Im Oktober 2020 veröffentlichte die Historikerin Jessica Bock ihre Dissertation „Frauenbewegung in Ostdeutschland – Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980-2000“. Dass Bock diesen Zeitraum und somit die gesamtgesellschaftlichen und frauenspezifischen Transformationsprozess in den Blick nimmt, ist eine große Stärke ihrer Regionalstudie.
Entstehung, Kontinuitäten, Umbrüche, (über-)regionale Vernetzungen, Akteurinnen und Ziele der Frauenbewegungen in Leipzig sind auf 460 Seiten ausführlich dargestellt und analysiert.
Einen Schub erlangte die bis dahin nur vereinzelt aktive Leipziger Frauenbewegung mit den Gründungen von informellen Frauengruppen ab 1984. Diese setzten sich pragmatisch und lebensweltbezogen unter anderem mit Gleichberechtigung, patriarchalen Strukturen und Friedensbewegung auseinander. Spannend ist dabei, dass Gruppen nicht nur zu einem Thema agierten, sondern etwa wie der „Lila Lady Club“ und die „Frauen für den Frieden“ sowohl eine Kritik am Erziehungswesen der DDR erarbeiteten als auch feministische Theologie behandelten und sich so untereinander vernetzten.
Die Gruppen setzten sich für eine Geschlechtergleichberechtigung ein, die weit über die staatlich propagierte Gleichberechtigung hinaus ging und der Unsichtbarmachung von Problemen, wie der sozialen Situation von Rentnerinnen oder häuslicher Gewalt eine Stimme entgegensetzte. In ihren Protesten und Veröffentlichungen zeigten die Initiativen zudem auf, dass in der DDR weitestgehend kein Begriff von Feminismus oder Patriarchat existierte.
Viele dieser informellen Gruppen lösten sich u.a. in den neuen Bürgerrechtsgruppen im Jahr 1989 auf. Innerhalb des „Neuen Forums“ gründeten drei Frauen im Herbst 1989 jedoch die „Fraueninitiative Leipzig“ (FIL) als eine Gruppe, die zu einer zentralen Akteurin der Frauenbewegung werden sollte. Sie trug ihre Themen und Anliegen u.a. auf Montagsdemonstrationen und Kundgebungen des „Neuen Forums“ nach außen, und machte sie so zum Bestandteil der friedlichen Proteste 1989, da eine demokratische Veränderung nur mit einer Einbindung von Gleichberechtigungsfragen möglich und diese kein Nebenschauplatz sei. Sie versuchten zum einen, eine geschlechterparitätische Vertretung in politischen Gremien und Parlamenten zu erreichen, saßen u.a. am Runden Tisch der Stadt Leipzig und machten so die Frauenfrage auch zu einer Machtfrage. Parallel dazu vernetze sie sich mit anderen Gruppen wie dem Unabhängigen Frauenverband, um eine feministische Infrastruktur in der Stadt, samt Gleichstellungsbeauftragten, Frauenschutzhäusern- und kulturzentren aufzubauen. Ihren Beteiligten gelang es nach der deutschen Vereinigung in neu gegründeten Vereinen Diskussions- und Aktionsräume für Frauen zu schaffen und somit Feminismus in der politischen Landschaft Leipzigs zu platzieren. Die Intensivierung des Engagements und eine Ausdifferenzierung der Interessen könne auch als „Antwort auf die nichterfolgte Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse“ (S. 320) verstanden werden. Diese Erfolge mussten jedoch hart erkämpft werden.
Der Lesbengruppe „Lila Pause“ und dem Bunten Archiv wurden nach der Wende die Gemeinnützigkeit verweigert, so dass sie sich unter dem Dach des „Kunst- und Kultur-Centrum für Frauen e.V.“ begeben mussten, wo sie weitestgehend autonom wirken konnten. Dabei gerieten die Leipziger Aktivistinnen in ein Spannungsverhältnis zu einem Zentralismus der aus einem Fokus von möglichen Bündnispartnerinnen auf Berlin resultierte und zur westlichen Frauenbewegung, deren Herangehensweisen die Leipziger Frauen nicht umstandslos übernahmen oder adaptierten, indem sie ihre bereits entstandenen Netzwerke und Aktionsformen weiterführen wollten.
Mit Beginn der 1990er Jahre sahen sich die Frauengruppen weiteren Herausforderungen ausgesetzt. Über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Fördergelder war es den Gruppen und Vereinen möglich, bezahlte Stellen für ihre Projektarbeit zu schaffen. Zu den Folgen dieser Entwicklung bestehen unterschiedliche Interpretationen. Einerseits habe durch die Gelder für Frauen die Möglichkeit bestanden, sich – auch in anderen Bereichen – beruflich neu zu orientieren und finanziell einigermaßen abgesichert in feministischen Strukturen ihre Berufung zu finden.
Andererseits hätten die Förderung und Stellen nichts an der finanziell prekären Situation geändert, der Bewegungscharakter mit gleicher ehrenamtlicher Arbeitsteilung sei abgeschwächt worden und Beteiligte hätten sich ins Private zurückgezogen. Die über geförderte Arbeitsstellen aufrecht erhaltene Infrastruktur sei mit dem Ende der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 1995 in vielen Vereinen zusammengebrochen. In der Tat mussten die allermeisten Gruppen und Treffpunkte ihre Arbeit und ihr Engagement bis zum Ende der 1990er Jahre aufgeben.
Bock sieht dennoch die Frauen „nicht primär als Opfer der Transition“, ihre Erfahrungen und Ressourcen seien später in anderen Formen des politischen Lebens zum Tragen gekommen. Zudem widerspricht sie – zumindest für Leipzig – der These, dass mit einer Institutionalisierung durch Gleichstellungsbeauftragte und Dachorganisationen die Dynamik der Frauenbewegung in den 1990ern geendet habe.
Symbolisch, aber ebenso praktisch steht das Henriette-Goldschmidt-Haus für die Schwierigkeiten der sich die – heterogene – Frauenbewegung gegenübersah. Als historischer Ort, der schon Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts einen Raum für Frauen(verbünde) darstellte, hätte er den Initiativen der 1990er ein geeignetes Dach geboten. Die Suche nach Räumlichkeiten für Vereinsarbeit und Treffen, um einer Vereinzelung entgegenzuwirken, war eine zentrale Herausforderung der Frauenbewegung in den frühen 1990er Jahren. Trotz zahlreichem und vielfältigem Protest mit prominenter Unterstützung plante die Stadt Leipzig einen Abriss des Hauses, der 2000 vollzogen wurde. Die Frauenbewegung erfuhr somit einen harten Rückschlag, die Interviewpartner Roselinde Zeitschel sah in den Protesten jedoch auch eine Verbündung der Gruppen.
Jessica Bock baut mit ihrer tiefgehenden Untersuchung von Dokumenten in staatlichen, themenbezogenen und privaten Archiven und grauer Literatur in Verbindung mit 33 Zeitzeuginneninterviews auf eine beeindruckende Quellengrundlage für ihre Studie. Insbesondere die abgedruckten und zitierten Erzeugnisse der Frauengruppen und die Interviews vermitteln ein Bild von lebendigen Netzwerken und Aktionen. Die ausdifferenzierte Betrachtung der keinesfalls einstimmig auftretenden Frauenbewegung und die intensive Auseinandersetzung mit dem Spielräumen und Handlungen der Gruppen angesichts von Transformationen und Widerständen machen „Frauenbewegung in Ostdeutschland“ zu einer bedeuten Arbeit in einem bisher unterbeleuchtetem Feld.