Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Im Zusammenhang mit dem Thema „Verschwörungstheorien“ wird schnell auch das Thema Antisemitismus aufgebracht. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, was das antisemitische Moment an Verschwörungsideologien und was das verschwörungsideologische am Antisemitismus ist. Wo also liegen die Gemeinsamkeiten dieser beiden Phänomene, die nicht selten in einem Atemzug genannt werden? Wie zuvor deutlich wurde, haben Antisemitismus und Verschwörungsmythen eine gemeinsame Geschichte. Der Vorgänger des Antisemitismus, der Antijudaismus, gilt als der älteste Verschwörungsmythos, den wir kennen. Das Narrativ über den Jesusmord ist fast 2000 Jahre alt und die Schuldzuweisungen der Brunnenvergiftung reichen zurück ins 14. Jahrhundert. Doch mit der gemeinsamen historischen Verflechtung ist noch nicht alles erklärt. Im Folgenden werden die strukturellen und inhaltlichen Analogien herausgearbeitet. Das verstärkte Aufkommen beider hängt eng mit den gesellschaftlichen Transformationen der entstehenden Moderne zusammen. Die kapitalistische Produktionsweise weitet sich aus und der entstehende bürgerliche Staat löst die Feudalherrschaft und Monarchie zusehends ab. Eine Dialektik aus De-Personalisierung der bestehenden Herrschaft des Adels und Klerus und der aufkommenden Ideologie des Individualismus führt zu einer Personalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse (vgl. Hessel 2020: 16). Während die historischen Anfänge von Verschwörungsideologien als anthropologische Konstante oder im Zusammenhang mit der Hexenverfolgung sowie der Gründung von Geheimgesellschaften diskutiert werden können, richten sich die entstehenden modernen Verschwörungsideologien im ausgehenden 18. Jahrhundert meist gegen als geschlossen imaginierte Gruppen. Zu Beginn wendeten sich die unterschiedlichen Personalisierungen und vereinfachenden Feindbilder, die als eine Antwort/Reaktion auf die Widersprüchlichkeiten in den entstehenden kapitalistischen Gesellschaften verstanden werden können, gegen die Freimaurer und Illuminaten, später ab Mitte des 19. Jahrhunderts in besonderen Maße gegen Juden, aber auch gegen Kommunisten, Kapitalisten, demokratische Bewegungen, Geheimdienste oder Amerikanern[1]. Sie stehen für unterschiedliche Personalisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse im Rahmen der Nation und ihren unpersönlichen, vermittelten Herrschaftsverhältnissen. Zum einen können Erzählungen über Verschwörungen zur Absicherung von Herrschaft, Manipulation oder Instrumentalisierung dienen, aber besonders fungieren sie als universale, über alle religiösen und politischen Lager hinweg, komplexitätsreduzierende Weltanschauungsangebote mit spezifischen psychischen Funktionen für das Subjekt. Es ist kein Zufall, dass besonders Juden in verschwörungsideologischen Narrativen meist die Rolle einer übermächtigen, verschwörerischen Gruppe zukommt. Da Verschwörungstheorien keine Aufklärung bieten, sondern immer nur neue Varianten bestehender Deutungsmuster, kommt den Juden eine historisch bedingte, prädestinierte Stellung in diesen Vorstellungen zu (siehe oben). Die Entwicklung vom Antijudaismus zum modernen Antisemitismus hängt von historischen Konstellationen und Transformationen ab, die auch für die Entstehung der Verschwörungstheorien von Bedeutung sind. Der moderne Antisemitismus muss auch als bürgerlicher Antimodernismus verstanden werden, in dem sich die Feindschaft gegen das sich auf nationaler Ebene emanzipierende/assimilierende Judentum und deren Identifikation mit der Moderne (Ökonomie, Politik, Kultur) ausdrückt (vgl. Claussen 1987) – Momente, die auch im Verschwörungsdenken präsent sind. Aufbauend auf den Bildern und Erzählungen des Antijudaismus werden Juden im modernen Antisemitismus nicht nur als das “Andere” zur Nation, sondern besonders als Personifikation der westlichen Moderne gesehen und mit allen negativ erachteten Folgen der gesellschaftlichen Umwälzungen falsch identifiziert. Hier klingt der verschwörungsideologische Aspekt des modernen Antisemitismus durch, wenn Juden als hinter diesen Entwicklungen stehend und als personifiziertes Feindbild nationaler Gesellschaften imaginiert werden. Er dient als Welterklärung und wird zu einer Alltagsreligion, in der Vorurteile und Ressentiments zu einem System verdichtet werden. Das antisemitische Denken ist eine Reaktion auf die unverstandene Moderne, ein moderner Antimodernismus (vgl. Salzborn 2010).
