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Am 21. Juni 2008 begann eine Anschlags- und Mordserie auf ungarische Rom_nja im Dorf Galgagyörk, 50 Kilometer von Budapest entfernt, mit Schüssen auf drei von Roma bewohnte Häuser. Bei dieser Tat wurden noch keine Menschen verletzt. Insgesamt jedoch töteten die der extremen Rechten zuzurechnenden Täter sechs Menschen und verletzten 55 weitere, bis die vier Täter im August 2009 verhaftet wurden. Ihre letzten Opfer waren Mária Balogh und ihre damals 13-jährige Tochter Tímea. Die Mörder waren in der Nacht vom 3. August 2009 in das Haus im Dorf Kisléta eingedrungen, in dem die beiden Frauen wohnten und hatten mit Schrotflinten auf die Schlafenden geschossen. Mária Balogh starb, während ihre Tochter schwer verletzt überlebte (vgl. Spiegel Online 2018). Die ungarische Gesellschaft nimmt die Hassverbrechen und das Leiden der überlebenden Opfer bis heute kaum wahr. Dabei existiert „ähnlich wie im Falle der NSU-Morde in Deutschland auch bei der Roma-Mordserie in Ungarn eine staatliche Mitverantwortung“ (Deutsche Welle 2018).Trotz des herausragenden Charakters der Verbrechensserie 2008/2009 stellt sie nur die Spitze eines Eisberges dar, dessen Grundlage ein in weiten Teilen der ungarischen Nicht-Roma-Gesellschaft vorhandener Rassismus gegen Rom_nja ist. Dieser Antiziganismus zielt auch staatlicherseits auf eine Ausgrenzung der Minderheit, häufig unter dem Deckmantel von Armutsbekämpfung durch Vertreibung. In der Stadt Ózd, in der 2015 die extrem rechte Partei Jobbik den Bürgermeister stellte, zielte dessen Politik darauf ab, die ortsansässigen Rom_nja zu vertreiben - immerhin ein Drittel einer Bevölkerung von 34.000 Menschen. Dies sind nur zwei Beispiele für antiziganistisch motivierten Hass auf ungarische Roma seitens der Dominanzgesellschaft.
Dabei hat die Anwesenheit von Rom_nja hat in Ungarn, wie in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, eine jahrhundertelange Tradition und sie bilden die größte ethnische Minderheit. In das Gebiet des heutigen Ungarn wanderten Rom_nja im 15. Jahrhundert ein – eine genaue Datierung besteht nicht – und erhielten teilweise Schutz- bzw. Geleitbriefe. Der wohl erste dieser Art stammt von König Sigismund und ist auf den April 1423 datiert. Rom_nja waren also anfangs im Königreich Ungarn durchaus willkommen. Ihre Fähigkeiten zur Metallverarbeitung und in der Waffenherstellung waren wegen der Kriege mit dem Osmanischen Reich geschätzt. Bereits jedoch die Habsburger Doppelmonarchie betrieb eine Assimilationspolitik, die auf Zwangsansiedlungen von Roma beruhte. Statt der anvisierten Assimilation erfolgte jedoch eine Segregation von Rom_nja in ghettoähnlichen Wohngebieten, die sich bis in die Gegenwart am Rande von Ortschaften und Städten befinden. Zudem wurden Berufe, in denen Rom_nja tätig waren, durch die fortschreitende Industrialisierung abgeschafft oder mechanisiert, womit die Existenzgrundlage der Minderheit bedroht war. Des Weiteren nahmen vor allem die alteingesessenen Romungrók,die 70 Prozent der ungarischen Rom_nja ausmachen, das Ungarische als Hauptsprache an, während die zweitgrößte Gruppierung, die Caco Rom, vorwiegend das Romanes beibehalten hat. Gleichzeitig erfuhren Teile der Lebensweise der Roma eine Romantisierung. Dies gilt in erster Linie für die Musik.
