Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
|
Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
|
Mit einem neuen Geschichts- und Erinnerungsprojekt möchte das Anne Frank Zentrum Jugendlichen neue Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg aufzeigen. Lernen mit Biografien und die lokale Spurensuche stehen hierfür im Vordergrund. In fünf Städten treffen gerade unterschiedliche Generationen aufeinander. Ein Besuch in Brühl und Gotha.
Eine ältere Dame, kurzes, weißes Haar, dunkle Brille, orangefarbene Weste, wirft einen skeptisch-fragenden Blick in die hell erleuchtete Bibliothek. Schwere Stühle werden hin und her geschoben, Tische mit Keksen und weißem Kaffeeservice eingedeckt. Die Seniorin stützt sich mit einer Hand auf ihrem Rollator ab und schaut nochmals mit in Falten gezogener Stirn den langen Flur entlang. Nur sehr zögernd betritt sie den Raum, nimmt am vordersten Tisch Platz – und harrt geduldig der Dinge, die da kommen mögen. Die Szenerie wiederholt sich einige Male, bis schließlich zehn alte Damen und Herren, zwei Männer, acht Frauen, an vier Tischgruppen Platz genommen haben. Alle sind adrett gekleidet – sie tragen Broschen, Tücher, Krawatten und schweren Silberschmuck. Am Revers tragen die meisten kleine Plastikkärtchen, die mit ihren Namen beschrieben sind.
In der Seniorenresidenz in Brühl, eine 40.000-Seelen-Gemeinde in Nordrhein-Westfalen, gelegen auf halber Strecke zwischen Bonn und Köln, findet an diesem Montagnachmittag eine besondere Begegnung statt. Denn alle zehn Gäste haben in Kindertagen die Anfänge des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs erlebt – sie sind heute 90 und älter. Sie sind gekommen, um mit mehr als einem Dutzend Jugendlichen eines Geschichtsleistungskurses ihre Erinnerungen zu teilen. Denn die Jugendlichen recherchieren zur Lebensgeschichte von drei Menschen aus Brühl, die ermordet wurden oder fliehen mussten und heute woanders leben:
Georg Zwi Rejzewski wurde als Jude verfolgt, verhaftet und in verschiedene Arbeitslager verschleppt. 1949 gelang ihm die Einreise nach Israel, wo er heute im Alter von 91 Jahren lebt. Der alte Mann hat bereits zugesagt, mit den Jugendlichen ein Skype-Interview zu führen.
Marlis Saarikari geb. Bähr ist 1935 in Brühl geboren, als Tochter des Juden Leopold Bähr und der Katholikin Chlothilde Bähr. Nachdem der Vater 1938 flüchtete, lebte Marlis mit ihrer Mutter und ihren Brüdern bis 1944 weiter in Brühl. 1944 floh Marlis mit ihrer Mutter vor der Deportation. Beide konnten als Evakuierte in Thüringen untertauchen. 1945 kehrte sie mit ihrer Mutter und ihren Brüdern zurück nach Brühl. Seit 1956 lebt sie mit ihrem Mann in Finnland. Ihr Vater gilt als verschollen in Auschwitz.
Sibilla Agnes Rombach wurde 1943 als „Asoziale“ verhaftet und kurze Zeit später in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. 1945 wurde sie in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Im April 1945 starb Sibilla Agnes Rombach an den Lagerbedingungen. Im Februar 2019 wurde in Brühl auf Initiative ihrer Cousine Edith Fischer ein Stolperstein vor dem letzten Wohnort von Sibilla Agnes Rombach verlegt.
Die Jugendlichen erhoffen sich durch die Befragung von Georg Zwi Rejzweski und Marlis Saarikari einen Zugang zu deren Erfahrungen. Um mehr über die Gewalt gegenüber Minderheiten in Brühl zu erfahren, möchten die Schüler*innen außerdem mit Menschen sprechen, die selbst zwar nicht verfolgt wurden, aber zu dieser Zeit gelebt haben. Was haben sie von der Verfolgung ihrer Nachbar*innen mitbekommen? Wie haben sie selbst in dieser Zeit gelebt?
