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Der Comic in seiner heute bekannten Form beginnt thematisch mit einer Flucht: Superman, der in den 1930er Jahren in den USA von Jerry Siegel und Joe Shuster als erste Superheldenfigur der Comicgeschichte erschaffen wurde, muss seinen Heimatplaneten Krypton verlassen und wird mit einer Rakete auf die Erde geschickt. Superman lebt dort wie ein Mensch; er versteckt seine übermenschlichen Fähigkeiten und setzt diese nur im Geheimen und für den Kampf gegen das Böse ein. Flucht und Exil, Fremdheit und Assimilation sind bis heute die bestimmenden thematischen Signaturen des Mediums. Diese sind untrennbar mit der Herkunft jener Personen verbunden, die den Comic geprägt haben. Denn Superhelden sind nicht nur ein amerikanisches Phänomen, sondern vor allem ein jüdisches, so der Comic-Historiker Arlen Schumer mit Verweis darauf, dass Jerry Siegel und Joe Shuster Kinder jüdischer Einwanderer*innen aus Europa waren (vgl. Kampfmeyer-Käding / Kugelmann 2010). Die Spuren der jüdischen Prägung der frühen Comicgeschichte sind jedoch durch Namensänderungen vieler ‚Comicpioniere‘ verwischt.
Seinen Durchbruch als unterhaltendes und zunehmend auch überzeichnendes Medium feierte der Comic mit der Etablierung von Comicstrips in US-amerikanischen Tageszeitungen. Richard Felton Outcault erschuf 1895 das ‚Yellow Kid‘ für die Sonntagsseite vom New York World, das jede Woche neue Abenteuer auf wenigen Bildern erlebte (vgl. Knigge 2009: 8). Die Comicstrips wurden für ein erwachsenes, urbanes Publikum gezeichnet und diese Tradition hat sich bis heute erhalten. Von Beginn an eng mit den technischen Reproduktionsbedingungen verknüpft, negiert der Comic die Idee des Originals im Sinne der ursprünglichen Zeichnung und ist auf eine Massenkultur ausgerichtet (vgl. Engelmann 2013: 16). Das Potenzial der Comicstrips entfaltete sich über die wortlose Bilderzählung, die in einem ethnisch und sprachlich vielfältigen New York Ende des 20. Jahrhunderts von allen verstanden werden konnte: „[D]as Gefühl einer gemeinsamen Identität“ (Knigge 2009: 10) wurde erzeugt.
Der Comic-Künstler und -theoretiker Scott McCloud führt in seiner als Comic gestalteten Einführung Comics richtig lesen eine Minimaldefinition für das Medium ein, die sich in der Forschung trotz anhaltender Diskussionen etabliert hat. Er definiert Comics als „zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen.“ (McCloud 2001: 17) Das Bild ist konstitutiv für den Comic; die Sprache als eigenes Zeichensystem wurde erst später integriert (vgl. Engelmann 2013: 19).
Als Meilenstein für die Darstellung ernsthafter, per se nicht unterhaltsamer Sujets, gilt bis heute Art Spiegelmans Maus. Die Geschichte eines Überlebenden, das Ende der 1980er Jahre auf Englisch und kurze Zeit später auch auf Deutsch erschien (Spiegelman 2008). Mit einem Pulitzer-Preis im Jahre 1992 ausgezeichnet, wurde der Comic zunehmend als seriöses Medium auch in der Literaturwissenschaft wahrgenommen. Die Geschichte seines eigenen jüdischen Vaters, der von den Nationalsozialisten in die Konzentrationslager Dachau und Auschwitz deportiert wurde, überlebte und in die USA migrierte sowie die persönliche Annäherung Spiegelmans an ebendiese Vergangenheit seines Vaters stehen im Zentrum des Comics. Er setzt den Menschen Tiermasken auf: In einer vereinfachenden Darstellung werden Juden*Jüdinnen zu Mäusen und Deutsche zu Katzen. Die Masken sind kulturgeschichtlich vielfach konnotiert und verweisen einerseits intertextuell auf die Comicstrips und Tiere als handelnde Akteur*innen, sie führen andererseits aber auch das menschenverachtende Vokabular sowie den Rassismus und Antisemitismus der Nationalsozialisten vor (vgl. Frahm 2006: 21f.).
