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Teilnehmer*innen: Andrea Genest, Elke Gryglewski, Jonas Kühne, Norbert Reichling, Heidemarie Uhl
Moderation: Ingolf Seidel
Moderation: Gibt es ein persönliches Erlebnis, das Du/Sie mit der Geschichte der Gedenkstätten verbindest/verbinden?
Norbert Reichling: Eine (berufs-)biografisch einschneidende Gedenkstättenerfahrung war für mich eine DDR-Fachexkursion zum Thema „Antifaschismus“ im turbulenten November 1989: Geplant war damals ein paritätischer Austausch zwischen BRD und DDR in exemplarischen Institutionen Dresdens, und wir „west-linken“ Erwachsenenbildner*innen trafen überall auf einstürzende Ausstellungen, Institutionen und Gewissheiten – die hellen Flecken wegen der soeben entfernten Honecker-Porträts, eben noch als Höhepunkt des Antifaschismus gezeigt, sind keine Metapher, sondern reale Bilder dieser Tage.
Wiewohl nie DDR-affin, warfen mich und uns diese Eindrücke in eine langanhaltende Auseinandersetzung mit den Tücken und Abgründen dieser DDR-Vergangenheitsbewältigung. Gesteigert wurde dieser Eindruck noch durch einen Buchenwald-Besuch auf dem Rückweg, in dessen Rahmen „ehrlich erschütterte“ Kolleginnen und Kollegen dieser „Leitinstitution“ recht offen Auskunft über ihre eigenen Zweifel, ihre neuen Forschungsansätze der 1980er Jahre und die Hindernisse für Umbauten gaben.
Das war für mich der Start für mehr als 20 Jahre Befassung mit dem Umbau und der Historizität von Gedenkorten, für Erkundungen und Fortbildungen vor allem (aber nicht nur) im Osten, auch mit den multiplen Funktionszuschreibungen. Angesichts der damaligen „Exotik“ der Ost-Erfahrungen waren langjährige Gesprächspartner*innen wie Harry Stein oder Annette Leo dabei unentbehrlich. Und einen vergleichenden Blick auf beide deutsche Nachkriegsentwicklungen und deren Defizite, Phasen, „Lernschritte“ halte ich immer noch für notwendig.
Elke Gryglewski: Das ist kein „einfacher“ Einstieg – zeigt er doch, wie unterschiedlich persönliche „einschneidende Gedenkstättenerfahrungen“ sein können. Die von Norbert Reichling beschriebene Zeit habe ich in Dachau erlebt und so war der Mauerfall ein Thema aus der Ferne, eines, das wie eine Bedrohung wirken konnte. Sehr schnell wurden nämlich damals die Rufe laut, man habe sich nun genug mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt, es sei Zeit, sich mit der SED-Diktatur (im Sprachgebrauch oft „zweite deutsche Diktatur“ genannt) auseinanderzusetzen.
In einer Region, in der damals immer noch die Auseinandersetzung mit der Geschichte Dachaus zivilgesellschaftlich erkämpft werden musste, schien diese Forderung absurd und wirkte wie eine Konkurrenz. Heute sind wir viel weiter, wissen, dass es natürlich auch eine Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur geben muss, weil die Gesamtheit der Nachgeschichte des Nationalsozialismus nur unter Berücksichtigung der Wechselbeziehungen zwischen Bundesrepublik und DDR verstanden werden kann. Vielleicht ist es das, was ich aus dem Einstieg von Norbert Reichling und meiner Assoziation mitnehme: Dass es Parallelitäten zum Umgang mit anderen gewaltbelasteten Vergangenheiten gibt. Es also immer produktiv ist zu schauen, inwiefern sie jeweils spezifisch das Verständnis für den Umgang mit der uns am meisten beschäftigenden Vergangenheit – dem Nationalsozialismus und seiner Nachgeschichte – inhaltlich ergänzen und bereichern kann.
Norbert Reichling: Ich sehe eine gemeinsame Frage in den beiden sehr unterschiedlichen Blitzlichtern von Elke Gryglewski und mir – nämlich:
Wie weit können und sollen wir die „Vorgeschichte“ des heute an den Gedenkorten Sichtbaren in die Vermittlungsarbeit einbeziehen, ohne zu akademisch-sophisticated zu werden?
