Mit ihrem Buch „Das eigene Schicksal selbst bestimmen. Fluchten aus Deportationszügen der „Aktion Reinhardt“ in Polen“ füllt Franziska Bruder eine Lücke. Die Forschung zur Situation in den Waggons der Deportationszüge hat zwar früh nach Kriegsende begonnen. Die Flucht war hierbei bislang jedoch nur ein Thema am Rande. In der öffentlichen Wahrnehmung der Shoa insgesamt stand die Situation während der Deportationen weniger im Fokus. Das Augenmerk richtete sich eher auf die exzessiven Morde vor dem Einstieg in den Deportationszug und nach dem Ausstieg. Erst Tanja von Fransecky hat mit ihrem Buch „Flucht von Juden aus den Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden“ von 2014 die Fluchten als eigenen Forschungsschwerpunkt thematisiert. Bislang eine Ausnahme im deutschsprachigen Raum. Von Fransecky kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Fluchten vor allem um individuelle Fluchten junger Männer handelte, die bereits politisch vernetzt waren, und von den Mitreisenden aus Angst vor Repressionen Widerstand erfahren haben.
Franziska Bruder ergänzt mit ihrem Buch nicht nur die Forschung, sondern bricht außerdem mit einem Narrativ. In Deutschland steht seit Jahrzehnten die Perspektive auf die jüdischen Opfer im Vordergrund. Die zentralen Fragen sind, ab wann die polnischen Jüdinnen*Juden vom Grauen in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern informiert waren und wie sich dieses Wissen darum dann in einen praktischen Umgang damit übersetzt hat. Bruder dokumentiert, analysiert und wertet dafür die Zeugnisse von 135 Menschen aus, die sich aus den Deportationszügen aus dem Generalgouvernement in die Vernichtungslager zwischen März 1942 und Sommer 1943 mit einem Sprung das eigene Überleben gesichert haben. Der größte Teil der dokumentierten Fluchten betrifft die Strecken in die Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ Treblinka, Belzec und Sobibor.
Diese Berichte stehen im Gegensatz zu den Ergebnissen der Deportationszüge aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Bruder zeigt, dass in bestimmten zeitlichen Phasen, insbesondere auf den Bahnlinien in die Vernichtungslager Belzec und Treblinka, Jüdinnen*Juden massenhaft aus den Zügen gesprungen sind, um sich dem ihnen von den Nationalsozialisten bestimmten Tod in der Gaskammer zu entziehen. Zwar sprangen auch hier vorwiegend junge Männer, aber auch Menschen aller Altersstufen und jeglichen Geschlechts. Die Berichte erzählen auch vom Widerstand anderer Deportierter, mehrheitlich zeigen sie jedoch, dass die Menschen einander unterstützten und die Fluchten vielfach gar von einem kollektiven Vorgehen geprägt waren.
Die überwiegende Mehrheit der Deportierten sprang nicht allein. Die Autorin führt drei verschiedene Bezugsgruppen auf. Die erste wichtige Bezugsgruppe war die Familie. In diesem Kreis wurde geklärt, ob man springen sollte oder nicht, und wenn ja, in welcher Konstellation. Die zweite soziale Bezugsgruppe war, für die politisch Organisierten, die Kamerad*innen. Eine dritte soziale Bezugsgruppe waren Arbeitskolleg*innen. In der Regel ging ein intensiver Verständigungsprozess in den sozialen Gruppen voraus. Dieser war die wesentliche Voraussetzung für die folgenden Schritte zur Realisierung der Flucht.
Die Jüdinnen*Juden versuchten meist zunächst einzuschätzen, wohin die Züge fuhren. Sobald sich die Deportierten klar waren, dass die Züge nicht nach Treblinka fuhren, folgten Diskussionen, ob in dem gemutmaßten Lager Zwangsarbeit oder Vernichtung drohte und die lebensgefährliche Flucht die letzte Handlungsoption war. Die Berichte zeigen, dass die Menschen ab einem gewissen Zeitpunkt über die Existenz und Bedeutung der Vernichtungslager informiert waren. Auskunft darüber bekamen sie über die Judenräte und andere politische Organisationen, zu denen auch Jugendorganisationen zählten. Aus etlichen Berichten geht außerdem hervor, dass viele der Springer*innen nach erfolgreicher Flucht zurückgekehrt sind, um nach ihren Familien zu suchen und andere zu informieren. Auch über Briefe wurden die Zurückgebliebenen über die Situation benachrichtigt. Die Beschaffung der Informationen stand für die Verfolgten an erster Stelle, da auf ihrer Grundlage eine Analyse und Gefahrenabschätzung durchgeführt werden konnte, um die nächsten Schritte zu bestimmen.
