Im Dezember 2019 erscheint der mittlerweile 28. Band des Jahrbuchs für Antisemitismusforschung, herausgegeben von Stefanie Schüler-Springorum für das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin (ZfA), dessen Direktorin sie ist. In diesem Sammelband widmen sich die historischen Beiträge der Évian-Konferenz 1938 und ihrer Aktualität. Gleich zwei Texte befassen sich mit der intellektuellen Rechten, weitere Beiträge anschauungsbezogen u.a. mit Exterritorialisierung des Antisemitismus oder einer feministischen Zeitschrift, bevor drei Länderstudien den Band beschließen.
Wolf Gruner untersucht die antijüdische NS-Politik des Jahres 1938 rund um die Évian-Konferenz. Eingangs konstatiert Gruner den Widerspruch des NS-Staates einerseits Jüdinnen*Juden vertreiben zu wollen, während durch antijüdische Gesetze diesen die finanziellen Mittel zur Emigration fehlten und durch Annexionen mehr Jüdinnen*Juden im Reich leben würden. Detailliert beschreibt der Autor Überlegungen und Maßnahmen in nationalsozialistischen Organen zur Ausweisung bzw. forcierten Auswanderung, zur Zwangsarbeit und Anwendung von Gewalt, insbesondere den Novemberpogromen 1938. Spannend ist in Gruners Artikel vor allem die nachgezeichnete Steigerung von Gewalt, die ihm zufolge auch auf den Frust zurückging, dass vorherige Maßnahmen nicht zur Massenauswanderung geführt hatten.
Im zweiten Beitrag gibt Marion Kaplan einen Überblick über die Bereitschaft süd- und zentralamerikanischer Länder deutsche und österreichische Jüdinnen*Juden aufzunehmen. Dabei wirft sie einen besonderen Blick auf die Dominikanische Republik, die jüdische Landwirt*innen geradezu anwarb. Kaplan diskutiert mehrere Erklärungen für diese Politik, von dem Wunsch nach positiver Außendarstellung angesichts brutaler Politik und Massakern an der haitianischen Bevölkerung, dem Mangel an Landwirt*innen angesichts ebendieser Massaker und dem finanziellen Vorteil, da eingewanderte Jüdinnen*Juden Unterstützung durch jüdische Organisationen weltweit erhielten. Anhand von Schilderungen von Emigrant*innen zeichnet Kaplan auch deren Lebensbedingungen und den (Nicht-)Kontakt bzw. Haltung zur dominikanischen Bevölkerung nach.
Ebenfalls mit Aufnahmeländern bei der Konferenz von Évian befasst sich Paul R. Bartrop, konkret mit dem Britischen Dominions und Kolonien. Kanada, Australien und Neuseeland – allesamt in den Jahrhunderten zuvor durch Einwanderung geprägt –orientierten sich dabei zunächst an der britischen Politik, setzten jedoch ihre eigene Flüchtlingspolitik um. Wie bekannt, erklärten sich die teilnehmenden Länder bereit nur wenige tausend Jüdinnen*Juden aufzunehmen. Auf solidarische Lippenbekenntnisse folgten Australiens Sorge um importierte „racial problems“ oder Kanadas Argument, dem Land sei es verfassungsgemäß nicht möglich eine Einwanderungsquote einzuführen. Bartrop nimmt auch die Flüchtlingspolitik dieser Länder nach 1945 in den Blick, etwa die Aufnahme vietnamesischer „Boat People“ sowie die rigide Internierungspolitik gegenüber Flüchtlingen ab den 1990ern in Australien. Bartrops Perspektive auf (Dis-)Kontinuitäten in der Flüchtlingspolitik der Länder ist äußerst spannend, seine Beispiele für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kommen jedoch im Rahmen eines Sammelbands nicht ausreichend zum Tragen.
Auch Roland Bank zieht eine Verbindung der Évian-Konferenz zum Flüchtlingsschutz nach 1945. Obwohl nicht für Verfolgte im Heimatland gedacht, sieht Bank einen Bezug der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 zur Évian-Konferenz, etwa durch das Verständnis von Flüchtlingsschutz als internationale Aufgabe. Auch wenn es positive Beispiele für internationale Verantwortungsteilung bei der Aufnahme von Flüchtlingen gibt, zeigt z.B. die Situation von Flüchtlingen aus Syrien, die zum allergrößten Teil in den Nachbarländern aufgenommen wurden, die Kontinuität der Fragen von Évian.
Heute gibt es mit dem erst 2003 entfristeten Mandats des UNHCR eine an einen Staatenbund gekoppelte Einrichtung, die zumindest teilweise von den einzelnen Staaten unabhängig agieren kann. Das sei – trotz benötigter Zustimmung und Zuwendung von (betroffenen) Staaten – eine deutliche Verbesserung zum „Intergovernmental Committee for Political Refugees“. Das nach der Évian-Konferenz gegründete Komitee stand außerhalb des Völkerbundes und wurde zum Teil blockiert, da es auch beabsichtigte Verhandlungen mit der NS-Regierung zu führen.
In ihren Beiträgen zu Rolf Peter Sieferle nehmen Volker Weiss und Hans-Joachim Hahn den Antisemitismus des Antaios Verlags sowie das Geschichtsdenken, die Umweltkrise bei Sieferle und seine Rhetorik in den Blick. Sieferle, Umwelthistoriker und zuletzt Professor in St. Gallen, hatte 2017 mit seiner posthumen Veröffentlichung „Finis Germania“ für einen Skandal gesorgt.
