatten.