Fast drei Jahrzehnte lang, von der Gründung 1988 bis zum Jahr 2015, leitete der Historiker Hermann Simon die Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. In dieser Zeit prägte er die Arbeit der Stiftung und des Museums mit Ausstellungen, Veranstaltungen und eigenen Publikationen und hatte so einen entscheidenden Anteil daran, jüdische Geschichte und jüdisches Leben im wiedervereinten Berlin wieder sichtbarer zu machen.
Seinen 70. Geburtstag im Jahr 2019 nahmen die Stiftung und das Institut für Geschichtswissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität zum Anlass, „Simons Lebensleistung auf dem Gebiet der Erforschung und Präsentation jüdischer Lebenswelten“ (14) mit einer Vortragsreihe zu würdigen. Die 13 Vorträge von renommierten Wissenschaftler*innen aus Deutschland, England und Israel sind nun unter dem Titel Gedächtnis aus den Quellen. Zur jüdischen Geschichte Berlins. Hermann Simon zu Ehren in Buchform erschienen. Herausgegeben wurde der Band von Anja Siegemund, Simons Nachfolgerin und der aktuellen Direktorin der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, gemeinsam mit Michael Wildt, Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf den Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität.
Die allesamt sehr lesenswerten Beiträge beleuchten ganz unterschiedliche Ereignisse und Aspekte der jüdischen Geschichte Berlins vom Ende des 18. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Nähe zu historischen Quellen verbindet die Beiträge. Die Autor*innen wurden gebeten, jeweils einen Text, ein Dokument, ein Bild oder ein Objekt in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen.
Hannah Lotte Lund befasst sich in ihrem Beitrag mit Berlins jüdischen Salons um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert, einem nach wie vor wenig erforschten Phänomen, das aus Lunds Sicht deshalb paradoxerweise selbst in der Forschung umso mehr von Legenden und Mythen umrankt ist. Inspiriert wird sie dabei von dem berühmten Portrait der Salonière Henriette Herz als griechische Göttin Hebe aus dem Jahr 1778.
Anhand von Kontaktanzeigen untersucht Sarah Wobick-Segev, wie sich soziokulturelle Normen und Erwartungen an die Ehe zwischen den Jahren 1890 und 1939 innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Berlins wandelten. Während bis ins späte 19. Jahrhundert Familienangehörige Ehen für Juden*Jüdinnen im heiratsfähigen Alter arrangierten, nahm um die Jahrhundertwende „die junge Generation ihre Familien- und Zukunftsplanung selbst in die Hand“ (43). Die „Kameradschaftsehe“ setzte sich in der Folge durch und veränderte die organisatorische Struktur der Gemeinschaft grundlegend. Diesen Wandel spürt die Autorin in den Kontaktannoncen nach.
Die Machtübernahme der NSDAP im Jahr 1933, das politische Klima und die antisemitischen Maßnahmen im Deutschen Reich wirkten sich auch auf den jüdischen Heiratsmarkt aus. Die Eheschließungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen gingen rasch zurück. Wegen der zunehmenden sozialen Ausgrenzung und Isolierung nahmen Eheschließungen unter Juden*Jüdinnen hingegen zu. Auch die Kontaktanzeigen veränderten sich. Wobick-Segev zeigt, dass im Werben um neue Partner*innen Beziehungen ins Ausland und finanzielle Mittel für eine mögliche Emigration an Bedeutung zunahmen. So heißt es beispielsweise in einer Anzeige aus dem Jahr 1938: „Für unsere Tochter, Jüdin, 32 alt, 1,58 groß, schlank, hübsch, gebildet, tüchtig, häuslich und sehr vermögend, suchen wir Ehekameraden. Beziehungen nach USA. (sic) vorhanden.“ (53)
Zeitlich und thematisch bilden die verschiedenen Texte zur jüdischen Geschichte Berlins während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus einen Schwerpunkt des Bandes. Christoph Kreutzmüller stellt in seiner Fallstudie die Liquidation der jüdischen Firma Isidor Dobrin’s Conditorei vor. Ausgehend von einer Deportationsliste beschäftigt sich Akim Jah mit den Deportationen der jüdischen Bevölkerung aus Berlin in den Jahren 1941 bis 1945. Hermann Simons eigener Beitrag „Die ‚Sippenkartei‘ in der Oranienburger Straße“ über eine zentrale Quelle zur Verfolgung der deutschen Juden*Jüdinnen und ihr archivarisches Schicksal nach 1945 gehört zu diesem Schwerpunkt ebenso wie Anne-Christin Saß‘ Artikel über den jüdischen Unternehmer Paul Litwin und David Jüngers Beitrag über „Ambivalenzen jüdischer Migration aus Berlin und dem Reich, 1929-1938“.
Mit der Feindschaft gegen „Ostjuden“ innerhalb der Berliner Polizei Anfang der 1920er Jahre setzt sich Johanna Langenbrinck auseinander. Sie legt überzeugend dar, dass antisemitische Feindbilder innerhalb der Polizei und die Kriminalisierung des Scheunenviertels, also dem Ort in Berlin, an dem viele der vor den Pogromen und der Gewalt in Osteuropa geflüchteten Juden*Jüdinnen lebten, den Weg für das Scheunenviertelpogrom 1923 ebneten. Ein aufgebrachter Mob attackierte und demütigte damals jüdische Bewohner*innen des Viertels und plünderte jüdische Geschäfte und Wohnungen. Die Polizei schritt zunächst überhaupt nicht bzw. nur gegen die sich verteidigenden Juden*Jüdinnen ein. Erst am Abend sorgte ein massives Polizeiaufgebot für Ordnung. Anhand der Einsatzberichte des Major Ranks, des Leiters der Polizeikaserne Alexanderstraße, veranschaulicht Langenbrinck, dass aus Sicht der Polizei die Juden*Jüdinnen selbst Schuld an der Gewalt gegen sie hatten.
Einem weiteren gewaltsamen antisemitischen Ereignis widmet sich Alina Bothe in ihrem Artikel „'Die Menschen wurden einfach wie Ratten erschlagen.' Die Geschichte der zweiten 'Polenaktion' in Berlin". Während die erste „Polenaktion“ in der Geschichtsschreibung – auch dank der Ausstellung und des Sammelbands „Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der ‚Polenaktion‘“ von Bothe und Gertrud Pickhan aus dem Jahr 2018 – bekannter ist, wurde die zweite „Polenaktion“ im September 1939 bislang kaum beachtet. In ihrem Artikel stellt Bothe diese zweite Verhaftungsaktion gegen männliche Juden polnischer und ehemals polnischer Staatsangehörigkeit vor und geht dabei auf mehrere Einzelschicksale ein. Allein am 13. September 1939 verhaftete die Polizei in Berlin etwa 550 Juden und verschleppte sie ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Nur ein Drittel dieser Gefangenen überlebte die Massenaktion. Reichsweit fielen ihr vermutlich bis zu 5.000 Juden zum Opfer.
Die verbleibenden vier Beiträge lenken den Blick auf die Zeit nach 1945. Im März 1946 erschien in Berlin die erste Ausgabe von „Der Weg – Zeitschrift für Fragen des Judentums“. Nicht nur die Artikel, sondern auch die zahlreichen Klein-, Such- und Traueranzeigen in der Zeitschrift vermitteln einen Einblick in das Befinden und die Herausforderungen der Jüdischen Gemeinde Berlins in dieser Phase des „Aufbaus nach dem Untergang“ (151). Andreas Nachama präsentiert in seinem Beitrag die Zeitschrift und einige der damaligen Berichte über das jüdische Leben.
Im Mittelpunkt von Joachim Schlörs Artikel stehen Briefe, die emigrierte Berliner*innen in den 1990er Jahren für das „Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“ über ihr Leben in Berlin und nach der Emigration sowie ihr andauerndes Verhältnis zur Stadt verfassten. Während Annette Leo in „Antisemitische Töne an der Humboldt-Universität 1969?“ eine persönliche Geschichte aus ihrer Studienzeit über eine antisemitische Äußerung eines damaligen FDJ-Funktionärs erzählt und diese Erfahrung zum Anlass nimmt, über ihr Jüdisch-Sein und ihr politisches Engagement Ende der 1960er Jahre zu reflektieren. Anja Siegemunds Beitrag über das Museum Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und die an das Museum von außen herangetragenen historischen Narrative des „jüdischen Beitrags zum deutschen Kulturleben“ und der „Integration in die deutsche Gesellschaft“ schließt den Band ab und spannt den Bogen zu Debatten über jüdische Identitäten und das Selbstverständnis Jüdischer Museen in der Gegenwart.
Das Buch Gedächtnis aus den Quellen versammelt 13 spannende, teils sehr bewegende Beiträge zur jüdischen Geschichte Berlins der letzten 200 Jahre. In ihrer Gesamtheit zeichnen sie ein facettenreiches Bild dieser Geschichte. Viele der Beiträge behandeln bislang weniger bekannte Aspekte und Ereignisse. Deshalb lohnt sich das Buch nicht nur für diejenigen Leser*innen, die erste Eindrücke von der jüdischen Geschichte Berlins sammeln möchten, sondern bietet auch Kenner*innen des jüdischen Berlins neue Einblicke.