Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Im Krakauer Stadtteil Dębniki befindet sich das weitläufige Areal der auch als „Kobierzyn“ bekannten Józef Babiński-Fachklinik für Psychiatrie. Bereits seit über einhundert Jahren werden hier Menschen mit psychischen Krankheiten behandelt. Neben der medizinischen Betreuung haben Mitarbeiter_innen der Klinik zudem das Ziel, die Geschichte und Gegenwart der Kobierzyns und seiner Menschen stärker in die Krakauer Öffentlichkeit zu bringen, bestehende Voreingenommenheit und Ängste gegenüber den Patient_innen abzubauen.
„Pass auf Deinen Kopf auf“ (Uważaj na głowę) heißt eine Ausstellung, die hier seit einigen Jahren in einem Klinikgebäude Angehörigen von Patient_innen und interessierten BesucherInnen offen steht. Darin thematisiert werden Formen psychischer Krankheiten, deren Behandlungsmethoden in Vergangenheit und Gegenwart und der Heilungsprozess selbst. Aber auch Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen werden angesprochen. Tausende Menschen haben die Ausstellung gesehen und auch angehende Mediziner_innen und Psychiater_innen arbeiten mit dem dort Präsentierten als Teil ihres Studiums. (http://babinski.pl/kobierzyn-blizej-2/uwazaj-na-glowe/).
Auch wenn Kobierzyn in der Öffentlichkeit einen mittlerweile toleranteren Umgang erfährt und Besuchergruppen regelmäßig über den architektonisch interessanten Gebäudekomplex geführt werden, ist das Wissen umdessen Geschichte und Gegenwart weiterhin recht gering. Kaum ein_e Krakauer_in weiß etwa, dass die deutschen Besatzer seit 1939 die Patient_innen der Einrichtung langsam verhungern ließen, durch Injektionen umbrachten und zudem hunderte von ihnen in Auschwitz-Birkenau ermordeten.
„Jeder Mensch altert und wird gebrechlich, jeder vierte leidet im Laufe seines Lebens an psychischen Krankheiten“
Der prägnante Satz aus der o.g. Ausstellung befindet sich nun zudem im Prolog zweier, kleiner Ausstellungen in deutscher und polnischer Sprache. Sie sind in den beteiligten Schulen sowie in der Jugendbegegnungsstätte der Gedenkstätte Buchenwald zu sehen. Weimarer und Krakauer Schüler_innen hatten sie 2016 gemeinsam gestaltet.
Der Satz verbindet gewissermaßen die Vergangenheit des Ortes mit der Gegenwart und gibt der Auseinandersetzung mit diesem historischen Thema Relevanz. Jeder Mensch kann demnach recht schnell zu jemandem werden, der psychiatrisch-medizinische Hilfe benötigt. Was mit diesen Personen in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und dem besetzten Polen passierte, war Thema der gemeinsamen Tage.
Es ist sicher recht unterschiedlich, wie deutsche und polnische Schüler_innen auf die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg blicken und welche Themen im Unterricht behandelt und in den Familien diskutiert werden.
Die Kenntnisse über Polens Geschichte sind bei deutschen Schüler_innen erfahrungsgemäß gering: „Auschwitz, ja, in Polen war das“- hört man da, oder sollte man lieber „.. von den Deutschen besetztes Polen“ hinzufügen? Hinter dem Massenmord in Auschwitz-Birkenau verschwinden in der Wahrnehmung der Jugendlichen die Verbrechen, die durch die deutschen Besatzer in ganz Polen begangen wurden.
Aber selbst für die Krakauer Schülergruppe war das in ihrer Heimatstadt gelegene frühere Arbeits- und Konzentrationslager Plaszow vor dem Projekt kaum bekannt. Ein Ort, (zu) weit draußen und zudem einer, an dem die Anwohner noch immer auch ihre Hunde spazieren führen. Allerdings hatten die meisten aus der polnischen Jugendlichen mehrere Male das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau besucht.
