Bereits im Sommer 1951, als im thüringischen Saalfeld erstmals in der DDR ein großer Streik ausbrach, griffen die Behörden hart durch. Sie verhafteten die „Rädelsführer“ und verurteilten sie zu hohen Haftstrafen. Was war passiert? Aufgebrachte Kumpel der Wismut-Bergbaugesellschaft hatten das ehemalige Saalfelder Gasthaus „Roter Hirsch“, das als Polizeirevier diente, gestürmt, Volkspolizisten verprügelt und Ermittlungsakten vernichtet. Der Zorn der Bergleute richtete sich gegen die Staatsmacht der jungen DDR, weil Arbeitskollegen verhaftet und eingesperrt worden waren, die zuvor in einer Grube bei Saalfeld wegen schlechter Arbeits- und Versorgungsbedingungen zum Streik aufgerufen hatten.
Als es knapp zwei Jahre später, am 17. Juni 1953, ausgehend von der Ost-Berliner Stalin-Allee in der gesamten DDR zum Volksaufstand kam, fielen die Forderungen der streikenden Berliner Arbeiter besonders in Thüringen auf fruchtbaren Boden. Vor allem in den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl demonstrierten zahlreiche Menschen gegen die SED-Diktatur. Dass die oft verwendeten Begriffe „Volksaufstand“ sowie „Arbeiteraufstand“ ihre Berechtigung haben, zeigen auch die für den Bezirk Erfurt vorliegenden Zahlen: Von den 203 bis Ende Juni allein in diesem Bezirk verhafteten Personen kamen 61 Prozent aus der Arbeiterschaft und nur 7 Prozent aus dem akademischen Milieu. 84,4 Prozent waren parteipolitisch nicht gebunden. In der übrigen DDR waren die Verhältnisse ähnlich.
Indes wird manchmal vergessen, dass der gewaltsam niedergeschlagene Aufstand noch Monate später Anlass für Repressionen bot. So haben viele der Thüringer Verhafteten eine weitaus langwierigere Geschichte von Eigensinn und Widerstand, als es das im kollektiven Gedächtnis verankerte Datum des 17. Juni nahelegt. Die Geschichten von Marilene Bornemann und Richard Stumpf möchten wir exemplarisch erzählen.
Die damals zwanzigjährige Marilene Bornemann arbeitete 1950 als Schneiderin in Erfurt, als sie ihren späteren Mann Winfried kennenlernte. Mit ihm zusammen knüpfte sie Kontakte nach West-Berlin und das Paar begann 1952, Flugblätter gegen die SED zu drucken, auf denen sie freie Wahlen und ein vereinigtes Deutschland forderten. Sie verteilten die Flugblätter im Erfurter Stadtgebiet, und auch nach dem gescheiterten Volksaufstand vom 17. Juni ermunterten sie die Bevölkerung, weiter „für Demokratie zu kämpfen“. Relativ spät gerieten sie ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit, dem vonseiten der SED vorgeworfen worden war, den Volksaufstand nicht rechtzeitig vorhergesehen zu haben.
Häftlingsfoto von Marilene Bornemann, 1953. Privatbesitz. © Gedenkstätte Andreasstraße
„Als der Herbst begann“, erinnert sich Marilene Bornemann, „haben sie dann zugeschlagen, so lange haben sie uns beobachtet“. Im Oktober 1953 wurde Bornemann in der Erfurter Stasi-Untersuchungshaftanstalt in der Andreasstraße inhaftiert. Sie wurde zu vier Jahren Haft verurteilt – ihr Mann zu zehn Jahren. Erst im Gefängnis merkte Bornemann, dass sie schwanger war. In den Verhören wurde sie gedemütigt und misshandelt. Nach der Geburt ihrer Tochter in einem Haftkrankenhaus war sie zwei Jahre von ihrem Kind getrennt. Im Gefängnis „Roter Ochse“ in Halle arbeitete sie bis zu ihrer Entlassung 1956 als Schneiderin. Ein emotional unbelastetes Verhältnis zu ihrer Tochter ließ sich nicht mehr herstellen. Ihr Mann wurde 1960 entlassen; fortan versuchte die Familie, ein möglichst unauffälliges Leben zu führen. Doch 1989 beteiligten sich die Bornemanns an der Friedlichen Revolution: Sie verteilten Kerzen und demonstrierten mit Tausenden auf dem Domplatz. Im November gründeten sie gemeinsam mit anderen in Erfurt die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP).