Meine These dazu wäre: Die Vorgeschichte ist an einem Ausschnitt – einem Gebäude, einem Exponat, einer exemplarischen Ausstellungstafel, einem Filmausschnitt o.ä. – durchaus auf verschiedenen Abstraktionsniveaus darstellbar. Und die zivilgesellschaftliche Wurzel fast aller Institutionen gehört da auch für mich zu den Essentials. Die von Elke Gryglewski angesprochenen realen (und auch die eingebildeten) Erinnerungskonkurrenzen sind natürlich ein besonders komplexes Thema, weil sie Kenntnisse über beide Nachkriegsgeschichten und deren Phasen voraussetzen.
Andrea Genest: Wie gut zu lesen, dass wir gleich ein wenig über den Tellerrand schauen. Ich gehe einen Schritt weiter in den Osten, nach Polen, wo ich 1991-1993 zunächst im Rahmen eines Freiwilligen Friedensdienstes mit Aktion Sühnezeichen in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte tätig war und anschließend als Mitarbeiterin in die Gedenkstätte Auschwitz wechselte.
Diese Zeit war gesellschaftlich geprägt von einer ersten Ernüchterung, die der Euphorie des politischen Umbruchs von 1989 folgte, aber auch von mannigfaltigen Konflikten, in denen sich die Gedenkstätte Auschwitz plötzlich wiederfand: Der Konflikt um das Kreuz am Theatergebäude, den Bau eines Supermarktes gegenüber der Gedenkstätte oder auch der Versuch, den Film „Schindlers Liste“ auf dem historischen Gelände von Auschwitz-Birkenau zu drehen. Plötzlich „konnte“ man nach Ost- und Ostmitteleuropa fahren, die Archive aufsuchen, die Stätten bereisen. Die Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte waren mit Diskursen und Überzeugungen konfrontiert, in die sie bislang wenig eingebunden waren – nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus den USA und Israel. Ich erinnere diese frühen 1990er-Jahre als eine Zeit, in der neben ersten durchaus konstruktiven Auseinandersetzungen über historische Einschätzungen, die Wahl von Begrifflichkeiten oder eine Reflexion der Bildungsarbeit, aber durchaus auch Stereotypen zum Vorschein kamen und eine breit getragene Unkenntnis über die im Osten liegenden Länder. Damit hatten gerade internationale Projekte immer einen doppelten Anspruch: den des einander Verstehens und den der gemeinsamen Annäherung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Dass dieser Dialog nicht immer gleichberechtigt war, gehört zu den schmerzhaften Erfahrungen aus dieser Zeit, und wahrscheinlich hatte dies auch Folgen. Für mich selbst ergibt sich daraus, auch danach fragen zu wollen, vor welchem kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Hintergrund meine Diskussionspartner*innen sprechen. Manchmal denke ich, wir sollten wieder an die Dialogbemühungen der 1990er Jahre anknüpfen.
Moderation: Eine Frage an Frau Uhl. Welche gesellschaftsgeschichtliche Relevanz hat ‚Gedenkstättengeschichte‘? Wie gestaltet sich ihr Verhältnis zur Geschichte der historischen Orte ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrationslager?
Heidemarie Uhl: Ich freue mich, als Historikerin, die sich zum einen mit der Geschichte von Gedenkstätten auseinandergesetzt hat, zum anderen in entsprechenden Beratungsgremien in Österreich und Deutschland tätig war und ist, an diesem Austausch teilzunehmen und zudem die österreichische Perspektive einbringen zu können. Was mir aus den Antworten zur Einstiegsfrage nach den persönlichen Erfahrungen mit Gedenkstättengeschichte erneut klar geworden ist: die Bedeutung des Jahres 1989 als Schlüsselereignis für Erneuerung der Gedenkstätten. Mit der Notwendigkeit der Umgestaltung der DDR-Mahn- und Gedenkstätten wurde auch der Reformbedarf der bundesdeutschen Gedenkstätten erkennbar, mit der Gedenkstättenkonzeption des Bundes 2008 wurde der staatliche Auftrag an die Gedenkstätten explizit festgeschrieben. Diese Dynamik hat sich auch auf Österreich ausgewirkt: Das Argument, dass praktisch alle ‚alten‘ Gedenkstätten in der Bundesrepublik einer grundlegenden Neugestaltung unterzogen wurden, hat auch der Neukonzeption der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (2009–2013) den entscheidenden Schub verliehen.