Obwohl nicht in der ursprünglichen Planung, entsprachen wir dem Wunsch der deutschen Teilnehmer_innen hier einen Tag lang gemeinsam mit der polnischen Gruppe zu verbringen.
Bei der Planung des Projektes spielten derartige Erfahrungen des Projektteams eine Rolle. Die Idee: hin zu den „vergessenen“ und doch so nahen Orten, deren Geschichte und Gegenwart jungen Menschen hoffentlich neue Erkenntnisse für ihr Leben bringen würden. Denn sowohl in Polen als auch in Deutschland wird das Thema NS-„Euthanasie“ in Schule und Medien nur wenig betrachtet.
Offenheit der Teilnehmenden für Menschen aus einem anderen Land und Interesse an Geschichte aber auch die Bereitschaft sich gemeinsam mit deren schwierigen Kapiteln zu beschäftigen, waren Voraussetzung für die freiwillige Teilnahme.
Die inhaltliche Vorbereitung in den Schulen war wichtig. Grundsätzliche Themen, die Geschichte des Nationalsozialismus betreffend, wurden besprochen und wiederholt, die Teilnehmenden zur Eigeninitiative bei der Projektgestaltung ermuntert.
Die erste gemeinsame Wochein der Gedenkstätte Buchenwald diente dem gegenseitigen Kennenlernen und der Auseinandersetzung mit folgenden inhaltlichenFragestellungen wie etwa:
Besprachen die Jugendlichen in der Gedenkstätte Buchenwald zunächst u.a. die Diversität der dortigen Häftlingsgruppen – eindrücklich für die Teilnehmenden hier das Gespräch mit dem Warschauer Tadeusz Kowalski, der über seine Erlebnisse in Auschwitz, Buchenwald und im Außenlager Bernburg berichtete – so fokussierten sie sich bald auf jene KZ-Häftlinge, die durch Ärzte im K.L. Buchenwald selektiert und von hier im Rahmen der „Aktion 14f13“ zur Tötung in „Pflege- und Heilanstalten“ gebracht wurden.
Daran anknüpfend folgten die Besichtigung und Recherchen in der Ausstellung der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein bei Dresden. Hier besprach die Gruppe mit den dortigen Mitarbeitern den historischen Ort und die hier ausgestellten Dokumente und Fotos, diskutierten über das damalige Menschenbild und das (freiwillige) Wirken von Ärzten und Pflegerinnen sowie über deren mögliche Handlungsspielräume. Auch thematisierten die Teilnehmer_innen hier Fragen um das Wissen und die Reaktionen in der Pirnaer Bevölkerung die Morde betreffend, aber auch Formen des Widerstandes gegen diese, wie etwa von einigen Kirchenvertretern.
Für die folgende Arbeit an der eigenen Ausstellung kristallisierten sich nun langsam die Themenschwerpunkte und die dazugehörigen deutsch-polnischen Arbeitsteams heraus. Zudem arbeiteten die Teilnehmer_innen am Beispiel einer Ausstellung in Buchenwald Konzeptions- und Gestaltungselemente heraus und entwickelten Ideen für die eigene Ausstellung.
„Ich schäme mich, aber wir haben uns mit den Patienten um das wenige Brot geprügelt.”(Aussage einer ehemaligen Kobierzyner Krankenpflegerin, 1987 aus: Klee, „Euthanasie“)
Die wenigen erhaltenen Berichte über die Situation in der Klinik in Kobierzyn erzählen davon, dass die von der deutschen Klinikverwaltung ab 1939 ausgegebenen Brotrationen von etwa 75 g am Tag Menschen um das Überleben kämpfen ließen. Monatlich starben hier etwa 50 Patient_innen an Hunger – eine „übliche“ Vorgehensweise der Besatzer auch in anderen polnischen Einrichtungen und eine Praxis, die bereits zuvor in Deutschland Anwendung gefunden hatte. 1942 wurden die verbliebenen 536 Patienten nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.