Thomas Haury hat drei Strukturprinzipien des modernen Antisemitismus herausgearbeitet, die auch für die Einordnung des Verhältnisses von Verschwörungsdenken und Antisemitismus hilfreich sind. Nach Haury sind für die strukturelle Logik des antisemitischen Weltbildes drei Denkprinzipien konstitutiv: Personifizierung, Manichäismus, Konstruktion identitärer Kollektive (vgl. Haury 2002: 13). Im Aspekt der Personifizierung stecken die Juden hinter allem Unglück. Sie sind Verkörperung und Urheber der Moderne mitsamt den anonymen Zwängen des Marktes, dem Formwandels politischer Herrschaft, der modernen Kultur und Lebensweise in Ökonomie, Politik, Kultur. Im Antisemitismus erscheinen die Juden als Drahtzieher hinter unverstandenen komplexen Verhältnissen. Der Manichäismus mit seinen eschatologischen Grundzügen bedeutet hier eine radikale Zweiteilung der Welt in Gut und Böse. Dabei wird der Feind zum existentiell Bedrohlichen und wesenhaft Bösen stilisiert. Eng verknüpft mit dieser Aufteilung ist die Konstruktion identitärer Kollektive. Dabei kommt im nationalen Antisemitismus der Nation als vermeintlich bedrohte Gemeinschaft durch das Andere eine besondere Rolle zu (vgl. Haury 2002). Diese personifizierende die sich in der spezifischen Vorstellung einer großen Judenverschwörung äußert, kommt ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Die Blaupause der antisemitischen Verschwörungstheorie sind die „Protokolle der Weisen von Zion“, in der eine jüdische Weltverschwörung imaginiert wird. Über die verschwörungsideologischen Implikationen des Antisemitismus schreibt Jaecker: “Sämtliche Themenbereiche des modernen Antisemitismus sind von der selben Grundvorstellung strukturiert: Die kleine jüdische Minderheit wird beschuldigt, in ihrem unersättlichen Streben nach Reichtum, Einfluss und Geltung eine gegebene ökonomische, politische und kulturelle ,nationale’ Gemeinschaft zu zersetzen und ihre Herrschaft ‚mit verschwörerischen Mitteln‘ auszubauen” (Jaecker 2004: 26). Dem Antisemitismus wohnt immer eine Vorstellung von jüdischer Macht inne, die das eigene Kollektiv (z.B. die Nation) als fremde Macht von innen oder außen bedroht (vgl. Postone 1988: 244).
Mit dem Wissen um die Strukturprinzipien des Antisemitismus werden die Verwobenheit und Überlappungen mit Verschwörungsideologien deutlich. Trotz der Unterschiede zwischen den Verschwörungstheorien sind vielen die Konstruktion von feindlichen Gegengruppen zur harmonischen “Wir-Gruppe” gemeinsam. Sie dienen als Projektionsfläche für negative Entwicklung und Absicherung einer positiven Kollektividentität (vgl. Jaecker 2004: 11). Dieser Dualismus ist auch für den Antisemitismus konstitutiv. Wichtiger Aspekt von Verschwörungsideologien ist die Personifizierung, mit der eine Reduktion komplexer gesellschaftlicher/ökonomischer/politischer Strukturen auf menschlichen Beziehungen/Personen erfolgt. Dabei gibt es meist drei Gruppen: die mächtigen Verschwörer, die Handlanger sowie die Durchschauenden. Dabei werden meist bestehende Feindbilder aufgegriffen, die nicht selten antijüdische Untertöne haben (vgl. Jaecker 2004: 14ff). Nicht selten wird diese Aufteilung manichäisch gesteigert.
Verschwörungsideologien sind im Unterschied zu Verschwörungshypothesen und realen Verschwörungen nicht widerlegbar. Sie beinhalten eine größere Dimension des konspirativen Wirkens und erreichen weltanschauliches Potential: als politische Religion. Verschwörungsideologien und Antisemitismus liegt eine ähnliche Art des Denkens über die Welt zugrunde, das bis zu umfassenden Welterklärungsmodellen ausgebaut wird. Durch den historischen Funktionswandel von Verschwörungskonstrukten zielen diese Modelle in kapitalistischen Produktionsverhältnissen tendenziell auf die Erklärung der unverstandenen komplexen, gesellschaftlichen Totalität (vgl. Hessel 2020: 15). Verschwörungsideologien und Antisemitismus ist deshalb jeweils eine falsche Kapitalismuskritik inhärent, die ökonomische und politische Verhältnisse personalisierend auf die Handlungen spezifischer Personen(-gruppen) reduziert (vgl. Schmidinger). Antisemitismus und Verschwörungsdenken müssen deshalb auch immer auf Grundlage der gesellschaftlichen Verhältnisse reflektiert werden, die als ideologische Reaktionsformen inklusive ihrer Feindbildkonstruktionen projektiv verarbeitet werden. Beide sind nach Adorno et al. Bestandteile eines autoritären Syndroms, das in den gesellschaftlichen Strukturen und den daraus entstehenden Subjektformationen eine gemeinsame Grundlage haben (vgl. Adorno et al. (1950)).