Die Transformation der Gedenkstätten bezieht sich aber nicht nur auf die Auswirkungen von 1989. In den Jahrzehnten seit 1945 haben sich Selbstverständnis und gesellschaftliche Relevanz in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich – den drei Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ – mehrfach gewandelt, insofern sind Gedenkstätten auch Indikatoren für die Veränderungen von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur einer Gesellschaft. Gerade deswegen hat die Gedenkstättenforschung so große Bedeutung erlangt – sie zeigt am Beispiel der jeweiligen Institution, wie sich ihre Sinnstiftungen für die Gegenwart, aber auch die Darstellungen der Geschichte des Ortes verändert haben – von den heroisch-pathetischen Widerstands-Narrativen der Nachkriegsjahrzehnte zu den vielschichtigen, auf die konkrete Geschichte des Ortes fokussierten Geschichtsdarstellungen, die die heutigen Ausstellungen zeigen.
Die Geschichte der Orte des NS-Terrors und die Gedenkstättengeschichte lassen sich nicht trennen – denn immer sind es die Perspektiven der Gegenwart, die den Blick auf die Vergangenheit leiten, wie uns die Gedächtnistheorie lehrt. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied zur Nachkriegssituation: Heute liegen umfassende Forschungsarbeiten zur Geschichte der Konzentrationslager und anderer NS-Terrororte vor. Dabei werden auch bislang in den Gedenkstätten zumeist ausgeblendete Themen sichtbar gemacht – die Täter*innen, die Relevanz des Lagers als ökonomischer Faktor für das Umland, aber auch ambivalente Aspekte, die eine Herausforderung für Gedenkstätten als „Lernorte“ sind – etwa die Hierarchien in der Lagergesellschaft oder die Lagerbordelle. Diese „Grauzonen“ verweisen zugleich auf die Besonderheit der KZ-Gedenkstätten – im Unterschied zu Memorial Museums und ortsungebundenen Ausstellungen: Die Präsenz der historischen Überreste interveniert in vereinfachte Schwarz-Weiß-Bilder. In der KZ-Gedenkstätte Mauthausen wird zum Beispiel diskutiert, ob man die Bordellbaracke in Führungen integrieren kann bzw. soll. Hier zeigt sich eine weitere Herausforderung im Spannungsfeld zwischen KZ-Forschung und heutigen Vermittlungsansätzen: Wird durch die Fokussierung auf die Komplexität der Lagergesellschaft vom perfiden Terrorsystem der Täter abgelenkt, die dafür die Verantwortung trugen?
Moderation: Wie hat sich das Verhältnis von Gedenkstätten seit ihrem Bestand zu Gesellschaft und Staat entwickelt? Sind die ehemaligen „Barfußhistoriker*innen“ heute so etwas wie „Wächter*innen“ über das, was gemeinhin unter Erinnerungskultur verstanden wird? Welche Räume gibt es heute für bürgerschaftliche Projekte an Gedenkstätten? Inwiefern sind lokale Initiativen an aktuellen Debatten um Erinnerungskultur beteiligt?
Elke Gryglewski: Vor meinem Dienstbeginn in der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten hätte ich aus der Perspektive einer institutionell geförderten Einrichtung, der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, geantwortet, die über die Gedenkstättenkonzeption zusätzliche Projekte wie beispielweise eine neue Dauerausstellung beantragt und finanziert hat. Es wäre dann unter Umständen eher eine Antwort geworden, die den Blick der „Wächter*innen“ stärker in den Fokus gerückt hätte, wobei der Begriff ganz unterschiedliche Konnotationen hat – u.a. die eines Korrektivs zur staatlichen Erinnerungspolitik.
In einem Flächenland wie Niedersachsen mit zahlreichen überwiegend zivilgesellschaftlich getragenen Gedenkstätten und -initiativen sieht es anders aus. Hier haben sogenannte Barfußhistoriker*innen – auch wenn sie sich heute nicht mehr so nennen – nicht an Bedeutung verloren. Ohne sie wäre Erinnerungsarbeit in der Fläche nicht denkbar und nicht machbar. Rückblickend sehe ich es als eigenen blinden Fleck, sie nicht stärker berücksichtigt zu haben. Und als Privileg, es heute tun zu dürfen bzw. eng mit ihnen zusammenzuarbeiten. Die Frage stellt sich, wie ihre Arbeit besser finanziell gefördert werden kann, damit sie nachhaltig wirkt und nicht an einzelne Personen gebunden ist. Wollen wir das NS-System in seiner Gesamtheit nachvollziehen, müssen wir auch die regionalen und lokalen historischen Orte im Blick haben.
