Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Diese strukturellen Ähnlichkeiten von Antisemitismus und Verschwörungsmythen lassen sich steigern, wenn noch die Betrachtungen zu latentem und codiertem Antisemitismus hinzugenommen werden. Während bisher in den oben genannten theoretischen Überlegungen Jüdinnen*Juden immer als personifizierte Feindgruppe angenommen wurden, muss festgestellt werden, dass die explizite Nennung von Jüdinnen*Juden seit 1945 in Deutschland nicht in der Form gesellschaftsfähig ist, wie sie es noch in der Weimarer Republik und zur Zeit der Nationenbildung war. Die Feindbilder stellen sich seit 1945 anders dar und dennoch bedienen sie häufig die gleichen, wenn nicht sogar dieselben Muster. Aus diesem Grund wird in der Forschung neben Antisemitismus (oder von explizitem Antisemitismus) auch von latentem oder codiertem Antisemitismus gesprochen. Wobei codierter / verdeckter Antisemitismus einen bewusst versteckten Antisemitismus und latenter Antisemitismus die unbewusste Reproduktion antisemitischer Narrative beschreiben soll. Diese Trennung zwischen codiertem und latentem Antisemitismus wird teilweise aufgrund ihrer Ungenauigkeit kritisiert. Da Strukturen immer unbewusste Anteile enthalten, verlaufen auch die Grenzen zwischen codiertem und latentem Antisemitismus fließend. Als möglicher Vermittlungsansatz wird von einigen Autor*innen ‚modernisierter Antisemitismus‘ als Oberbegriff für verschiedene nach 1945 entstandenen Formen angeboten, die weiterhin Antisemitismus als Weltdeutung anbieten, gleichzeitig auf die veränderten „Ansprüche” nach dem Holocaust reagieren. Bei allem Bewusstsein für modernisierten Antisemitismus und seine strukturellen Ausprägungen ohne Jüdinnen*Juden zu benennen trägt die Ausweitung des Begriffs auch immer die Gefahr eines inflationären Gebrauchs und Jüdinnen*Juden als eigentlich Betroffene von Antisemitismus aus dem Fokus zu verlieren (Rensmann, 2004: 78–86). Mit dem Bewusstsein für modernisierten Antisemitismus fällt auf, wie untrennbar Verschwörungsmythen und Antisemitismus sind, selbst wenn beide Phänomene nicht für deckungsgleich gehalten werden.
Am Beispiel von den Verschwörungsmythen einer ‚Neuen Weltordnung‘ (NWO) lässt sich diese ‚Modernisierung‘ eines zunächst explizit antisemitischen Mythos gut verdeutlichen. So zeichnet Jan Rathje in einer Arbeit den Weg nach, den diese Erzählung seit den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nahm. Seinen Ursprung hat der Mythos in der Sozialistischen Reichspartei, eine Partei, die nach 1945 versuchte an die Tradition der NSDAP anzuknüpfen und die zu der Zeit tatsächlich existierende Besatzung durch die Alliierten in der Tradition einer jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung umzudeuten. Dieser Mythos wurde in den folgenden Jahrzehnten von verschiedenen Rechtsextremen über die Kreise um Manfred Roeder, Meinolf Schönborn und Horst Mahler bis heute mit der expliziten Bezeichnung von ‚jüdischen Weltverschwörer*innen‘ reproduziert, in den genannten Beispielen immer begleitet von Relativierungen des Holocaust. Parallel dazu bildeten sich ab den 1980er Jahren Vertreter*innen heraus, die zwar Bezug auf ihre Vordenker*innen nahmen, die vermeintlichen Kräfte hinter dem Komplott jedoch nicht mehr explizit benannten. So sprach Wolfgang Ebel in den 2000er Jahren zwar noch von einem „besatzungsrechtliche[n] Provisorium“, verantwortlich machte er dafür jedoch explizit Helmut Kohl, den er wiederum einer nicht weiter benannten „Religion“ zuordnete. Dieses Narrativ wurde auch von Norbert Schittke weitergetragen, der im Jahr 2017 Angela Merkel als Kopf der „BRD GmbH“ sah und sie als Jüdin bezeichnete. Personen wie Peter Frühwald, Peter Fitzek, die Webseite nwo.info und das Compact Magazin um Jürgen Elsässer tragen die Narrative eines besetzten Deutschlands, einer Fremdherrschaft oder einer BRD GmbH weiter, jedoch häufig ohne dabei Jüdinnen*Juden explizit zu benennen. Stattdessen verwenden sie Begriffe wie Zionismus, Zinsknechtschaft, NWO (als Kurzform für Neue Weltordnung oder New World Order) oder den Staat Israel als Feindbild. Dabei ist „NWO“ ein Begriff, der von nordamerikanischen Verschwörungsideolog*innen übernommen wurde und sich als modernisierte Alternative zur Abkürzung ZOG (Zionist Occupation Gouvernment) etablierte. (Rathje, 2018) Das Beispiel zeigt, wie stark Verschwörungsmythen miteinander verknüpft sind und wie unklar das Feld zwischen einer unbewussten Übernahme und der bewussten Codierung antisemitischer Narrative ist. Letztendlich ist es auch unmöglich nachzuvollziehen, ob das Aufzeigen dieser Narrative, die häufig zu expliziteren Äußerungen der Täter*innen führen, tatsächlich nur den modernisierten Anstrich entfernt oder aufzeigt, wie schnell expliziter Antisemitismus in vermeintlich latenten Formen abrufbar ist. Gleichzeitig wird deutlich, wie schmal der Grat zwischen explizitem und vermeintlich latentem oder codiertem Antisemitismus in Verschwörungsmythen ist.
Rensmann, L. (2004) Demokratie und Judenbild: Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.