Nun sitzen im Brühler Begegnungscafé Jung und Alt zusammen. In drei 15-minütigen Fragerunden sollen beide Seiten die Gelegenheit bekommen, das Leben des Gegenübers kennenzulernen, ein wenig besser verstehen zu können und die Unterschiede im Erwachsenwerden herauszuarbeiten. „Mein 1. Schultag“ heißt es auf dem Aufsteller, der auf den Tischen verteilt wurde. Schnell füllt sich der Raum mit viel Gemurmel. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen lebhaft davon, wie sie eingeschult worden sind, von Plakatwänden mit der Aufschrift „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg“, die sie entlang ihres allmorgendlichen Schulweges begleiteten, oder täglichen Begrüßungszeremonien.
45 Minuten dauern die intensiven Gespräche über die eigene Kindheit, das eigene Zuhause und persönliche Ferienerlebnisse. Die Jugendlichen lauschen aufmerksam, nicken immer wieder interessiert. Genauso ist es andersrum, wenn die jungen Menschen etwa von pinken Schultüten erzählen oder von einem netten, freundschaftlichen Verhältnis zu ihren Lehrkräften.
Viele der älteren Menschen berichten von einem unbeschwerten Leben, das im Kontrast zu den Lebenswegen der drei verfolgten Menschen aus Brühl steht, zu denen die Jugendlichen recherchieren. Angst vor Verfolgung gab es wenig. In den nächsten Wochen werden die Jugendlichen noch einmal auf die Zeitzeug*innen treffen – um noch mehr über Marlis Saarikari, Georg Zwi Rejzewski und Sibilla Agnes Rombach zu erfahren. Für die zwei Organisatorinnen vom Jugendkulturhaus Passwort Cultra, Sarah Kassan und Bärbel Vomland, ist das Begegnungscafé ohnehin nur der Auftakt ihres Projektes. „Die Zeitzeug*innen, die heute noch in Brühl leben, bieten den jungen Menschen die Chance, die Geschichte um 1939 lebendig werden zu lassen“, meint Kassan. Ihr gehe es mit dem Projekt nicht nur darum, neue Fakten zum Nationalsozialismus herauszufinden, sondern zu verstehen, welche Bedeutung die Vergangenheit für die Jugendlichen habe: „Die Frage ist, was hat das eigentlich mit mir zu tun?“
Die Geschichte des Nationalsozialismus könne im Geschichtsbuch nachgelesen werden, ergänzt Kollegin Bärbel Vomland, doch das sei alles ein bisschen trocken. Durch Biografien bekomme die Geschichte eine andere Relevanz, sagt sie. Für viele Jugendliche sei es eine große Motivation, überhaupt noch einmal die Gelegenheit zu haben, mit Zeitzeug*innen sprechen zu können. Das Jugendkulturhaus Cultra stellt den jungen Menschen darüber hinaus eine Video- und Fotografin sowie eine Expertin für kreatives Schreiben zur Seite, um die Erzählungen rund um die drei Biografien künstlerisch aufzubereiten. Es gebe auch schon eine ganz konkrete Idee, freut sich Bärbel Vomland: „Eine Gruppe möchte ihre Recherche-Ergebnisse als Tagebuch niederschreiben und dieses als Podcast veröffentlichen, um es anderen jungen Menschen zugänglich zu machen.“
Vor vier Jahren hat das Jugendkulturhaus schon einmal an einem ähnlichen Projekt mitgearbeitet. Auch damals kam die Idee dazu vom Anne Frank Zentrum aus Berlin. „2019 jährt sich der Beginn des Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal. Das wollten wir zum Anlass nehmen, um den Blick auf die Geschichte ein wenig auszuweiten. Viele Menschen denken beim Jahr 1939 und den 1. September ausschließlich an Kriegshandlungen. Geschichten von NS-Verfolgungen, die sich zeitgleich ereigneten, kommen meistens zu kurz“, erklärt Christine Wehner, die das Projekt „1939.2019 – Vielfalt lokaler Erinnerungen“ betreut. In fünf Orten arbeitet das Anne Frank Zentrum gemeinsam mit Bildungseinrichtungen und lokalen Stadtverwaltungen an dieser Idee. Das sind neben dem nordrhein-westfälischen Brühl der Landkreis Göttingen, die Stadt Drebkau, südwestlich von Cottbus, das erzgebirgische Lößnitz in Westsachsen und Gotha in Thüringen.