Jonas Kühne: Zu der Eingangsfrage habe ich mich etwas zurückgehalten, weil ich erst Mitte der 2000er-Jahre zum ersten Mal mit Gedenkstättenarbeit in Berührung gekommen bin. Dazu passt die Frage zum Verhältnis von zivilgesellschaftlich getragenen Erinnerungsinitiativen zu professioneller Gedenkstättenarbeit – und der breiten Grauzone dazwischen. Ich kam 2005 frisch von der Schule ins aufregende Nordhausen, um dort ein Freiwilliges Jahr an der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora zu machen. Zu diesem Zeitpunkt war die zuvor kommunal getragene Einrichtung in die Stiftung Buchenwald überführt worden und hatte gerade erst kurze Zeit vorher ihr neues Gebäude erhalten. Die Professionalisierung durch die Bundesmittel war an allen Ecken spürbar.
Mit einem kleinen Bereich in einem Büro der pädagogischen Abteilung konnte der Verein "Jugend für Dora" ebenfalls seine Arbeit fortsetzen: das jährliche Summer Camp und die Betreuung von Überlebenden an den Jahrestagen. Inhaltlich lag der Fokus des Vereins zum Beispiel darin, auf das verzweigte Außenlagernetz des KZ Mittelbau hinzuweisen und mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen Diskussionen in den Kleinstädten und Dörfern anzuregen. Das Verhältnis zur großen Gedenkstätte war dabei nicht immer konfliktfrei: Manchmal wurde der Verein belächelt und ignoriert, manchmal mit vollem Herzen unterstützt. Gerade an Jahrestagen waren die Mitglieder von „Jugend für Dora“ die gern vorgezeigten "deutschen Jugendlichen", die aus der Geschichte gelernt hätten; entsprach das doch der noch relativ neuen Staatsräson aus der „negativen Erinnerung“ eine positive Identität zu bauen. Doch der Eigensinn des Vereins war häufig genug ein Störfaktor und Herausforderung für den professionalisierten Gedenkstättenablauf. Viele Mitglieder hatten und haben ihre Schwierigkeiten, zu offiziellen Anlässen für ein vermeintlich „geläutertes Deutschland“ zu stehen. Die Motivation lag meistens in einer gegenteiligen Alltagserfahrung: der weitgehenden gesellschaftlichen Verantwortungslosigkeit gegenüber der lokalen oder familiären NS-Geschichte.
Ich denke, dass sich solche Konstellationen in unterschiedlicher Intensität überall in der Bundesrepublik wiederfinden und eine generelle Diskrepanz zwischen staatlicher und zivilgesellschaftlich getragener Erinnerungsarbeit ausmacht. Ohne die Wühlarbeit hunderter zivilgesellschaftlicher Initiativen und Einzelpersonen wüssten wir weitaus weniger über die Verbrechen des NS-Regimes auf lokaler Ebene. Viele professionelle Gedenkstätten gäbe es überhaupt nicht und mussten oft genug gegen staatliche und politische Entscheidungsträger*innen durchgesetzt werden. Gleichzeitig übernimmt der deutsche Staat mit der Förderung von Gedenkstätten Verantwortung und ermöglicht eine professionelle Forschungs- und Bildungsarbeit, die von der Zivilgesellschaft niemals so getragen werden könnte. Meine Arbeit als Referent bei der sächsischen LAG (Landesarbeitsgemeinschaft) besteht letztlich darin, beide Sphären wieder mehr miteinander ins Gespräch zu bringen, Gemeinsamkeiten auszuloten und Synergien zu schaffen. Umso mehr freut es mich, dass es in Niedersachsen eine stärkere gegenseitige Wahrnehmung und hoffentlich auch Wertschätzung gibt. Eine ähnliche Entwicklung nehme ich in Sachsen auch wahr.
