Über nur wenige Tage der deutschen Geschichte wurde so viel geredet, wie über den 17. Juni 1953, und über kaum einen anderen Tag wurde mehr geschwiegen und gelogen. Die DDR-Führung hat das für sie traumatische Ereignis aus der Erinnerung verbannt, und doch war es omnipräsent. Im Westen wurde der ostdeutsche Volksaufstand als arbeitsfreier Feiertag begangen, doch war seine historische Bedeutung fast vergessen.
Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des Volksaufstandes. Am Rednerpult der Regierende Bürgermeister Willy Brandt. © Foto: 70 Jahre DDR-Volksaufstand/AdsD/FES; 6/FOTB046255
Seit 1990 finden zu allen runden Jubiläen Veranstaltungen statt. Zwischen den Gedenktagen aber ist es still geworden um den 17. Juni. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich aus guten Gründen dem Alltag der DDR zugewandt. Es lohnt sich also, den Blick auf die Zeit unmittelbar nach dem Volksaufstand und auf die Alltagswirklichkeit des Jahres 1953 zu richten. Wie ging das Leben weiter, nachdem die sowjetischen Panzer von den Straßen verschwunden waren? Was erhofften sich die Menschen in Ostdeutschland und welche Folgerungen haben die Herrschenden aus der politischen und moralischen Katastrophe gezogen?
Die SED-Führung verfolgte nach dem 17. Juni eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite verbreitete sie die Behauptung, der Westen, insbesondere das Ost-Büro der SPD, hätte in der DDR einen „faschistischen Putschversuch“ initiiert. Auf der anderen Seite räumte sie seit der öffentlichen Bekanntmachung des Neuen Kurses Versäumnisse und Fehler ein.
Am 11. Oktober 1953 veröffentlichte die Berliner Zeitung unter der Überschrift „Unser Berlin voran im neuen Kurs“ eine Reihe von „Vorschlägen der Bezirksleitung Groß-Berlin der SED zur Durchführung des neuen Kurses im demokratischen Sektor“. In dem Aufruf heißt es: „Wenn wir so auf die Ergebnisse unserer Arbeit zurückblicken, können wir sagen: Wir haben vieles erreicht. Aber wollen wir ehrlich sein, sind wir deshalb schon zufrieden? Nein, denn mit unserer Arbeit, mit unseren Erfolgen sind auch unsere Bedürfnisse und Ansprüche gewachsen […]. Es genügt uns nicht mehr, nur ein Dach über dem Kopf zu haben, wir wollen schöne, sonnige Wohnungen. Wir wollen uns nicht nur sattessen. Wir wünschen gute und schmackhafte Lebensmittel in reicher Auswahl. Wir wollen nicht nur sauber gekleidet ein. Wir wünschen gute Kleidung, schöngemusterte Stoffe von gediegener Qualität. Wir wollen uns am Feierabend erholen bei schöner Musik und auch nach einem flotten Rhythmus das Tanzbein schwingen“ (Berliner Zeitung, 11.10.1953).
Das waren bemerkenswerte Einsichten. Die SED-Funktionäre hatten begriffen, dass man aufsässige Untertanen mit Gewalt zur Ruhe bringen kann – aber nicht alle und schon gar nicht dauerhaft. Auf diese simple Weisheit ließen sich die Maßnahmen reduzieren, die fortan unter dem Etikett „Politik des Neuen Kurses“ den staunenden Bürger*innen in zahlreichen Bereichen ihres alltäglichen Lebens offeriert wurden. „Machen wir den demokratischen Sektor Berlins zum Zentrum der guten deutschen Mode!“, kann man etwa im Katalog der Vorschläge lesen. „Hier hat unsere Konfektion eine große Aufgabe. Es sollte ein führendes Modehaus gegründet werden, das die besten, einfallsreichsten Modeschöpfer beschäftigt und eine geschmackvolle, kleidsame, für ganz Deutschland führende Mode entwickelt“ (Berliner Zeitung, 11.10.1953).
Die Behörden waren nun vor allem bemüht, die vielen kleinen Misshelligkeiten des sozialistischen Alltags zu beseitigen. Solange nicht nach den Ursachen der Missstände gefragt wurde, war Kritik erlaubt und sogar erwünscht. Durch Leserbriefe geriet vor allem jener Bereich des Alltags in die Kritik, über den sich wohl jeder fast täglich ärgerte – nämlich der Einzelhandel mit seinen ewigen Versorgungslücken, Schlangen, unhöflichem Verkaufspersonal oder überraschenden zusätzlichen Schließzeiten. Unter der Überschrift „Was sucht die Butter im Filmplakat?“ wurde beklagt, dass die Lebensmittelgeschäfte nicht mit Einwickelpapier ausgestattet waren. Eine Kundin schrieb an die Berliner Zeitung: „Kürzlich kaufte ich […] Butter, die mir in ein Plakat und ein Rechnungsformular eingewickelt wurde. Das hat mir gereicht. So etwas spricht doch jeder Hygiene Hohn“ (Berliner Zeitung, 27.11.1953). Eine andere Kundin beschwerte sich in derselben Ausgabe: „In der HO-Verkaufsstelle […] wird seit einiger Zeit Wurst in Seidenpapier eingewickelt. Natürlich fettet die Wurst durch und bleibt an dem Papier kleben. Kommt man nach Hause, ist alles ein Matsch.“ Bei einem Schlachter habe sogar ein Zettel im Schaufenster gehangen: „Bitte Zeitungspapier mitbringen“ (Berliner Zeitung, 11.10.1953).