Mit diesem Werk hat sich Volker Weiss tiefgehend auseinandergesetzt. Fundiert seziert er Textpassagen, widerlegt sie und zeigt, bei wem Sieferle sich für seine Thesen bedient, umdeutet bzw. diese als seine –angeblich neue – Erkenntnis darstellt. Die Leistung von Weiss liegt hierbei vor allem darin, die Andeutungen und historischen Referenzen Sieferles, insbesondere zu Antisemitismus und Shoah, zu kontextualisieren und somit deren problematischen Inhalt zu verdeutlichen. „Finis Germania“, so Weiss, sei „kein Beitrag zu vergangenheitspolitischen Debatten, sondern Agitation gegen diese“. Bemerkenswert ist auch Weiss’ Einordnung der Neuen Rechten im Umfeld des Antaios Verlags und deren Bezug zur Shoah.
Hans-Joachim Hahn befasst sich hingegen intensiv mit vorherigen Veröffentlichungen Sieferles aus den 1980ern und -90ern und auch Sieferles Werdegang und Einflüssen. Nach der deutschen Vereinigung werden seine Texte zweifellos nationalistisch. Sieferle trifft Mitte der 1990er Aussagen, die „sich als Schuldabwehr-Antisemitismus verstehen lassen“ und sich später auch in „Finis Germania“ wiederfinden. An Zitaten aus mehreren Werken zeigt Hahn auf, wie Sieferle sich durch ein „heroisches Unbeteiligtsein seiner Beobachterposition“ zu einem starken Relativismus aufschwingt, der letztlich – laut Sieferle – ein Lernen aus der Geschichte unmöglich mache.
Unter dem Titel „Frauenbewegte Opferidentifizierung?“ analysiert Clara Woopen die feministische Zeitschrift „Courage“, die von 1976 bis 1984 erschien. Eingangs hält Woopen fest, dass es in der Frauenbewegung nach 1968, etwa durch ein „Überblenden des Holocaust durch die Hexenverfolgung“ und die Opferidentifizierung, in der Frauenbewegung antisemitische Schuldabwehr gegeben habe, die jedoch auch innerhalb der Bewegung kritisiert wurde. In der Zeitschrift Courage habe es zum Einen in zahlreichen Artikeln eine Opfererzählung gegeben, wonach im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg die unpolitische deutsch-arische Frau in dem ihr zugedachten Bereich „vom männlich konnotierten Krieg heimgesucht worden war“. Andererseits habe eben diese Opfererzählung im Widerspruch zum Bild einer unabhängig handelnden Frau gestanden, wodurch Täterinnen in den Blick genommen und auch im NS verfolgte Frauen thematisiert wurden.
Neben einer Analyse einer türkischen Fernsehserie als Politikinstrument zur kontrafaktischen Geschichtsschreibung und einer Untersuchung von gegenseitig jüdisch-muslimische Wahrnehmungen „[z]wischen Ablehnung und Kooperationsbereitschaft“, befasst sich die dritte Länderanalyse mit Großbritannien.
Hochaktuell ist die Antisemitismus-Debatte um Jeremy Corbyn und die britische Labour-Partei. Dafür schaut sich Armin Pfahl-Traughber das Israel-Bild in der Partei in der Geschichte an, von Befürwortung sozialistisch-jüdischer Aspekte bis zum Bröckeln der pro-israelischen Ausrichtung durch palästinasolidarische Gruppen. Der Erfolg der Parteilinken, aus der letztgenannte Gruppen stammten, verhalf Jeremy Corbyn zum parteiinternen Aufstieg.
Für seine detaillierte und anschauliche Analyse hat Pfahl-Traughber eine Reihe von Äußerungen, Handlungen und Kooperationen herangezogen, etwa Antisemitismusvorwürfe gegen den Labourpolitiker Ken Livingston oder die Einstellungen zu palästinensischen Organisationen. Pfahl-Traughber konstatiert, dass die Partei ein Antisemitismus-Problem habe. Konservative Medien nutzen die von Pfahl-Traugbher aufgezählten Fälle zwar um der Partei zu schaden, erfunden hätten sie diese jedoch nicht. Corbyn und Labour seien nicht grundsätzlich antisemitisch, es gebe jedoch antisemitische Stimmen in der Partei. Allerdings herrsche bei Labour eine Ignoranz und fehlende Sensibilität gegenüber Antisemitismus in allen Teilen der Gesellschaft, auch in der eigenen Partei.
Das Jahrbuch für Antisemitismusforschung 28 umfasst eine spannende Bandbreite von Themen mit teilweise bestechendem Gegenwartsbezug. Trotz der Vielfalt der Themen ist die Zusammenstellung durch einen Fokus auf die Évian-Konferenz 1938, die Intellektuelle Rechte und die Länderstudien nicht beliebig, sondern ermöglicht einen tiefgehenden Einblick aus verschiedenen Perspektiven, wie es für Sammelbände selten ist. Die thematisch für sich stehenden Beiträge sind gleichermaßen von Bedeutung, da sie zum größten Teil bisher unbeleuchtete Aspekte aufgreifen und diese in größere Forschungsfelder einbinden. Die Theoriegenerierung findet im Jahrbuch nur bedingt statt, wobei zu fragen ist, ob dies überhaupt der Anspruch an eine jährlich erscheinende Reihe sein kann.
Die vorliegende Rezension beruht auf dem vorläufigen Skript vom November 2019. Bei Zitaten konnten daher keine Seitenangaben gemacht werden. Der Sammelband erscheint voraussichtlich im Dezember 2019.