„Wir haben den Wunsch, dass die Ideen vor allem von Jugendlichen kommen, damit die ihre ganz eigene Erzählform finden, wie sie mit der Geschichte in Kontakt kommen“, hofft Christine Wehner. Die historisch-politische Bildung stehe in Zukunft vor der Herausforderung, alternative Formen der Erinnerung zu finden, weil die Berichte von Zeitzeug*innen zunehmend rar werden, gerade von Menschen, die selbst Verfolgung erleben mussten. „Wir müssen weiterdenken und wollen herausfinden, welche Medien und Quellen sich dafür eignen, Geschichte lebendig zu vermitteln.“ Der lokale Fokus biete einen entscheidenden Ausgangspunkt, um anhand persönlicher Geschichten aus der Nachbarschaft an das große Ganze anknüpfen zu können, so Wehner. In drei Fortbildungen wurden die beteiligten Orte vom Anne Frank Zentrum bereits vorab weitergebildet, u.a. zum Ansatz des biografischen Lernens und zur Geschichtsarbeit mit Jugendlichen.
Christine Wehner wünscht sich zudem, dass unter den beteiligten Projektpartnern ein Netzwerk entsteht, das sich gegenseitig berät und Ideen miteinander teilt. Vom Ansatz des Projektes ist sie derweil überzeugt: „Die Auseinandersetzung mit Biografien macht komplexe Geschichte greifbar.“ Diesem Gedanken nacheifern möchten auch Nicole Strohrmann und ihre Kolleginnen Tina Zitzmann und Cornelia Meleschko der Stadtbibliothek Gotha. Auch hier haben sich rund 20 junge Menschen gefunden, die sich auf die Spuren lokaler Geschichte machen wollen. In einem weiten Stuhlkreis sitzen sie das erste Mal zusammen und wollen verstehen, was die Verantwortlichen mit dem Projekt genau im Sinn haben. Den Inhalt für die kommenden Wochen überlassen die Mitarbeitenden der Stadtbibliothek den Jugendlichen selbst, ihren Wünschen und Bedürfnissen. Sie wollen aber zumindest erste kleine Impulse liefern.
„Was fällt euch zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ein?“ Nicole Strohrmann schaut suchend nach links und rechts. Nach Sekunden des Schweigens und einigen unsicheren Blicken schnellen die Arme nach oben. „Gewalt“ ist das erste Wort, das fällt. Was folgt, ist eine lange Liste an Begrifflichkeiten, mit denen die Schüler*innen diese weit zurückliegende Zeit zu charakterisieren versuchen – keine langen Erläuterungen, es bleibt vorerst bei einer losen Sammlung: „Alltag“, „Leid“, „Begeisterung“, „Ungerechtigkeit“. Um den Jugendlichen jemanden an die Seite zu stellen, der diese Themen mit Inhalt und eigenen Erlebnissen füllen kann, hatte die Stadtbibliothek bereits vor dem Auftakttreffen Zeitzeug*innen besucht, die bereit sind, sich zu beteiligen.
Ein besseres Verständnis für das Leben vor gut 80 Jahren, das erhoffen sich die Jugendlichen von diesen Begegnungen. Sie möchten erfahren, wie der Krieg im Alltag zu spüren gewesen war – und wie es möglich war, sich von der nationalsozialistischen Ideologie überzeugen zu lassen, sodass Menschen dazu bereit waren, ihre eigenen Nachbar*innen, Freund*innen und Kolleg*innen an das Hitler-Regime zu verraten und auszuliefern. Die Stadtbibliothek wird den jungen Menschen dabei helfen, all ihre Fragen in einer angemessen Art und Weise loswerden zu können. Auch im Familienkreis, erzählen die Heranwachsenden, würde es Zeitzeug*innen geben, die diese Zeit zwar selbst miterlebt hätten, die aber nur selten bereit seien, auch darüber zu sprechen. „Ich finde es wirklich schade und traurig, dass ich meinen Opa so wenig dazu fragen kann“, heißt es in der Runde.