So entstand beispielsweise im 18. Jahrhundert der „zur Anwerbung von Rekruten verwendete Werbetanz aus einer Mischung unterschiedlichster folkloristischer Elemente mit dem Stil der österreichischen bzw. italienischen Kunstmusik, wurde aber, entgegen seiner Herkunft, als alte ungarische Volksmusik angesehen“ (Österreichisches Musiklexikon online). Der Werbetanz (Verbunkos) wurde durch Roma für Gadže, also für Nicht-Rom_nja, bei der Anwerbung von Soldaten gespielt. Klaus-Michael Bogdal hält fest, dass die Musik „Teil einer Inszenierung patriotischer Gesinnung“ (Bogdal 2014: 230) wurde bei der die Roma als Musiker_innen als unverzichtbar galten, während sie „von den Handlungen, zu denen sie aufrufen, in der Regel ausgeschlossen“ (ebda.) blieben. Mit der reduzierenden Festschreibung von Roma als „Zigeunermusiker“, die noch dazu als vormodern wahrgenommen wurden, entstand ein bis heute wirksames Stereotyp. Obwohl der Status ungarischer Rom_nja im Vergleich zum restlichen Europa besser war, erfuhren sie keine reale gesellschaftliche Teilhabe.
Die Verfolgung von ungarischen Rom_nja während des Zweiten Weltkrieges setzte nicht erst mit der deutschen Besetzung des Landes im März 1944 ein. Bereits das seit 1920 bis zur Besetzung andauernde Regime von Reichsverweser Miklós Horthybedeutete für die Rom_nja-Minderheit polizeiliche Erfassung, Razzien, Ghettoisierung, Zwangsarbeit und Zwangssterilisierungen. Die Verfolgung erfuhr jedoch mit dem deutschen Einmarsch eine mörderische Dynamik, die „vorrangig durch die ungarische Gendarmerie, durch Pfeilkreuzler und Soldaten ausgeführt“ (Weikersthal 2008: 298) wurde. Weikersthal sieht auf der ungarischen Seite bezüglich der Vernichtung der Roma sogar die Rolle der Initiatoren (ebda.). Wie viele Rom_nja durch deutsche Besatzer, ungarische Gendarmen und Pfeilkreuzler ermordet wurden ist schwer zu beziffern. Die geschätzten Opferzahlen liegen zwischen einigen tausend und mehreren zehntausend Menschen.
Die Befreiung durch die Rote Armee rettete zahlreichen Roma das Leben. Allerdings war die Politik des an der Sowjetunion orientierten autoritären, staatssozialistischen Nachkriegsregimes nicht darauf ausgerichtet den nationalsozialistischen Völkermord an den Roma als solchen zu benennen und zu erinnern, oder gar die ungarische Tatbeteiligung aufzuarbeiten. Das staatssozialistische Ziel bestand in einer erneuten Assimilierungspolitik gegenüber der Minderheit. Dementsprechend galten Rom_nja in Ungarn nicht als nationale Minderheit, ein Status, der ihnen politische Organisation erlaubt hätte. Die Repräsentation erfolgt durch Woiwoden, die regional aus meist einflussreichen Roma-Familien gewählt wurden. Der weniger privilegierten Status einer ethnischen Minderheit wurde den Rom_nja erst Ende der 1970er Jahre zuerkannt. Dies ging immerhin mit der Möglichkeit einher, legal kulturelle Vereinigungen und Clubs zu betreiben und eigene Traditionen zu beleben.