Norbert Reichling: Elke Gryglewskis Befund zum Flächenland Niedersachsen will ich nur kurz aus nordrhein-westfälischer Sicht unterstreichen:
Inzwischen sind 20 der ca. 30 „arbeitenden Gedenkstätten“ in kommunaler Trägerschaft. Doch sind immer noch viele Orte in Vereinsträgerschaft, und es entstehen weiter neue Initiativen „von unten“. Es gibt auch den etwas überstürzten politischen Versuch, einen der kleinen und eher vergessenen Orte (Stukenbrock) in kürzester Zeit zur „Gedenkstätte von nationaler Bedeutung“ aufzublasen – übrigens unter Beiseiteschieben des langjährigen Trägervereins.
Wir (jetzt spreche ich zur Abwechslung als freiwillig Engagierter, nicht mehr als Bildungsarbeiter) haben inzwischen gelernt, uns diese Dezentralität nicht als Defizit vorhalten zu lassen, sondern als arbeitsteiliges Netzwerk tatsächlich unterschiedliche Facetten des NS-Regimes und seiner Opfergruppen zu thematisieren. Manchmal sind bei den vereinsgetragenen Gedenkorten noch die „alten Kämpen“ (ich gendere hier bewusst nicht) der 1980er-Jahre im Spiel, andernorts gelang eine Verjüngung der Vereine und Initiativen. Eine nennenswerte Landesförderung gibt es in Nordrhein-Westfalen erst seit 2013, und auch die meisten der halbwegs konsolidierten Institutionen sind froh, Fördervereine als „Spielbein“ an ihrer Seite zu wissen.
Zum Akzent von Jonas Kühne: Der Spagat zwischen unseren Selbstverständnissen und geschichtspolitischen Interessen bleibt wohl, auch wenn Politiker*innen-Generationen wechseln, und ist nur gelegentlich zu überbrücken. Die inzwischen entstandene politische Wertschätzung der Gedenkorte gründet leider auch auf dem „Gedenkstolz“ und auf einer „Standortfaktor“-Perspektive.
Moderation: Sollte die Erforschung von Gedenkstättengeschichte(n) ein eigenes Thema der Gedenkstättenarbeit sein? Welches Vermittlungspotential liegt in der Thematik?
Elke Gryglewski: Meiner Meinung nach sollte(n) die Gedenkstättengeschichte(n) unbedingt ein eigenes Thema in der Gedenkstättenarbeit sein – bilden sie doch direkt oder indirekt, sich abgrenzend oder etwas selbst spiegelnd, erinnerungspolitische Fragen und Narrative ab.
Dass beispielsweise viele Ausstellungen in Gedenkstätten jahrzehntelang mit der Befreiungsgeschichte z.B. eines Konzentrationslagers endeten, deckte sich mit dem Diskurs, der die Nachkriegsgeschichte (mit seinen ideologischen, personellen, institutionellen und strukturellen Kontinuitätslinien) ausblendete. Auch konnte man in Gedenkstätten staatliche Erinnerungspolitik erkennen – nicht nur in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR. Auch die jahrzehntelange starke Fokussierung auf die Opfer, ohne Täterschaft explizit und ausreichend aufzugreifen, entsprach dem gesellschaftlichen Diskurs.
Um ein letztes Beispiel zu nehmen: Geographische Perspektiverweiterungen oder das Aufzeigen von Verflechtungsgeschichten bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus spielten weder in der Gesellschaft noch in den Gedenkstätten eine Rolle – und damit waren Gedenkstätten auch Akteur*innen in der Konstruktion einer Differenz zwischen Menschen in der Gesellschaft, die vermeintlich näher an der Geschichte sind (und damit vermeintlich zwangsläufig ein größeres Interesse haben) und denjenigen, denen ein Bezug quasi von vorneherein abgesprochen wurde. Eine wissenschaftlich fundierte, sachliche Auseinandersetzung mit diesen Themen durch Ausstellungen oder Bildungsangeboten, die die eigene Geschichte – innerhalb der Gedenkstättenlandschaft – wiedergibt, kann einen großen Beitrag leisten.