Im Geschichtsunterricht werde vieles nur oberflächlich behandelt, weil oft die Zeit fehle, bemerken die Schüler*innen. Genauso fehle in der Schule der intensive Kontakt zu Zeitzeug*innen. „Wir sind eine Generation, die glücklicherweise keinen Krieg erleben musste. Aus diesem Grund sollten wir uns damit auseinandersetzen, um zu wissen und zu verstehen, was alles in der Zeit des Krieges und des Nationalsozialismus passiert ist, auch um zu verhindern, dass sich so etwas jemals wiederholt. Es gibt einfach Dinge, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen“, meint eine Schülerin. Besonders die Geschichte in und um die Stadt Gotha ist für die Jugendlichen interessant, um die eigene Heimat besser kennenzulernen und zu erfahren, was vor der eigenen Haustür passiert ist.
Damit das gelingt, suchen die Projektverantwortlichen in Gotha nicht nur nach Personen, sondern auch nach Orten, die sich dafür eignen, Geschichte lebendig zu vermitteln: Stolpersteine, Archive, Wohnhäuser oder den jüdischen Friedhof in Gotha, den sie an diesem Nachmittag besuchen, um zu erfahren, welche Möglichkeiten dieser dem Vorhaben bietet. Die Grabstätte liegt zwar direkt an einer vielbefahrenen Straße, aber auch versteckt hinter meterhohen, dicht bewachsenen Bäumen. Sowohl den Nationalsozialismus als auch die DDR-Zeit habe der jüdische Friedhof, anders als die Synagoge, die 1938 von der SA in Brand gesetzt wurde, annähernd schadlos überstanden, erzählt Matthias Wenzel, Mitglied im Verein für Stadtgeschichte Gotha, der die Mitarbeiterinnen über das Gelände führt. Die Trauerhalle sei allerdings bereits in den achtziger Jahren abgerissen worden, weiß er.
Das hügelige, begrünte Areal strahlt einen morbiden Charme aus. Die Grabsteine sind in die Jahre gekommen, aber dennoch gut erhalten. Einzelne sind rundherum mit Efeu bewachsen, nur wenige unter der eigenen Last in sich zusammengefallen. Allerdings, informiert Matthias Wenzel, seien bei einem antisemitischen Vorfall im vergangenen Jahr Buchstaben von gleich mehreren Grabsteinen entfernt worden. In der Auseinandersetzung mit der Geschichte soll auch die Brücke ins Hier und Jetzt geschlagen werden – auch um zu verstehen, wie bedrohlich der Antisemitismus immer noch ist. Der Stadthistoriker weiß, welche Biografien sich besonders gut für die Recherche der Jugendlichen eignen würden. Immerhin 400 von 5000 jüdischen Menschen, die zur Zeit des Nationalsozialismus in Gotha lebten, wurden auf dem kleinen Friedhof beigesetzt. Für Bibliotheksleiterin Nicole Strohrmann und ihre Kolleginnen, die im Projekt mit der Stiftung Schloss Friedenstein kooperieren, ein inhaltlicher Schatz für die Arbeit in den kommenden Wochen.
Was am Ende des Projektes „1939.2019 – Vielfalt lokaler Erinnerungen“ in der Stadt bleiben wird, darüber sind sich die Verantwortlichen noch nicht wirklich einig. Auch die Jugendlichen sollen ihre Vorstellungen einbringen dürfen. Ob die Begegnungen mit den acht Zeitzeug*innen als selbstproduzierte Kurzfilme im Kinosaal zu sehen sind oder ob Ausschnitte von Tonaufnahmen über Lautsprecher in der Gothaer Innenstadt abgespielt werden, sei momentan noch offen – Ideen aber gebe es in jedem Fall viele. Für Nicole Strohrmann ist es unabhängig davon am wichtigsten, den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich in anderer Form mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen, als Fakten im Schulbuch nachzulesen. „Es ist gut und notwendig, dass in der Stadt eine Auseinandersetzung stattfindet. Denn diese Geschichten prägen uns alle, alt wie jung.“