Bis ins hohe Alter war Marilene Bornemann uns, dem Team der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, als Zeitzeugin eng verbunden. Sie machte nie viel Aufhebens um ihre Person und war bescheiden, dabei hatte sie viel zu erzählen. 2021 starb Marilene Bornemann im Alter von 91 Jahren. Wir verwahren persönliche Dokumente von ihr und ein Video-Interview im Archiv der Gedenkstätte.
Wen wir leider nicht mehr persönlich kennengelernt haben, ist der 2007 verstorbene Richard Stumpf. Seine Geschichte hat uns jüngst seine Familie erzählt und sie mit Gerichtsakten, Fotos und persönlichen Dokumenten illustriert.
Richard Stumpf wurde 1927 in Nürnberg in eine katholische Familie geboren und zog 1934 ins Eichsfeld. Während des Zweiten Weltkriegs absolvierte er eine Ausbildung als Feinmechaniker bei Carl Zeiss in Heiligenstadt, ehe er Ende 1944 zur Kriegsmarine kam und einige Monate in kanadischer Gefangenschaft verbrachte. Nach Kriegsende begann Stumpf bei einem metallverarbeitenden Betrieb in Heiligenstadt zu arbeiten. 1946 trat er der CDU bei und blieb bis 1950 Mitglied. Nachdem Stumpf 1949 nach kurzer Tätigkeit als Sekretär im Vorstand der IG Metall von seiner Funktion entbunden wurde, arbeitete er hauptberuflich als Gitarrist und wohnte in Duderstadt in Niedersachsen. Dort warb ihn ein Kollege für Fossett’s Circus in Dublin an. Der 23-jährige Richard Stumpf zog nach Irland und begleitete die Zirkusvorführungen ein Jahr lang musikalisch, bevor er nach Heiligenstadt und in seinen alten Betrieb, die Firma Engelmann & Co., zurückkehrte, die nun aufgrund der Verstaatlichung VEB MEWA hieß.
Privatfoto von Richard Stumpf, 1950er Jahre. Privatbesitz. © Gedenkstätte Andreasstraße
Der 17. Juni 1953 verlief größtenteils ereignislos in Heiligenstadt. Über die Stadt wurde provisorisch der Ausnahmezustand verhängt; potenzielle Streiks sollten durch Verhaftungen und den gezielten Einsatz SED-treuer Agitatoren in den Betrieben unterbunden werden. Erst am Abend erfuhr Richard Stumpf von den Ost-Berliner Ausschreitungen im Westradio. Am nächsten Tag berief die VEB MEWA eine Betriebsversammlung ein. Der Ratskreisvorsitzende erklärte die Folgen der Verhängung des Ausnahmezustands über Heiligenstadt und diffamierte die Aufstände als „vom Westen inszeniert“. Nach seiner Rede forderte er die Belegschaft zu Wortbeiträgen auf. Stumpf, zu diesem Zeitpunkt Gewerkschaftssekretär des Betriebes bzw. der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL), meldete sich zu Wort. Er hielt eine beeindruckende Rede, deren Hauptaussage sinngemäß lautete: „Wenn ich als BGL-Vorsitzender Mist machen würde, würde ich abgelöst. Dasselbe kann man auch von den oberen Funktionären verlangen.“ Stumpf forderte außerdem eine neue, echte Arbeiterregierung. Auf die Rede folgte „orkanartiger Beifall“.