Norbert Reichling: Es gibt nach meinem Eindruck nicht nur dieses „sollte“ – finden wir doch in vielen Gedenkstätten mindestens Ansätze, die eigene Geschichte zu thematisieren. Und es gibt vielerorts (vielleicht gerade dann, wenn nicht auf den ersten Blick ein Lagerort vorliegt) auch die ganz deutliche Besucher*innenfrage: Warum ist dies hier eine Gedenkstätte, wie kam es dazu, wer agiert hier eigentlich, macht ihr immer dasselbe seither? Doch der Selbsthistorisierung sollten diese komplizierten Geschichten nicht ganz überlassen werden – woran es mangelt, sind fremde Blicke darauf. Auch die hier schon angerissen schwierige Frage, was an widerständigem Gründungsspirit erhalten bzw. transformiert werden kann, ist durch die wenigen Studien à la Jenny Wüstenberg nicht annähernd beantwortet. Christian Gudehus Behauptung, dass bei uns immer noch die Gründungs-Helden-Geschichten tradiert werden, halte ich für wenig überzeugend. Da lauern noch viele Dissertations-Themen, und vielleicht sollten wir auch mal die Public History Lehrenden darauf stärker stoßen?
Ich wiederhole aber auch meine frühere Frage: Wie viel solcher reflexiven Schleifen sind in der alltäglichen Bildungsarbeit unterzubringen und fruchtbar zu machen?
In einem 2012 durchgeführten Interviewprojekt zu den „Gedenkstättenpionieren“ in Nordrhein-Westfalen (im folgenden Link-Dokument auch ein Info-Link dazu) entstand übrigens eine Bibliographie zu den hiesigen Orten. Sie zeigt eine Fülle an Material auf, aber auch die großen Unterschiede zwischen den Orten.
Das Thema „Verflechtungen und geographische Erweiterung“ sehe ich etwas weniger skeptisch als Elke Gryglewski , vielleicht aus dem speziellen Blickwinkel „kleiner“ Gedenkorte in Nordrhein-Westfalen: Wenigstens die europäischen Kontexte scheinen mir einigermaßen präsent in Ausstellungen und Bildungsarbeit zu sein. Unser NRW-Netzwerk bemüht sich seit vielen Jahren auch um professionellen grenzüberschreitenden und perspektivenerweiternden Austausch, vor allem mit Kolleg*innen in Polen, Israel, Griechenland, USA.
Jonas Kühne: Ergänzend zum Beitrag von Elke Gryglewski möchte ich zwei Punkte anführen. Erstens lässt sich wunderbar aufzeigen, dass Gedenkstätten entgegen der landläufigen Meinung keine schon immer gewesenen Einrichtungen und Institutionen waren, sondern in einem oftmals konfliktreichen Verhältnis zur Politik und Mehrheitsgesellschaft entstanden sind. Hier kann – anknüpfend am vorherigen Diskussionsstrang – eine Sichtbarkeit von zivilgesellschaftlichem Engagement hergestellt werden. Übrigens etwas, was ich beim Besuch im Hotel Silber in Stuttgart zur Gedenkstättenkonferenz gelungen fand, auch wenn es dieser Aspekt (noch?) nicht in die Dauerausstellung geschafft hat. Zweitens wäre es wünschenswert, wenn diese Gedenkstättengeschichte(n) nicht nur zur Nabelschau und Selbstlegitimation der Gedenkstätten in ihren Ausstellungen dienen, sondern auch zu einem kritischen Blick auf die eigene Geschichte und zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die Erinnerungsarbeit passiert, anregen.
Norbert Reichlings Punkt ist ebenfalls wichtig: Die Gedenkstättengeschichte(n) werden erst verständlich als Geschichten der drei postnationalsozialistischen Gesellschaften Österreich, DDR und BRD (vor und nach 1989). Sie haben ihre jeweils eigenen Geschichte(n), komplexen Entstehungsprozesse und wirken sich bis heute auf die historischen Orte aus.
Heidemarie Uhl: Praktisch alle großen Gedenkstätten haben sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt, in vielen Fällen wird die Gedenkstättengeschichte in Ausstellungen und auf der Website, wie zum Beispiel in der Gedenkstätte Mauthausen der Fall zugänglich gemacht.