Ein wichtiges Element des Antisemitismus sind Verschwörungsvorstellungen über eine jüdische Macht. Auch wenn Verschwörungsideologien und Antisemitismus nicht identisch gesetzt werden können, zeichnen sie sich durch eine starke inhaltliche Affinität und funktionale Überschneidung aus. Wegen der strukturelle Homologie zwischen beiden müssen Verschwörungstheorien als strukturell antisemitisch begriffen werden. Durch Umwegkommunikationen und Leerstellen, die als Projektionsflächen dienen, können sie äußerst leicht zu antisemitisch codierten Feinbildern ausgebaut werden. Die Phantasmagorien und Dämonologien der langen kulturhistorischen Tradition antisemitischer/antijudaistischer Verschwörungsmythen bieten auch für heutige Verschwörungskonstrukte ein gut passendes Vokabular an (vgl. Hessel (2020): 22). Dadurch sind besonders Verschwörungstheorien äußerst anschlussfähig für aktuelle Formen des Antisemitismus und sind gespickt mit antisemitischen Codes und Chiffren.
Neben der historischen und strukturell-inhaltlichen Verflechtung von Antisemitismus und Verschwörungsdenken fehlt noch eine dritte Betrachtungsweise, eine auf der Subjektebene, um die Untersuchung über das Verhältnis von Antisemitismus und Verschwörungsideologien zu komplettieren. Sie erfüllen jeweils psychologische und soziale Bedürfnisse, liefern Sinnstiftung und Weltdeutung und knüpfen an Ressentiments an. Sie erzeugen das Gefühl von Zugehörigkeit und eine dualistische Aufspaltung der Welt in Gut und Böse. Komplexe gesellschaftliche Phänomene werden simplifiziert und konkretisiert. Die Verunsicherung, Ohnmacht und Fremdbestimmung des individualistischen modernen Subjekts sowie die eigene Bedeutungslosigkeit und Austauschbarkeit greifen tief in die Psyche. Diese Antinomien werden oberflächlich durch Personalisierungen und Feindbilder gelöst (vgl. Hessel (2020): 16). Mit der Behauptung der Eindeutigkeit angesichts der individuellen Ohnmacht und gesellschaftlicher Krisenhaftigkeit wird versucht Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen. Die zentralen psychodynamischen Charakteristika des Antisemitismus und der Verschwörungsideologien sind die unbewusste Projektion und ein paranoider Denkstil (vgl. Salzborn 2017). Der Vorgang der Externalisierung eigener tabuisierter Wünsche und Triebe auf ein Außen – der Abwehrmechanismus der Projektion – ist Merkmal des autoritären Charakters und stellt ein wichtiges Bindeglied zwischen Antisemitismus und Verschwörungsdenken dar (vgl. Adorno et al. (1950)). Verschwörungsideologien und Antisemitismus bedienen sich nicht nur einem großen Reservoir an Bildern und Deutungen, sondern bei beiden kommen auch gemeinsame psychologische Mechanismen eine zentrale Funktion zu.
Adorno, T.W. / Frenkel-Brunswik, E. / Levinson, D. J. / Sanford, R.N. (1950). The Authoritarian Personality. Harper & Brothers, New York.
Claussen, Detlev (1987): Vom Judenhass zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte. Luchterhand, Darmstadt und Neuwied.
Salzborn, Samuel (2010): Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich. Campus, Frankfurt/New York.
Jaecker, Tobias (2004): Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11.September. Neue Varianten eines alten Deutungsmusters. Lit-Verlag, Münster.
Haury, Thomas (2002): Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburger Edition, Hamburg.
Postone, Moishe (1988): Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in Diner, Dan (Hg.) (1988): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Fischer, Frankfurt.
Hessel, Florian (2020): Elemente des Verschwörungsdenkens. Ein Essay. In: psychosozial 43. Jahrgang Nr. 159, Heft I. S. 15-26.
Salzborn, Samuel (2017). Rechtsextremismus: Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Nomos, Baden-Baden.
[1] Eine gendergerechte Schreibweise wird hier nicht verwendet, da es sich hierbei um Feindbildkonstruktionen und nicht reale Menschen handelt