(Übersetzung aus dem Englischen: Steffen Beilich, Sprachwerkstatt Berlin)
Die Serious-Game-App „Train to Sachsenhausen“ thematisiert Ereignisse rund um die Schließung tschechischer Universitäten im Protektorat Böhmen und Mähren im Jahr 1939. Sie ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen der tschechischen NGO Živá paměť o.p.s und dem renommierten Spieleentwickler Charles Games. Das Unternehmen Charles Games ist eine Ausgründung der Prager Karls-Universität. Živá paměť leistet Präventionsarbeit gegen Rassismus und Antisemitismus, pflegt und bewahrt aber auch das kollektive Gedächtnis an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Zusammenarbeit beruht auf der Erfahrung, dass digitale Werkzeuge ein wirkungsvolles Mittel sein können, historische Ereignisse an ein junges Publikum zu vermitteln – eine Leistung, die herkömmliche Unterrichtsformate der Schule oftmals nicht erreichen.
Das Designteam von Charles Games hat bereits zwei preisgekrönte Lernspiele zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs entwickelt: die Serious Games „Attentat 1942“ und „Svoboda 1945: Befreiung“. Die Vorgeschichte von Besatzung und Befreiung eignete sich also ideal für ein neues Projekt. Die App „Train to Sachsenhausen“ greift historische Ereignisse im Zuge der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland auf: die Schließung der Universitäten im neu installierten Protektorat Böhmen und Mähren 1939 – die „Sonderaktion Prag“ –, die auf die Zerstörung zentraler Teile des tschechischen Bildungssystems zielte. Viele Universitäten blieben bis 1945 geschlossen.
Das Thema passt gut zu den Interessen und Lehrplänen von jungen Menschen im Schul- und Hochschulalter in Tschechien, aber auch darüber hinaus, gehörten doch die Studierendenproteste gegen die Schließung der Universitäten zu den wenigen Widerstandsaktionen im Protektorat. Der Tod des Studentenführers Jan Opletal, der zu den Organisatoren der Proteste gehörte, war für viele junge Tschech:innen (vor allem Männer) der Auslöser, Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten. Tausende protestierender Studierender wurden verhaftet und etliche in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, wo einige ihrer Anführer ohne Gerichtsverfahren hingerichtet wurden.
Die App richtet sich in erster Linie an Jugendliche. Aussehen wie Handhabung sind einfach und ansprechend, wobei das Spiel in jeder Runde nur wenige Minuten dauert. Die App folgt der Geschichte eines tschechischen Studenten, der sich an den Protesten gegen die Schließung der Universitäten beteiligt. Der Aufbau im „Wähle-dein-eigenes-Abenteuer“-Stil ermutigt die Spieler:innen, das Spiel immer wieder zu spielen und jedes Mal die Folgen ihrer unterschiedlichen Entscheidungen auszutesten, d.h., in die Rolle historischer Figuren zu schlüpfen und die Auswirkungen „mutigen“ Verhaltens oder eher „sicherer“ Optionen zu erkunden. So können junge Menschen die Tragweite bestimmter Entscheidungen ermessen, die ihre Altersgenoss:innen im Böhmen und Mähren der 1930er Jahre zu treffen hatten. Und die Spielenden können unter Umständen in einem Zug nach Sachsenhausen deportiert werden – wie es bereits der Name des Serious Games nahelegt.
Das gemeinsam mit Historiker:innen konzipierte Museum der App, das die Epoche mit schriftlichen Zeugnissen, Bild- und Tondokumenten lebendig werden lässt, liefert Hintergrundinformationen für die eigenen Entscheidungen. Hier können die Spieler:innen auf unterschiedliche Quellen zugreifen, die helfen, zentrale Elemente des Spiels zu verstehen. Das sind etwa Verwaltungsdokumente, Selbstzeugnisse von Überlebenden des KZ Sachsenhausen, Zeitungsartikel und Berichte, die bei der Einbettung in den historischen Kontext hilfreich sind.
Die App gibt es in drei Sprachversionen: Tschechisch, Englisch und Deutsch, sie ist in den üblichen App-Stores und auf der Projektwebsite kostenlos verfügbar. Sie kann in der Freizeit, aber auch als Lernmittel im Geschichts- und Sozialkundeunterricht an Sekundarschulen eingesetzt werden. Dazu finden Lehrkräfte auf der Website eine didaktische Handreichung (auf Tschechisch und Deutsch). Um sicherzustellen, dass Inhalte und Gestaltung die jugendliche Zielgruppe ansprechen, wurde das Spiel im Vorfeld mit Schüler:innen tschechischer Sekundarschulen getestet.
Das Spiel wird international sehr positiv rezipiert. Seit dem offiziellen Start der App im März 2022 sind über 120 Artikel und mehrere Fernsehberichte erschienen. Außerdem hat das Spiel durch Preisverleihungen international viel Anerkennung erhalten, so etwa beim BIG Festival in Brasilien, wo es in der Kategorie Best Social Matters Game ausgezeichnet wurde. Vor allem aber konnten bis heute (Stand Dezember 2022) mit knapp über 15.000 Downloads die Erwartungen übertroffen werden.
Insgesamt kann die App dazu beitragen, die Vermittlung der NS-Geschichte so zu gestalten, dass sie für junge Menschen heute leichter nachzuempfinden ist. Dabei spielt auch die Einbindung von Zeitzeug:innen eine Rolle. Die tschechische Schülerin Kristínka Luxová etwa äußerte sich über die App: „Es war eine sehr gute Entscheidung, Zeitzeugen in das Spiel einzubinden, denn sie tragen dazu bei, dass wir erfahren, wie die Dinge tatsächlich waren, und das sind dann nicht nur Informationen aus dem Internet. Ich habe neue, interessante Informationen über die Ereignisse des Jahres 1939 entdeckt und war angenehm überrascht, dass ich das Spiel immer wieder spielen und so erleben konnte, wie sich meine Entscheidungen auswirken: wie das Spiel dieses Mal endete."
Projektname: Train to Sachsenhausen
Homepage: https://traintosachsenhausen.com/
Projektträger:
Živá paměť o.p.s., Prag
Charles Games, Prag
Materialien:
Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=9CSzVbPb0GY