Ole Frahm verweist in seiner einschlägigen Monografie zur Thematik auf die spezifisch parodistische Struktur des Comics, in der Bild und Schrift eigenständige, selbstreferentielle Zeichen bleiben und der Comic durch die fehlende Einheit ein zerteiltes Medium bleibt (vgl. Frahm 2006: 33). Obwohl die Zeichensysteme nicht miteinander verschmelzen, verweisen sie wechselseitig aufeinander, sodass ein rein literatur- oder kunstwissenschaftlicher Zugang zu diesem Medium nicht ausreichend ist (Dittmar 2011: 9). Das Medium zeichnet sich durch eine komplexe Struktur aus, die aus unterschiedlichen Komponenten zusammengesetzt ist: Durch die permanente Wiederholung, die sich in der Grundstruktur der Panels manifestiert, sowie die fehlende Referenz auf ein Original, kann nach Frahm das Überleben der Shoah in Maus überhaupt erzählt werden (vgl. Frahm 2012: 24).
Der Comic ist durch die Panels und die Rinnsteine, dem „Weiß der Panelzwischenräume“ (Engelmann 2013: 10), strukturiert. Rezipient*innen müssen sich die ‚Lücke‘ zwischen den Panels kognitiv erschließen, um die Zeit- und Raumdimensionen sowie Entwicklungen der Figuren zu verstehen. Die Rezeption wird durch die Seitenarchitektur bestimmt, die Wahrnehmung der räumlichen Anordnung erweist sich als konstitutiv für das Verständnis (vgl. Platthaus 2012: 84). Gleichzeitig ist der Rinnstein ein Raum der Selbstreflexion, da er das Fragmentarische des Mediums hervorhebt und auf die Spezifik des Mediums selbst verweist (vgl. Engelmann 2013: 10). Diese Selbstreflexion wird bereits von Spiegelman auf die inhaltliche Ebene durch eine autobiografische Erzählung übertragen. In dieser Übertragung wird die zunehmende Ernsthaftigkeit des Inhalts sowie das politische Potenzial des Mediums deutlich. So kann beispielsweise eine Annäherung an das eigene Ich in den Zeichnungen aus einer Eigen- und Fremdperspektive dargestellt werden; Gleiches gilt für die Möglichkeit, existierende Machtstrukturen infrage zu stellen.
Während vor allem im 20. Jahrhundert keine weibliche Zeichnerin in der Comicszene präsent war und lediglich auf inhaltlicher Ebene Superheldinnen in Erscheinung traten, ist seit Marjane Satrapis international erfolgreicher Graphic Novel Persepolis (2000-2003) auch eine explizit weibliche Perspektive präsent (Satrapi 2013). Die Kritik an gegenwärtigen globalen Machtgefällen spielt zunehmend in Comics der letzten Jahre eine bedeutende Rolle. Zahlreiche Graphic Novels, die sich sowohl mit historischen als auch aktuellen politischen Strukturen beschäftigen, basieren auf Recherchearbeiten der Zeichner*innen. Hierbei wird die eigene Position des Zeichnenden in unterschiedlicher Weise reflektiert und integriert. Die Selbstreflexivität, die das Medium durch seine Leerstellen sowie seine heterogenen Zeichensysteme Schrift und Bild bestimmt, wird insbesondere mit der Kritik an politischen Systemen aufgegriffen. In Graphic Novels aus den letzten Jahren nimmt die Kritik an der aktuellen europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik einen immer größeren Raum ein. Während zur Zeit der Entstehung des modernen Comics vor allem die vielfältigen Sprachen und kulturellen Prägungen der Zeichner*innen ausschlaggebend waren für die Verständigung über Bilder als ein zumindest