Kritik und Selbstkritik waren gefragt, und auch die Kulturschaffenden aufgefordert, in diesem Sinne aktiv zu werden. Doch woher so schnell kritische Prosawerke oder Bühnenstücke nehmen, nachdem jahrelang alles unterdrückt worden war, was nur den Anschein einer eigenständigen Position erweckte? Da kam das Lustspiel „Shakespeare dringend gesucht“ von Heinar Kipphardt gerade im rechten Augenblick. Das Stück des jungen Chefdramaturgen des Deutschen Theaters Berlin handelt vom Stückeschreiben: Der Dramaturg eines Stadttheaters sitzt in seinem Büro und rauft sich die Haare angesichts der unbrauchbaren Manuskripte, die sich auf seinem Schreibtisch stapeln. Dann sprechen eine Reihe von Autoren vor. Angesichts der literarischen Konjunkturritter mit ihren in Dialoge gefassten Leitartikeln bekommt der Dramaturg einen Tobsuchtsanfall und schmeißt eines der jungen Talente samt Manuskript aus dem Theater. Doch es hat den Falschen erwischt: den Autor des einzigen brauchbaren Stücks. Als der Dramaturg dies begreift, ist es zu spät. Es beginnt eine turbulente Jagd nach dem „neuen Shakespeare“.
Hier durfte nun ausnahmsweise gelacht werden über Dogmatiker, Karrieristen und Bürokraten. „Drei Stunden lang ist des vernichtenden Lachens kein Ende“, schrieb ein Theaterkritiker im Neuen Deutschland. „Die aufgeblasenen Pfuscher, die sich spreizenden Dilettanten, die Handelsreisenden in Zeitgeist, all die üblen Bürokraten unserer guten Sache werden zerrupft und zerrissen, verprügelt und blamiert […]. Kipphardts Stück kommt zur rechten Stunde […]. Es wird mithelfen, eine erneuerte Atmosphäre zu schaffen, in der die Münder sich auftun und die Herzen sich erschließen, eine Atmosphäre mutiger Kritik und Selbstkritik, vor der nichts Morsches, Hemmendes, Zukunftsfeindliches mehr besteht“ (Neues Deutschland, 3.7.1953).
Doch natürlich saßen die „aufgeblasenen Pfuscher und sich spreizenden Dilettanten“, die der Rezensent so fröhlich gegeißelt hatte, langfristig am längeren Hebel. Heinar Kipphardt ging 1958 nach Düsseldorf und wurde im Westen mit seinen Dokumentarstücken zum Wegbereiter des politischen Theaters der 1960er Jahre.
In den Augen der Staatsmacht hatte der 17. Juni mythische Dimensionen angenommen. Als der erste Jahrestag nahte, wurde vom Staatssekretär für Staatssicherheit die „Aktion Bollwerk“ in die Wege geleitet. In der entsprechenden Dienstanweisung heißt es: „Nach bisher vorliegenden Informationen bereitet der Gegner neue Provokationen und Störversuche mit der Absicht vor, auch am 17. Juni 1954 Unruhen zu erzeugen. Das wird von den gleichen Hintermännern des faschistischen Putschversuches geplant. […] Das Ostbüro der SPD/DGB ist dabei, Provokationen am 17. Juni 1954 vorzubereiten“ (BStU, ZA, Dienstanweisung 35/54 vom 28.5.1954, Allg. Serie 175/56, Bd. 1, Bl. 33– 41; Zitat Bl. 33). Fast möchte man sagen, zu viel der Ehre: Weder die SPD noch der DGB waren willens oder in der Lage, in der DDR einen neuen Volksaufstand zu organisieren.