Der publikumswirksame Auftritt hatte zunächst keine Konsequenzen für Stumpf. Doch nachdem die SED den Volksaufstand mit Hilfe sowjetischer Panzer niedergeschlagen hatte und wieder fest im Sattel saß, sollte auch im Eichsfeld ein Exempel statuiert werden: Im Januar 1954, also ein halbes Jahr später, warnten Kollegen Stumpf, dass möglicherweise seine Verhaftung bevorstünde. Ein Kollege kaufte ihm sogar eine Fahrkarte nach Ost-Berlin, mit der er nach West-Berlin flüchten sollte. Stumpf verstaute die Fahrkarte in seinem Mantel.
Am 18. Januar 1954, einen Tag vor der geplanten Flucht, klopften zwei Männer in Zivil an Stumpfs Wohnungstür. Er solle mitkommen, es gehe um den Betrieb. Geistesgegenwärtig entfernte Stumpfs Ehefrau Elisabeth die Fahrkarte nach Berlin, bevor ihr Ehemann seinen Mantel anzog. Sobald Stumpf die Wohnung verlassen hatte, wurde er verhaftet. Kurz zuvor hatten Vertreter der Volkspolizei, der Kreisleitung der SED und ein Vertreter der Bezirksstaatsanwaltschaft Erfurt in Stumpfs Betrieb zusammengesessen und seinen Fall diskutiert. Sie waren zu dem Schluss gelangt, dass er ein „Provokateur vom 17. Juni 1953“ sei. Das Erfurter Bezirksgericht erhob Anklage gegen Richard Stumpf wegen Verbrechen nach Art. 6 der Verfassung (Boykotthetze) und KD 38 Abschn. II Art. III A 3 (Gefährdung des Friedens durch Verbreitung tendenziöser Gerüchte). Glücklicherweise konnte ihm, da er die Fahrkarte nicht bei sich trug, kein Fluchtversuch nachgewiesen werden.
Das Gericht hörte mehrere Kollegen als Zeugen an, die aber alle wenig belastbare Aussagen machten. Stumpf war schlicht zu beliebt. So äußerte der Werkleiter bei der Vernehmung durch die Volkspolizei im Februar 1954: „Da er als Mensch rein persönlich einen guten Humor hat, hat er in der Belegschaft große Sympathien, sodass die Masse der Belegschaftsmitglieder in Stumpf nicht den Provokateur sieht.“
Am 13. April 1954 wurde Richard Stumpf zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt. Zudem wurden ihm diverse sogenannte Sühnemaßnahmen auferlegt. Man entzog ihm etwa das Wahlrecht, er durfte sich nicht mehr politisch betätigen, kein Gewerkschaftsmitglied sein und kein Auto fahren. Die Gefängnisstrafe saß Stumpf vollständig in Untersuchungshaftanstalten der Stasi ab. Am 3. August 1954 wurde er von Gotha nach Erfurt in die Andreasstraße verlegt. Später hat er sich an seine Haft, jedenfalls im Gespräch mit seiner Familie, ohne Bitterkeit erinnert: Er habe zu Weihnachten das Personal gefragt, ob er als Christ das Läuten der berühmten Gloriosa-Glocke hören dürfe. Der Wärter habe schroff abgelehnt, ihn aber nachts aus der Zelle geholt und auf den Freihof gebracht, wo er der Glocke lauschen konnte.
Nach genau einem Jahr Haft wurde Stumpf 1955 entlassen. Kurz darauf entschied er sich, in die Bundesrepublik zu flüchten. Durch seine Ausbildung bei Zeiss hatte er Kontakte nach Oberkochen in Baden-Württemberg, wo die Firma ein großes Werk betrieb. Richard Stumpfs Frau Elisabeth floh wenig später als Begleitperson ihres blinden Vaters zusammen mit den zwei Kindern gleichfalls in den Westen. 1991 wurde Richard Stumpf vom Bezirksgericht Erfurt rehabilitiert.