Bereits zum 70. Jahrestag des Überfalls auf Polen veröffentliche der britische Historiker Richard Overy sein Buch „Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Krieges“ auf englisch und deutsch. Dabei zeichnet er die Ereignisse der Woche vor Kriegsbeginn akribisch aus deutscher, polnischer, britischer und französischer Perspektive nach. Seine Schilderung der Tage vom 24. August bis 3. September 1939 sollen zeigen, „dass nichts in der Geschichte unausweichlich ist“ (S. 8).
Britische, aber vor allem französische Politiker waren lange unsicher, wie Polen sich verhalten würde und ob sie ihre ursprünglich getätigten Garantien im Falle eines deutschen Angriffs an der Seite Polens zu kämpfen, aufrechterhalten können.Dazu gehörte vor allem die Frage der militärischen Kapazitäten, wobei beide Länder Anfang 1939 massiv aufgerüstet hatten und ihnen nur geringfügig weniger Kriegsgerät zur Verfügung stand.
Ohne auch nur den geringsten Zweifel an der Aggression und Schuld der Deutschen für den Krieg zu lassen, macht Overy auch deutlich, dass sich Polens Führung, seiner Analyse nach, in dem Streit um die Freie Stadt Danzig aktiver und früher um eine Lösung hätte bemühen können. Auch die Annektion der Region Cieszyn im Anschluss an das Münchener Abkommen hätte die westlichen Bündnispartner nicht gefreut. Das Abkommen vom 30. September 1938 spielt eine große Rolle in Overys Einschätzung der britischen und französischen Haltung gegenüber eines Krieges im Jahr 1939. Festzustellen, dass die versuchte Appeasement-Politik wirkungslos geblieben war und bereits dort ein Krieg im Raum stand, ließ den Kriegseintritt unausweichlich erscheinen.
In seiner Schilderung, etwa zum Anteil der polnischen Politik der 1930er am Zweiten Weltkrieg, lässt sich teilweise eine Unausgewogenheit der Schwerpunkte feststellen. Dies liegt jedoch weniger daran, dass Overy hier Diskurse verschiebt. Vielmehr setzt er bestimmte Aspekte als weitestgehend bekannt voraus, wobei er die Erzählung erweitern möchte. Dennoch scheint Overy in der polnischen Geschichte deutlich weniger firm zu sein, als bei den politischen Beziehungen in Westeuropa. Im unterlaufen eine Reihe von Ungenauigkeiten und Fehler, etwa bei der Datierung des polnisch-sowjetischen Krieges zwei Jahre später auf 1922.
Eine besonders interessante Passage – fast minutiös erzählt – ist der Verlauf des 25. August 1939. Nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes war ursprünglich der folgende Tag als Angriffstag vorgesehen, um 15.02 Uhr hatte Hitler den Marschbefehl für den nächsten Morgen gegeben. In den Stunden danach erreichte die deutsche Führung jedoch die Nachricht einer britisch-polnischen Erneuerung des Bündnispaktes und Italien erklärte seine Neutralität im Angriffsfall.Als Folge dessen wurde der Angriffsbefehl um 19.30 Uhr wieder aufgegeben und erreichte äußerst knapp noch den größten Teil der bereits ausgerückten deutschen Streitkräfte. In diesen Tagen sieht Overy auch ein deutliches Desinteresse wie auch die fehlende Kompetenz Hitlers für diplomatische Verhandlungen.
Overy weist aber auch mehrfach Einschätzungen anderer Historiker*innen zurück. So hätten weder Chamberlain noch Daladier im Herbst 1939 noch auf Appeasement gesetzt, sondern hätten sich ihrer Verpflichtung gegenüber Polen gestellt. Die zwei Tage zwischen Kriegsbeginn und Kriegserklärung der beiden Staaten sei mehr der gemeinsamen Koordinierung – die Overy ausführlich aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet – statt eines Zögern geschuldet.
Der Detailreichtum, von Zitaten aus Zeitzeugenberichten und Dokumenten der Zeit gefüllt, machen Overys Ausführungen lebendig und ansprechend zu folgen. An manchen Stellen sind die gewählten Überlieferungen gar unterhaltsam, etwa wenn aus dem Tagebuch des britischen Kriegsminister Hore-Belisha vom Morgen 1. September 1939 zitiert wird: „Fluchend habe er, Hore-Belisha, sich im Bett herumgedreht: ‚Verdammte Deutsche, einen auf diese Art zu wecken.’ Und dann tauchte auch noch sein Friseur nicht auf, und er musste sich eigenhändig rasieren.“ (S.77). Trotz solcher Einblicke bleibt die Beschreibung dicht und kompakt, die knapp 120 Seiten sind gerade so ausreichend für den gründlich recherchierten Bericht im unbekümmerten anglo-amerikanischen Erzählstil.
Es ist deutlich, dass Overy die These von Machtspielräumen Frankreichs, Großbritannien und Polens, die den Verlauf des Krieges hätten verändern können vehement verteidigt. Und sicherlich hätten die westlichen Staaten ihrem Bündnispartner tatkräftiger militärisch zur Seite stehen können. Dennoch bleibt die Annahme die deutsche Führung habe nur einen „kleinen“ Krieg gegen Polen beabsichtigt und sei durch den Kriegseintritt anderer Staaten in den Weltkrieg hineingedrängt worden, – die Overy an manchen Stellen wieder relativiert – in der Geschichtswissenschaft äußerst umstritten. Nichtsdestotrotz bleiben seine Darstellungen eine Bereicherung für die Diskussion um die Absichten und den Verlauf des Kriegsbeginns.