Dass der Fokus der Vermittlung in Gedenkstätten auf der Geschichte von NS-Terror und Gewalt an diesem Ort liegen muss, ist evident. Das Potential der Gedenkstättengeschichte ist die Reflexion darüber, wie sich der Blick auf den Ort, die Darstellung seiner Geschichte verändert haben. Hier gewinnen vor allem Objekte des Nachkriegs-Gedenkens an Relevanz, die Auskunft über politische bzw. nationale Instrumentalisierungen des Gedenkens geben, im Fall von Mauthausen z. B. die 1982 eröffnete Ausstellung „Österreicher in nationalsozialistischen Konzentrationslagern“. Die Schau bezog sich nicht auf den historischen Ort, sie zeigte, ganz im Sinn der Beweisführung der staatlichen Opferthese, Österreicher*innen als Opfer des NS-Regimes in NS-Konzentrationslagern in ganz Europa.
Ein Vermittlungsmodul zur Gedenkstättengeschichte ermöglicht eine reflexive Auseinandersetzung mit den „Nachkriegsmythen“ (Tony Judt) vom nationalen bzw. politischen Widerstand, die – wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung – vor 1989 die Sinnstiftung der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik und der DDR und der einzigen österreichischen KZ-Gedenkstätte in Mauthausen bestimmt haben. Diese Dimension des Lernens aus der Geschichte sollte auch Schüler*innen bei einem Gedenkstättenbesuch eröffnet werden.
Elke Gryglewski: Gerne möchte ich meine Gedanken expliziter machen. Natürlich ging es mir bei meiner Äußerung, dass ich eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Institutionen für wichtig erachte, nicht darum, dass wir das ausschließlich aus unser Perspektive tun.
Neben den Perspektiven aus den Einrichtungen, denen der Zivilgesellschaft – von wem sprechen wir da? An manchen Orten sind Akteur*innen der Zivilgesellschaft Teil der Gedenkstätten bzw. ihres Personals geworden – aber eben auch derjenigen, die wir selbst sehr lange nicht im Blick hatten und noch haben.
Wir leben in einer diversen Gesellschaft, was sich aber bei den meisten Gedenkstättentagungen überhaupt nicht widerspiegelt. Auch nicht in der anstehenden Tagung in der Gedenkstätte Neuengamme. Wenn wir uns das Programm ansehen, sprechen dort überwiegend, wenn nicht sogar ausschließlich weiße Deutsche.
Das ist in gewisser Weise legitim, weil thematisch gebunden bzw. es sind dort die Vertreter*innen, die die Geschichte der Institutionen gut kennen. Laufen wir aber dabei nicht Gefahr, unsere eigenen blinden Flecken weiter zu tradieren? Wenn wir also beispielsweise Ausstellungen zu „unserer“ Geschichte entwickeln, sollten wir tunlichst alle „Grautöne“ mitbedenken, die wir in unseren Kämpfen um Erinnerung selbst zu verantworten haben. Will sagen: Die Ambivalenz liegt nicht nur im Narrativ „vom Dunkel zum Licht“, sondern auch schon in unseren eigenen Differenzkonstruktionen oder Nicht-Wahrnehmung auf dem Weg zur Gründung der Gedenkstätten. Wen haben wir beispielsweise in unserer Auseinandersetzung nicht beachtet, welche Perspektiven, Narrative, Themen etc.
Und damit habe ich nur EINE weitere Facette, neben den von Norbert Reichling und Jonas Kühne genannten, benannt. Wenn wir das Stichwort Multiperspektivität als Grundlage nehmen, fallen uns möglicherweise noch zahlreiche andere Facetten ein, die wir bei dieser Erzählung berücksichtigen müssten.
Moderation: Vielen Dank für die Beteiligung an dem Gespräch.
Die vorliegende Diskussion wurde per E-Mail zwischen dem 16. März 2022 und dem 15. April 2022 geführt.
Dr. Andrea Genest arbeitet als Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und Stellvertreterin des Direktors derStiftung Brandenburgische Gedenkstätten.
Dr. Elke Gryglewski ist die Direktorin der Gedenkstätte Bergen Belsen und Vorsitzende der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.
Jonas Kühne ist als Referent bei der sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (sLAG) tätig.
Dr. Norbert Reichling hat als pädagogischer Mitarbeiter im Leitungsteam des Bildungswerks der Humanistischen Union Nordrhein-Westfalen gearbeitet. Zudem war er bis 2020 ehrenamtlicher Leiter des Jüdischen Museums Westfalen und ist Vorsitzender des dortigen Trägervereins.
Priv. Doz. Mag. Dr. Heidemarie Uhl wirkt am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und als Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Graz.