Dieser schwierigen Vergangenheit des Ortes näherten sich die Teilnehmenden durch Rundgänge, Recherchen in den archivalischen Zeugnissen der Klinik und Gespräche mit den dortigen Mitarbeiterinnen. Zudem kontextualisierten die Schüler_innen die Ortsgeschichte durch Begehungen des eh. Krakauer Ghettos und des Museums in der eh. Fabrik Oskar Schindlers, um mehr über die deutsche Besatzungspolitik in Krakau und Polen insgesamt zu erfahren. .
Angesichts der Größe des Themas blieb wenig Zeit für die Erstellung des eigentlichen Projektprodukts, d.h. dem Verfassen der Ausstellungstexte, der Auswahl der Fotos und Dokumente und der grafischen Gesamtkonzeption innerhalb der deutsch-polnischen Teams. So musste auch nach der Begegnung weiter an der Ausstellung gearbeitet werden.
Welche medizinische Betreuung möchte ich selbst im Fall einer psychischen Krankheit für mich beanspruchen dürfen? Was sagt der Umgang einer Gesellschaft mit hilfsbedürftigen Menschen über diese Gesellschaft aus? Welche ethischen Grundsätze sollten angehenden Medizinern unbedingt vermittelt werden? Welchen Blick habe ich selbst auf Personen mit einer Behinderung?
In Buchenwald, Pirna-Sonnenstein, Krakau und Kobierzyn näherten sich die Jugendlichen der Beantwortung dieser und weiterer Fragen. So half ihnen die Auseinandersetzung mit dem Thema „Euthanasie“ zu verstehen, dass der nach 1945 schrittweise und international verankerte Schutz von Menschen mit Behinderung nicht nur eine normativ verordnete Maßregel „von oben“ darstellte, sondern vor allem auf den historischen Erfahrungen fußte.
Im 19. Jahrhundert galten Ideen von „positiver“ und „negativer Eugenik“ vielen Wissenschaftlern als modern. Theorien bis hin zur Tötung sog. „lebensunwerten Lebens“ fanden in ganz Europa schrittweise Eingang in breitere gesellschaftliche Kreise. Den Teilnehmer_innen des Projektes wurde somit deutlich, dass eigentlich „Unsagbares“ in Deutschland nicht erst seit 1933 „sagbar“ war, sondern eine Vorgeschichte hatte.
Auch konnten hier Gegenwartsbezüge hergestellt werden,etwa wenn ein TeilnehmerSprache in NS-Propaganda-Plakaten mit aktuellen Äußerungen von Politikern über gesellschaftliche Randgruppen verglich.
Es hat sich gelohnt über diese und viele weitere Punkte innerhalb eines deutsch-polnischen Dialogs nachzudenken, nicht nur weil Menschen in beiden Ländern Opfer der NS-„Euthanasie“ wurden, sondern weil sich daraus Fragen für das gesellschaftliche Miteinander ergeben. Nicht zuletzt zeigte das Forschungsdefizit zum „Krankenmord“ in den von den Deutschen besetzten Gebieten den Jugendlichen, dass sich selbst in den Geschichtswissenschaften das Interesse zum Thema noch in Grenzen hält.
Klee, Ernst: „Euthanasie“ im Dritten Reich, Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, 2. Aufl. 2014, S. 407.
Heute erinnert ein Denkmal in Kobierzyn an die Namen der ermordeten Menschen. Hätte ein Krankenpfleger nicht eine Liste der damaligen Patienten versteckt – die Identität der Toten wäre heute nicht bekannt.
Die Jugendlichen erneuerten während des Projekts auch die Inschrift eines Gedenksteins auf dem nahen Klinikfriedhof in Erinnerung an die getöteten Patienten Kobierzyns.
Das Projekt wurde finanziert vom Förderprogramm Europeans for Peace der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ und dem Deutsch-polnischen Jugendwerk.