Seit 2017/18 erhebt der Multidimensionale Erinnerungsmonitor MEMO, durchgeführt vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, in repräsentativen Befragungen im Bevölkerungsquerschnitt jährlich prägende Einstellungen und Wissensstände zum Nationalsozialismus in der deutschen Bevölkerung. Damit dokumentiert der Monitor empiriebasiert auch den Stand der Erinnerungskultur in Deutschland.
Die MEMO-V-Studie aus dem Jahr 2022 hat wichtige neue Aspekte zutage gefördert. So wurde erstmals auch die deutsche Erinnerungskultur in ihren europäischen Kontexten abgefragt. Dabei zeigt sich, dass die deutsche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nach wie vor westeuropäisch zentriert ist. Am häufigsten mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht werden – abgesehen von Deutschland – Frankreich (75 %), Polen (60 %) und Großbritannien (41 %). Fast vollständig aus dem Bewusstsein der Deutschen verschwunden ist die Sowjetunion (8 %), als deren einziger Nachfolgestaat Russland (36 %) genannt wird. Völlig ausgeblendet werden somit die Ukraine und Belarus, Hauptleidtragende des Krieges, aber auch andere Kriegsschauplätze wie das Baltikum, der Balkan oder Griechenland. Zudem werden die europäischen Dimensionen in der Erinnerung der Deutschen zuvorderst mit „klassischen“ militärischen Kriegsereignissen im Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht, weniger mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Und (auch) im europäischen Kontext zentriert sich die Erinnerung an Weltkrieg und Holocaust auf wenige emblematische Orte, wie das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
In der Erinnerung der Deutschen bleiben nicht nur zentrale Aspekte des Vernichtungskriegs im Osten – Partisanenbekämpfung, Hunger als Kriegswaffe, die menschenunwürdige Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener, die Politik der verbrannten Erde und die millionenfache Verschleppung zur Zwangsarbeit – unbeachtet, sondern ebenso ganz zentrale Aspekte des nationalsozialistischen Völkermords: Im Holocaust by bullets wurden in den besetzten Gebieten im Osten Millionen europäischer Jüdinnen:Juden nicht vergast, sondern erschossen – die Mehrzahl von ihnen polnische oder sowjetische Staatsangehörige.
Mit den geografischen Leerstellen der deutschen Erinnerungskultur einher gehen Leerstellen bezüglich vieler Opfer- und Verfolgtengruppen. Bereits MEMO IV zeigte 2021 große Wissenslücken zum Phänomen der NS-Zwangsarbeit auf. MEMO V hat insbesondere die Erinnerung an den Völkermord an den europäischen Sinti:ze und Rom:nja durchleuchtet. Unabhängig vom individuellen Kenntnisstand zum Nationalsozialismus oder der bereits erfolgten Auseinandersetzung mit dem Völkermord an Sinti:ze und Rom:nja können sieben von zehn Befragten keinen Ort benennen, der daran erinnert. Sehr wahrscheinlich sind diese gravierenden Wissenslücken auf die nach 1945 noch jahrzehntelang fortdauernde Marginalisierung und Diskriminierung von Sinti:ze und Rom:nja zurückzuführen. Diese wird jedoch selbst von denjenigen Befragten seltener anerkannt, die sich vor dem Hintergrund der NS-Geschichte grundsätzlich zu einer „besonderen Verantwortung“ gegenüber Sinti:ze und Rom:nja bekennen.
Die Vermittlung von Faktenwissen über den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bleibt eine wichtige Bildungsaufgabe. Gelingen kann sie insbesondere dann, wenn sie in Kontexte partizipativer, kreativer oder künstlerischer Aneignungsformen eingebettet ist und im Sinne eines multiperspektivischen Erinnerns alle Opfer- und Verfolgtengruppen des Nationalsozialismus in den Blick nimmt. Denn was die MEMO-Studie auch attestiert: Das Interesse an und das Bewusstsein um die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist bei Jüngeren (16–30-Jährige) ungebrochen hoch. Insbesondere für junge Menschen in Deutschland hat die wahrgenommene Relevanz der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in den letzten Jahren sogar noch zugenommen, wie die Vorabergebnisse der MEMO-Jugendstudie 2023 zeigen.