In den Grundzügen zielte die staatliche Politik darauf, Rom_nja unter Zwang sesshaft zu machen und sie entsprechend der sozialistischen Arbeitsdoktrin in den Produktionsprozess einzugliedern.„Dies wurde bis Ende der 1980er Jahre in weiten Teilen auch erreicht: Ende der 1980er Jahre waren 85 Prozent der männlichen Roma beschäftigt. Dass der gesellschaftliche Aufstieg trotzdem nur Wenigen gelang, lag an der im Hinblick auf die Roma-Minderheit desolaten sozialistischen Bildungspolitik, die die Roma systematisch von einem gleichberechtigten Zugang zu Bildung ausschloss. Nur wenige Roma verfügten über eine Berufs- oder Facharbeiterausbildung. Die meisten von ihnen waren als ungelernte Arbeiter am Bau oder in der staatlichen Industrie und den landwirtschaftlichen Kooperativen in den unteren Einkommensgruppen beschäftigt.“ (Kehl 2014). Bereits die staatssozialistische Regierung kannte die Praxis Roma-Kinder in Sonderschulen oder Sonderklassen auszusondern. Die Segregation bildete auch nach dem demokratischen Umbruch eines der wesentlichen Probleme für die Bildungssituation von Roma-Kindern. Bis heute fehlt es aufgrund fehlender Aufstiegschancen an Erzieher_innen und Lehrer_innen, die selbst Roma sind.
Der Umbruch 1989/90 berührte auch die Situation der Roma-Minderheit. Die ab 1990 regierende konservative Koalition von Ministerpräsident József Antall schuf das „Amt für nationale und ethnische Minderheiten“ und erkannte per Gesetz 1993 Rom_nja als Minderheit an. Mit dem Minderheitengesetz erhielten insgesamt dreizehn gesellschaftliche Gruppen den Status als Minderheiten, darunter als größte Gruppe ca. 400.000 Rom_nja. Mit dem Minderheitengesetz wurde ein System lokaler Selbstverwaltungen geschaffen, mit dem die politischen Ziele und Rechte besser repräsentiert werden sollten. In der Praxis waren jedoch die Minderheitenselbstverwaltungen der Rom_nja„aufgrund mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen und dem niedrigen Bildungsstand ihrer Repräsentanten als wenig erfolgreich. Im Mittelpunkt der Arbeit der lokalen Roma-Vertretungen standen kulturelle und bildungspolitische Inhalte“ Wissenschaftliche Dienste 2007: 14). Häufig jedoch bemühten sich die Roma-Selbstverwaltungen darüber hinaus, das wirtschaftliche und soziale Elend zu lindern. Im Gegensatz zu anderen Minderheiten, beispielsweise der deutschen, konnten die Rom_nja nicht auf finanzielle Unterstützung eines Staates hoffen. Erschwerend kam hinzu, dass in den Minderheitenselbstverwaltungen Rom_nja aus den vier, oft konkurrierenden, Gruppen zusammenarbeiten mussten – der Preis für eine Außenwahrnehmung, nach der Roma eine homogene Gruppe darstellen. Von der Dominanzgesellschaft jedoch wurden kulturelle Aktivitäten von Rom_nja häufig abgelehnt, während die Minderheit gleichzeitig für den Zusammenbruch des alten Systems und den daraus folgenden Unsicherheiten verantwortlich gemacht wurden.
Mit dem Übergang in die Marktwirtschaft wurden die ehemaligen Großindustrien privatisiert, häufig als unrentabel abgewickelt sowie der staatliche Agrarsektor abgeschafft. Stärker als die restliche Bevölkerung waren die schlecht ausgebildeten Roma von den Umwälzungen betroffen. Sie gehörten meist zu den ersten, die ihren Arbeitsplatz verloren (vgl. Kehl 2014). Ende der 1990er-Jahre hatten nur noch 29 Prozent der männlichen Roma eine feste Lohnarbeit, in der männlichen Gesamtbevölkerung waren es 64 Prozent. Noch schlechter war zu diesem Zeitpunkt die Lage der Romnja, also der Roma-Frauen. Von ihnen waren nur 15 Prozent in Lohnarbeit, im Vergleich zu 66 Prozent der weiblichen Nicht-Roma (vgl. Barley/Hartleb 2009). Auch die Wohnsituation der Mehrzahl der Rom_nja wurde während des Transformationsprozesses prekärer. Wer es sich finanziell leisten konnte, suchte eine Wohnung am Rand der Städte, während die nun privaten Immobilieneigentümer_innen Innenstadtgebiete, in denen Rom_nja lebten, verfallen ließen bzw. in lukrative Büroräume investierten.
