Die ORF-Dokumentation „Die Rattenlinie – Nazis auf der Flucht durch Südtirol“ zeichnet nach, wie Nationalsozialisten durch Südtirol die Flucht bis nach Südamerika gelingen konnte. Dabei kommen Fluchthelfer*innen ebenso zu Wort wie Historiker*innen, aber auch Nachkommen der geflohenen Verbrechern.
Atmosphärisch untermalt mit Panoramabildern der „Postkartenidylle“ Südtirols und teilweise dramatischer Musik, stellt die Dokumentation Erzählungen von Zeitzeug*innen aus heutiger Sicht neben zeitgenössische Dokumente. So werden beispielsweise Tagebucheintragungen Adolf Eichmanns vertont. Eichmann floh Anfang der 1950er Jahre über den Brenner Richtung Süden. Alte Schmugglerpfade dienten als Fluchtwege für Nazigrößen wie Erich Priebke und Josef Mengele. Die Familie von Martin Bormann findet in einem abgeschiedenen Südtiroler Seitental unter neuem Namen Zuflucht. Seine Urenkelin kommt im Film ebenfalls zu Wort. Doch wie konnten diese Fluchten gelingen? Die Filmemacher*innen machen ein Netzwerk von NS-Sympathisant*innen, Priestern, dem Vatikan und dem Roten Kreuz aus. Sie ermöglichen mit neuen Pässen und Geld nicht nur den genannten leitenden Nazifunktionären, sondern auch weiteren Regimeangehörigen die Flucht und den Start in ein neues Leben. Das Netz ist dabei weit verzweigt, wie immer wieder im Film betont wird.
Zum Vorteil gelangte den Fluchthelfer*innen, dass nach kurzer Besatzung durch US-amerikanische Streitkräfte Südtirol zur besatzungsfreien Zone wird. Wie der Historiker Hans Heiss erläutert, erhält es so seine Funktion als Drehscheibe und Transitzone zurück. Während ein Teil der Nationalsozialisten im Land selbst bleiben möchte, ist für den Großteil der Verbrecher Südtirol nur Durchgangsstation Richtung Süden – Italien, Südamerika und in den Nahen Osten. Die Dokumentation streicht wiederholt die nicht unerhebliche Rolle der katholischen Kirche heraus. So ist die erfolgreiche Flucht Josef Mengeles einem Priester zuzuschreiben, den Mengele in seinen Aufzeichnungen dankend erwähnt. Auch Priebke findet für seine kirchlichen Fluchthelfer lobende Worte. Interessant ist an dieser Stelle, dass Priester in der Dokumentation zu Wort kommen. Johann Gamberoni möchte die Fluchthilfe nicht verurteilen. Auch er habe einem hilfesuchenden Mann, der nach eigenen Angaben aus einem Polizeilager geflohen war, geholfen. Ob es ein Nazi war, weiß er nicht. Diese Frage, ob unabhängig der Verbrechen den Flüchtenden zu helfen war, zieht sich durch die gesamte Dokumentation. Josef Gelmi, ebenfalls Priester, gibt zu bedenken, dass die allgemeine Nähe zum Nationalsozialismus sowie vorherrschender Antisemitismus, aber auch die Angst vor dem Kommunismus als Motive eine wichtige Rolle spielten.
Weniger ideologische Motive rechnen die Filmemacher*innen jenen „jungen Burschen“ zu, die die Nazis über die Pässe führten. Neben Abenteuerlust habe hier vor allem das Geld gelockt. Höherrangige Nazis wählten dabei den Weg durch das Hochgebirge, was auch besser bezahlt wurde. Zu den Fluchthelfer durch die Berge gehörte Walter Schöpf, der vor der Kamera von seinen Erfahrungen berichtet. Er schmuggelte die Menschen ohne Nachfragen über den Reschenpass. Gesprochen wurde dabei kaum: „Wenn fünf bis zehn Leute sagen, sie möchten drübergehen, dann fragst du nicht nach, wer die sind. […] Hauptsache, sie haben dich bezahlt.“
Die Filmemacher*innen stellen auch jene Orte vor, die für die Fluchthelfer*innen eine Rolle spielten. Dazu zählen die Städte Sterzing und Bozen, aber auch Klöster. Während letztere normalerweise nicht durchsucht wurden, stellt das Deutschorden Kloster in Lana eine Ausnahme da. Dort werden 15 geflohene Soldaten, hohe Geldbeträge sowie geraubte Kunst gefunden. Es deutet sich bereits die Rolle des Vatikans an. In Rom wurden Empfehlungsschreiben für Kriegsverbrecher verfasst, auf deren Grundlage durch das Rote Kreuz neue Pässe ausstellte – ein wichtiger Schritt für die Flucht nach Übersee. Das Priesterkolleg Santa Maria dell‘ Anima spielte hierbei eine entscheidende Rolle, wird es doch mit Bischof Alois Hudal von einem NS-Sympathisant geleitet. Wie absurd und widersprüchlich die Situationen sich oftmals darstellten, so dass oft kein abschließendes Urteil über die Fluchthelfer*innen möglich ist, gibt Josel Gelmi zu bedenken: Laut seiner Aussage habe Hudal auch weiteren Flüchtlingen wie Neuseeländern und Italienern, teilweise zum gleichen Zeitpunkt, geholfen. Am Beispiel Hudals wird jedoch auch das Motiv des Antikommunismus sehr deutlich. So bittet er beispielsweise den argentinischen Präsidenten Perón um Visa für Nationalsozialisten, da diese auch Opfer eines Systems gewesen seien.
Die Dokumentation befasst sich auch mit der Identitätsfrage der Südtiroler*innen. Gehört Südtirol zu Italien, gehört es zu Deutschland oder ist es ein eigenes Land? Die Entwicklungen während des Faschismus in Italien und Deutschland wird nachgezeichnet, ebenso die Begeisterung großer Teile der Bevölkerung für das nationalsozialistische Deutschland. Dem Dokumentationsteam gelingt es, hier Zeitzeug*innen aus Südtirol zu Wort kommen zu lassen, die als junge Erwachsene oder Jugendliche den Zweiten Weltkrieg erlebten. Im Mittelpunkt steht die damalige Debatte um die vom deutschen Regime forcierte Auswanderung der Südtiroler*innen nach Deutschland. Öffentlich gibt es lange keine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen nach Kriegsende in Südtirol. Langsam aber öffne sich die Debatte.
„Die Rattenlinie – Nazis auf der Flucht durch Südtirol“ ist eine detaillierte Dokumentation über ein Thema, das noch nicht im erinnerungskulturellen Kanon angekommen ist. 75 Jahre nach Kriegsende sollte es jedoch elementarer Bestandteil der Aufarbeitung sein, wie mit den Nationalsozialist*innen nach Kriegsende verfahren wurde. Die Möglichkeit zur nahezu unbehelligten Flucht scheint dafür exemplarisch. Trotz der regionalen Fokussierung ist die Dokumentation ein guter Einstieg in das Thema. Insbesondere die Zeitzeug*innenbeiträge geben Denkanstöße, sich weiter mit der „Rattenlinie“ zu beschäftigen.