Im Februar 2020 hat der Historiker Volker Ullrich nach seiner zweibändigen Hitler-Biographie mit „Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches“ rechtzeitig zum 75. Jahrestag des Kriegsendes ein neues Buch veröffentlicht. Da er den Selbstmord Adolf Hitlers zum Ausgangspunkt seiner Erzählung wählt, beginnt seine Schilderung jedoch schon am 30. April 1945 und geht im Prolog auch über die Gesamt-Kapitulation am 8./9. Mai 1945 hinaus. Auf den 240 Textseiten ist „Acht Tage im Mai“ keine umfassende Darstellung oder tiefgehende Analyse der letzten Kriegstage, sondern eine skizzenhafte, episodische Erzählung, die stellenweise einem Anthologie ähnelt.
Jedem der im Endeffekt neun Tage ist ein Kapitel gewidmet. Diese beginnen mit Beschreibungen und Deutungen der politischen Ereignisse des jeweiligen Tages. Das sind etwa die Strategie und das Vorgehen der Regierung Dönitz oder die Teilkapitulationen einzelner Städte und Gebiete. Für die letzten Kriegstage legt er detailliert dar, wie die Wehrmacht-Befehlshaber Alfred Jodl, Hans-Georg von Friedeburg, Wilhelm Keitel oder Hans-Jürgen Stumpff erst versuchen, die Unterzeichnung einer Kapitulationserklärung hinauszuzögern bzw. diese lediglich mit den westlichen Alliierten zu vereinbaren und dann die bedingungslose Kapitulation erst in Reims und dann am 8./9. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst unterzeichnen. Diese Episoden schildert er nah an einer Inszenierung samt Spannungsbögen und Stimmung erzeugenden Bildern.
Neben diesen Aspekten der Herrschaftsgeschichte und historischen Einordnungen lebt „Acht Tage im Mai“ jedoch vor allem von den Anekdoten, Erinnerungen und Tagebucheinträgen, die sich in ganz Europa abspielen.
An vielen Stellen sind die neun Tage dabei vor allem der Aufhänger für Hintergrundgeschichten sowie eine Schilderung nachfolgender Geschehnisse. So kam zwar die sogenannte „Gruppe Ulbricht“ – ein um den früheren Vorsitzenden der Berliner KPD Walter Ulbricht versammelter kommunistischer Kader – aus Moskau nach Berlin. Ullrich geht jedoch auch auf Ulbrichts Zeit in Berlin und im Exil sowie die sowjetischen Interessen und Pläne ein.
In den Schlaglichtern, die Volker Ullrich auf die zeitgenössischen Reaktionen auf das nahende Ende des Deutschen Reichs wirft, nimmt er oftmals drastische Orts- und Perspektivwechsel vor. So kontrastiert er die Erfahrungen der „Gruppe Ulbricht“ mit einer Rede Willy Brandts und einem Tagebucheintrag von Astrid Lindgren, die sich zu diesem Zeitpunkt unabhängig voneinander beide in Stockholm aufhalten.
Teilweise stehen die Kontrastierungen, die Ullrich vornimmt, nicht im Zusammenhang, andernorts handelt es sich um vergleichbare Erlebnisse. Jedoch sind die Erfahrungen, die der Ingenieur und SS-Mann Wernher von Braun und der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer bei ihrem jeweils ersten Zusammentreffen mit US-amerikanischen Soldaten machten, äußerst unterschiedlich. Während der eine festgenommen wurde, war für den anderen die Flucht vorüber.
Durch die episodenhafte Erzählung vermeidet Ullrich eine geschlossene Analyse oder ein Narrativ. Andererseits ist zu fragen, was Ullrich mit der Gegenüberstellung der Zustände in den „Rheinwiesenlagern“ der westlichen Alliierten und die Situation der „Sonderhäftlingen“ im KZ Dachau oder der Schilderungen freundlicher US-amerikanischer Soldaten und Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten, beabsichtigt. Ullrich verdreht dabei keine Fakten und betont an anderen Stellen etwa, dass sowjetische Soldaten keinesfalls kollektiv verurteilt werden können. Dennoch ist das erzeugte Bild seiner Auswahl von gegenübergestellten Ereignissen nicht zu unterschätzen.
Volker Ullrich hat für seine Schilderungen der politischen und militärischen Entwicklungen sowie für die Erinnerungen der Zeitgenoss*innen keine neuen Quellen aufgetan, sondern bereits in Literatur verarbeitete Zeugnisse und Perspektiven zusammengetragen. Die Geschichten und Tagebucheinträge stammen ganz überwiegend von damals oder später bekannt gewordenen Menschen. Das ist einerseits schade, weil sie den bewanderten Leser*innen wenig neues bieten dürften, andererseits kommt so auch die Perspektive und die persönlichen Erfahrungen von weniger privilegierten Besiegten und Befreiten zu kurz. Allerdings richtet sich „Acht Tage im Mai“ an ein breites Publikum, für das die Geschichte von Marlene Dietrich, die ihre Schwester als ehemaligen KZ-Häftling in Bergen-Belsen vermutete, um vor Ort festzustellen, dass diese dort eine Kantine für die Wehrmacht betrieben hatte, bisher unbekannt sein könnte.