Bereits 1998 konstatierte Brigitte Mihok „Es ist nicht zu übersehen, dass der Großteil der Roma zu den Verlierern der Transitionsprozesse gehört“ (zit. n. Wissenschaftliche Dienste 2007: 8). Eine Besserung der Situation der Minderheit ist kaum in Sicht, zumal mit der 2003 gegründeten extrem rechten Partei Jobbik eine Partei entstanden ist, die dem grassierenden Antiziganismus eine politische Vertretung geschaffen hat. Deren paramilitärischer Flügel „Ungarische Garde“, bzw. nach deren Verbot im Jahr 2009 „Neue ungarische Garde“, marschierte in der Vergangenheit immer wieder durch Roma-Viertel, um die Bevölkerung einzuschüchtern – was in einigen Fällen am Widerstand von Roma scheiterte.
Auch, wenn der zunehmend autokratischer regierende Ministerpräsident Viktor Orbán „in der Roma-Gemeinschaft eine Ressource“ (Hille 2018) sieht und seine Partei Fidesz sich gerne als Rom_nja-freundlich präsentiert, hat sich seine Regierung bisher weder mit substanziellen Initiativen zur Verbesserung der Lebenssituation hervorgetan, noch hat sich am Unwillen von Polizei und Justiz Hassverbrechen gegen Roma konsequent zu verfolgen etwas geändert.
Melani Barley/Florian Hartleb: Die Roma in Ungarn, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (apuz 29-30/2009) 6.7.2009, http://www.bpb.de/apuz/31854/die-roma-in-ungarn?p=all
Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin 2014.
Deutsche Welle: Roma-Mordserie in Ungarn. Ein vergessenes Hassverbrechen. 02.08.2018, https://www.dw.com/de/roma-mordserie-in-ungarn-ein-vergessenes-hassverbrechen/a-44921942.
Zita Hille: Orbán: Wir sehen in der Roma-Gemeinschaft eine Ressource. Budapester Zeitung 4.2. 2018, https://www.budapester.hu/2018/02/04/orban-wir-sehen-der-roma-gemeinschaft-eine-ressource.
Jara Kehl: Zur aktuellen Situation der Roma in Ungarn. 1.6.2014,http://zentralrat.sintiundroma.de/jara-kehl-zur-aktuellen-situation-der-roma-in-ungarn/.
Österreichisches Musiklexikon online: „Zigeunermusik“, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_Z/Zigeunermusik.xml.
Spiegel Online: Roma-Morde in Ungarn. Das vergessene Verbrechen. 21.7.2018, http://www.spiegel.de/politik/ausland/roma-mordserie-in-ungarn-ein-vergessenes-verbrechen-a-1217872.html.
Felicitas Fischer von Weikersthal:, „Den Tag ihr guten Brüder, sollt ihr nie vergessen!“ Gedenken an Verfolgung und Vernichtung in der Bildenden Kunst ungarischer Roma, in: Felicitas Fischer von Weikersthal /Christoph Garstka/Urs Heftrich/Heinz-Dietrich Löwe (Hrsg.): Der nationalsozialistische Genozid an den Roma Osteuropas: Geschichte und künstlerische Verarbeitung. Köln Weimar Wien 2008.
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Zur Situation der Roma-Kinder in Ungarn unter besonderer Berücksichtigung der Bildungssituation. Berlin 2007, https://www.bundestag.de/resource/blob/414654/db73010a3e9cf2c1ed65f3033329cd8e/WD-2-104-07-pdf-data.pdf.