Die Zeugnisse weisen auf ein Netzwerk hin, das trotz der gefährlichen Situation einen hohen Grad an Organisierung aufweist. Diese Organisation zeigt sich in der Informationsvermittlung, der Vorbereitung und Durchführung der tatsächlichen Flucht und der Versorgung. So erzählt beispielsweise Ruta Wermuth davon, dass sie nach ihrem Sprung auf Jüdinnen*Juden traf, die die Schienen nach verletzten Springer*innen absuchten, um sie in Sicherheit zu bringen und medizinisch zu versorgen.
Die Berichte zeugen allesamt vom starken Willen das Schicksal, das die Nazis für sie vorgesehen hatten, nicht anzuerkennen, sich dem aktiv zu widersetzen und dafür sogar den eigenen Tod in Kauf zu nehmen. Einige Überlebende stellen ausdrücklich dar, dass sie lieber bei der Flucht erschossen oder unter die Räder gekommen wären, als in den Vernichtungslagern ermordet zu werden:
„Als ich mit meinen Händen an dem fahrenden Zug hing, eröffneten die Wachen, die auf den Dächern saßen, das Feuer; es gab aber keinen Weg mehr zurück und zudem wollte ich auch nicht zurück. Besser wäre es, unter die Räder des Zuges zu geraten, als in den Gaskammern verbrannt zu werden.“ (S. 72)
Die Berichte zeugen von einer Lebenslust, die sie dazu motiviert ihr eigenes Schicksal selbst zu bestimmen. Erwähnenswert ist hier der Bericht von Michal Kürschner. Von den Peinigungen und Morden der Deutschen wollte er nicht berichten. Im Mittelpunkt seiner Erzählung steht seine Flucht und wie er später mit anderen im Wald eine Partisan*innengruppe gegründet hatte.
Franziska Bruder setzt mit ihrem Buch dem Narrativ der jüdischen Opfer etwas entgegen. Bei insgesamt 549 Seiten stehen die Berichte der Springer*innen auf rund 430 Seiten im Vordergrund. Die Berichte liefern weitere Zeugnisse darüber, dass sich die Jüdinnen*Juden nicht wehrlos der NS-Vernichtungsmaschinerie gebeugt haben. Ihr aktiver Widerstand war der Moment, indem sie ihre Menschenwürde zurückgewannen, wie Jean Améry einst bereits schrieb. Diese Bewertung darf allerdings nicht mit der Abwertung des Verbleibens in den Waggons, also des nicht geleisteten Widerstands, einhergehen. Bruder stellt hierzu dar, dass angesichts des alltäglichen Todes, die Verbindung mit anderen Menschen für viele die letzte Quelle von Rettung bedeuten könnte. Mit den Nächsten zusammen zu bleiben, konnte auch ein Beweis ihrer Liebe, Verbundenheit, Treue und Mutes geben. Die Informationen über die Vernichtungsabsichten der Deutschen mussten außerdem in irgendeiner Form rational verarbeitet werden und riefen vor allem schwer beherrschbare Gefühle wie Angst, Hilf-, Rat- und Hoffnungslosigkeit sowie Verzweiflung hervor. Reaktionen, den Informationen nicht zu glauben, stellen eine mögliche und häufige Umgangsweise mit solchen starken Gefühlen dar. Weiter schreibt Bruder, dass das Nichtanerkennen der Informationen nötig war, um das menschliche „Ich“ vor der Konfrontation mit der Vernichtungsabsicht der Deutschen zu schützen. Das Leugnen war somit in erster Linie eine psychologische Strategie des Sich-Distanzierens.
Das Buch ist ein Nachschlagwerk, das den Überlebenden eine Stimme gibt. Die Berichte beschreiben, wie sie ihr eigenes Schicksal selbstbestimmt haben. Auch sind sie Ausdruck dessen, dass sie selbstbestimmt ihre Geschichte erzählen und das Narrativ über die Geschichte nicht der Nachfolgegesellschaft der Nazis überlassen. Es ist ein Plädoyer dafür den Begriff des Widerstands zu erweitern, die Flucht als Kampfhandlung zu begreifen und somit als Widerstand zu deuten. Indem Bruder diesen lange vernachlässigten Teil der Geschichte dokumentiert, füllt sie eine zum einen eine Forschungslücke und bricht zum anderen mit einem Narrativ. Die jüdischen Opfer werden hier zu selbstbestimmten und selbstbewussten Individuen und zu Akteur*innen ihrer eigenen Geschichte.