Vielmehr wurde die SED-Führung Opfer ihrer eigenen Propaganda. Es war ihr noch gut in Erinnerung, dass die Idee zum Streik der Bauarbeiter auf der Stalin-Allee zum ersten Mal während einer Dampferfahrt am Wochenende zuvor öffentlich ausgesprochen wurde. Seitdem waren betriebliche Dampferfahrten im Sicherheitsdenken der Stasi stets ein neuralgischer Punkt. Angesichts des Herannahens des gefährlichen Datums im Frühsommer 1956 fertigte die Staatssicherheit Listen über alle Betriebskollektive an, die am Sonntag, dem 17. Juni, Dampferfahrten gebucht hatten. So konnte Erich Mielke bereits am 14. Juni 1956 erfahren, dass die 120 Mitarbeiter der Trabrennbahn Karlshorst den Plan gefasst hatten, am Sonntag mit dem Fahrgastschiff „La Paloma“ ins Grüne zu fahren. Der Kammerchor Treptow hatte die Absicht, das Wochenende für einen Ausflug nach Alt-Buchhorst zu nutzen, und die katholische Pfarrgemeinde Buch hatte zum gleichen Termin das Motorschiff „Delphin“ gechartert, um der beliebten „Gaststätte Ziegenhals“ einen Besuch abzustatten. Folglich schwärmten die Mitarbeiter der Staatssicherheit am Sonntag aus, um die Biergärten der Berliner Umgebung „operativ abzusichern“.
Die Grundmuster zur Ausübung politischer Macht, welche die DDR bis zu ihrem Ende begleiten sollten, wurden durch die Zeit nach dem 17. Juni geprägt: die Propaganda, die für alle Schwierigkeiten des Sozialismus den Westen verantwortlich machte, ebenso wie das Streben nach totaler Überwachung und Unterdrückung. Auf der anderen Seite stand der Versuch, die Konsumwünsche der Menschen zu befriedigen, um sie politisch ruhig zu stellen. Für die gesamte DDR-Geschichte ist zudem der Wechsel zwischen „Leine lassen“ und „Leine anziehen“ typisch. Der ehrliche Glaube vieler Menschen, dass in letzter Konsequenz der Sozialismus die bessere Gesellschaftsordnung sei, wurde so zynisch missbraucht. Heinar Kipphardt gingen auf dem Weg in die Resignation viele voraus, und viele weitere folgten ihm.
Vor allem aber fiel der Staatsmacht in Krisenmomenten nichts anderes ein, als die Repression zu verstärken. Dabei spielte die Erinnerung an den 17. Juni 1953 eine zentrale Rolle. Am 8. Oktober 1989 ging bei der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in Leipzig ein Fernschreiben des Genossen Minister Mielke ein. Es enthielt Verhaltensmaßregeln für die zu erwartenden „feindlich-negativen Handlungen und Aktivitäten“ (BStU, ZA, DSt 103625; Fernschreiben Erich Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten des MfS vom 8.10.1989). Am nächsten Morgen fand in der Leipziger Stasi-Zentrale eine Dienstberatung zwecks Auswertung des Fernschreibens statt. Einer der MfS-Offiziere notierte in sein Arbeitsbuch: „Lageverschärfung durch Zusammenrottung/Störung staatlicher und öffentlicher Ordnung. Verhinderung eines 17. Juni. Behauptung der Macht. Alle zu lösenden Aufgaben sind dieser Hauptaufgabe unterzuordnen [...]. Waffenträger – Waffe am Mann“ (BStU, BV Leipzig, MfS, HA XX, Arbeitsbuch Nr. 1077. Bl. 54ff.).
Die Herrschenden der DDR hatten in den rund drei Jahrzehnten seit dem Juni-Aufstand nichts vergessen und wenig dazugelernt. Es war die Sowjetführung unter Gorbatschow, die verhinderte, dass der 9. Oktober 1989 in Leipzig in Gewalt endete. Denn die Welt hatte sich gründlich gewandelt und für die Menschen in der DDR öffnete sich nun ein „Fenster der Möglichkeiten“, das SED-Regime friedlich zu beseitigen.
Doch wie vermittelt man heute jungen Menschen die Aktualität des Volksaufstandes von 1953? Kaum durch Festreden und feierliche Worte, sondern eher durch eine Einbettung der Ereignisse und handelnden Personen in die konkrete Lebensrealität der 1950er Jahre. Nur wenn die Geschichtsforschung den unbekannten Helden des Alltags ein Gesicht gibt, erzeugt man Verständnis für die Menschen, die heute unter Einsatz ihres Lebens im Iran für Menschenrechte und bessere Lebensbedingungen kämpfen, oder die in der Ukraine ihre Freiheit gegen die russischen Herrschaftsansprüche verteidigen. Der Blick auf die Folgen des 17. Juni 1953 ermöglicht zu zeigen, wie die Staatsmacht und die Bevölkerung mit einer Situation umgegangen sind, in der die Unterdrücker die Oberhand gewinnen: Die Menschen fliehen, sofern es möglich ist, sie richten sich ein und sie setzen auf allmählichen Wandel. Je fester aber die Macht gefügt scheint, desto brüchiger wird sie. Auch dies lehren die drei Jahrzehnte DDR-Geschichte, die auf den 17. Juni 1953 folgten.
Literatur
Beier, Gerhard: Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran, Frankfurt am Main/Wien 1993.
Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003.
Kowalczuk, Ilko-Sascha/Engelmann, Roger (Hrsg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953, Göttingen 2005.
Wolle, Stefan: Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR (1949–1961), Berlin 2013.