universell verständlicheres Zeichensystem als Schrift, ist heute die Marginalisierung bestimmter Gruppen im Diskurs sowie das Privileg einiger Sprecher*innenpositionen der Ausgangspunkt zahlreicher Graphic Novels. Ebenso wie in den autobiografischen Graphic Novels wird dabei häufig ein Einzelschicksal in den Fokus gerückt, wobei die Text-Bild-Kombination darüber hinaus auf das politische System verweist, das als Grund für die Flucht- und Exilerfahrung des Individuums benannt wird. Die Universalisierung schlägt sich bereits in dem Bild als Brücke zwischen verschiedenen Sprachen nieder. Bilder können nicht unabhängig von der kulturellen Prägung ‚gelesen‘ werden. Insbesondere die Rinnsteine als ‚leere‘ Räume zwischen den Panels, die Raum-, Zeit- und Figurenentwicklungen assoziieren lassen, erfordern eine entsprechenden Lese- und Sehsozialisation, um kognitiv erschlossen werden zu können (vgl. Knigge 2009: 23). Die bildliche Darstellung erleichtert gleichwohl den Zugang für Rezipient*innen und zeichnet den Comic damit als ein im Vergleich zur Literatur im klassischen Sinne deutlich universelleres Medium aus. Anonymisierung und Universalisierung werden im Comic für eine Systemkritik fruchtbar gemacht. Graphic Novels entfalten mit ihren verschiedenen Zeichensystemen ein großes Potenzial zur Verständigung über Sprachgrenzen hinweg. Während die ersten Comics insbesondere durch die Migrations- und Exilerfahrung ihrer Zeichner geprägt waren, werden Flucht und Exil aktuell sowohl aus betroffener wie auch aus außenstehender Perspektive ins Bild gerückt. Darüber hinaus eröffnet das Medium im Kontext aktueller Migrationsbewegungen vielen Geflüchteten eine Möglichkeit, ihre Kriegs- und Fluchterfahrungen erzählbar zu machen (vgl. Fink 2016; Hofmann 2016). Zudem nutzen auch vermehrt staatliche Institutionen die universelle Verständlichkeit von Comics und entwickeln solche zum Zwecke der Integration.
Dittmar, Jakob: Comic-Analyse. Konstanz 2011.
Engelmann, Jonas: Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent-Comic. Mainz 2013.
Fink, Bigna: Bilder und Bomben. Comic-Zeichenkurse für Flüchtlinge, unter: http://www.tagesspiegel.de/berlin/bilder-und-bomben-comic-zeichenkurse-fuer-fluechtlinge/12812910.html [abgerufen: 15.01.2020].
Frahm, Ole: Die Zeichen sind aus den Fugen. Kleine Geschichte des Comics. In: Hans Jürgen Balmes u.a. (Hg.): Comic. Form und Inhalt. Frankfurt a. M. 2012, 8-26.
Frahm, Ole: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale. München 2006.
Hofmann, Madeleine: Wie Flüchtlinge ihre Geschichten in Comics verarbeiten, unter: http://www.bento.de/politik/fluechtlinge-zeichnen-comics-ueber-ihre-flucht-281058/ [abgerufen: 15.01.2020].
Kampmeyer-Käding, Margret / Kugelmann, Cilly: Helden, Freaks und Superrabbis. Die jüdische Farbe des Comics. Berlin 2010.
Knigge, Andreas C.: Zeichen-Welten. Der Kosmos der Comics. Hamburg 2009.
McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Veränderte Neuausgabe Hamburg 2001.
Platthaus, Andreas: Comic und Architektur. In: Hans Jürgen Balmes u.a. (Hg.): Comic. Form und Inhalt. Frankfurt a. M. 2012, 84-100.
Satrapi, Marjane: Persepolis. Gesamtausgabe. Zürich 2013.
Spiegelman, Art: Maus. Die Geschichte eines Überlebenden. Frankfurt a. M. 2008.