Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Jubiläen geraten schnell unter Verdacht, hastig niedergeschriebene Werke in Massen auf den Markt zu werfen. Mit „Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt“ gelingt Martin Schulze Wessel der Gegenbeweis. Auf fast 300 Seiten zeichnet er unter Berücksichtigung bisher kaum beachteter Aspekte wie dem erstarkenden Antisemitismus und dem Nationalitätenkonflikt zwischen Tschechen und Slowaken die Entwicklungen zum Einmarsch der sowjetischen Truppen im August 1968 nach.
Bereits in der Einleitung betont Schulze Wessel die bis heute andauernden unterschiedlichen Interpretationen des „Prager Frühlings“. Der Streit um die Deutungshoheit der Geschehnisse, so Schulze Wessel, habe bereits 1968 begonnen. Heute ist die unmittelbare Erinnerung längst durch die Bilder aus Literatur und Spielfilme abgelöst worden (S.7). Nicht überbewertet wissen möchte der Autor die Besetzung an sich. Er lenkt den Blick auf die Vorgeschichte des „Prager Frühlings“. Seine These: Der „Prager Frühling“ wurde von den Zukunftsvorstellungen einer neuen Gesellschaft und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der letzten 50 Jahre vorangetrieben (S.9).
Somit überrascht es auch nicht, dass Schulze Wessel der Vergangenheitsbewältigung gleich zu Beginn ein komplettes Kapitel widmet, er spricht gar vom „Prager Frühling“ als „ein Projekt der Vergangenheitsbewältigung“ (S.20). Beispielhaft führt er die filmische Umsetzung der Schicksale politischer Verfolgungen in der Stalin-Zeit an. Als herausragende und für die Reformbewegungen prägend ordnet Schulze Wessel vielen Schauprozesse ein, bezeichnet die mangelnde Aufarbeitung gar als „Katalysator“ (S. 49). Getragen vom inneren Nationalitätenkonflikt, zerstörten sie „einen Teil des moralischen Kapitals, mit dem die Kommunisten aus dem Zweiten Weltkrieg vorgegangen waren“ (S.28). Schulze Wessel weist darauf hin, dass gerade zwischen den Opfern dieser Schauprozesse und den Helden des „Prager Frühlings“ viele biografische Parallelen bestehen (S.29). Es werden Beispielbiografien wie die von Josef Pavel vorgestellt, der nach seiner Verhaftung 1951 während des „Prager Frühlings“ auf die politische Bühne zurückkehrte, schlussendlich Innenminister wurde (S.31). Anhand ihrer Schicksale werden nicht nur die Auswirkungen der Schauprozesse, sondern auch der lange, komplizierte Weg zur Rehabilitierung verdeutlicht.
Nach diesem Rückblick ist das zweite Kapitel der Zukunft gewidmet. Mit den Veränderungen des „Prager Frühlings“ stellte sich auch die Frage nach der Neuausrichtung des Sozialismus in der Tschechoslowakei. Dies gilt im speziellen für die Bereiche Literatur, Philosophie, Wirtschaft sowie Politik und Recht (S.57). In der Literatur spielte die Wiederentdeckung der Werke Frank Kafkas gerade für den tschechischen Landesteil eine große Rolle. Einmal mehr verweist Schulze Wessel auf die Diskrepanzen zwischen dem tschechischen und slowakischen Landesteil, wenn er unterschiedliche Entwicklungslinien im literarischen Bereich aufzeigt (S.64). Für den wirtschaftlichen Bereich hebt der Autor die Bedeutung des sogenannten „Richta-Reports“, bekannt geworden als „Zivilisation am Scheideweg“, hervor. Dem gegenüber stellt er das Reformkonzept von Ota Šik. Auf politisch-rechtlicher Ebene wird das Konzept von Zdenek Mlynár erläutert. Auch hier legt er das Augenmerk wieder auf den Konflikt der beiden Nationen. Schulze Wessel zeichnet sowohl die Entstehung der einzelnen Reformziele nach und gibt einen Überblick, in wie weit sie Eingang in die Programme des Prager Frühlings fanden. Schließlich stellt er sie gezielt nebeneinander (S. 132) und unterzieht die Konzepte zusammen mit der Kafka-Konferenz einer vergleichenden Analyse.
Wenig überraschend beinhaltet das dritte Kapitel die Geschehnisse rund um den „Prager Frühling“ und seine Vorläufer. Chronologisch behandelt werden dabei die Proteste der Studierenden und Novotnýs Sturz. Etwas ausführlicher beleuchtet wird die Zeit nach dem Amtsantritt Dubčeks. Die damit verbundenen Unabwägbarkeiten sowie der entstehende „radikale Neubeginn“ (S.153) werden fein säuberlich herausgearbeitet. Ebenso detailreich wird der Beginn des „Prager Frühlings“ anhand der neu gewonnen Pressefreiheit geschildert. Sehr interessant einmal mehr der Blick auf einen völlig neuen Aspekt, die Frage nach der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (S. 191). Schulze Wessel füttert und füttert seine Leserschaft mit unglaublich vielen Informationen. Jedoch wirkt gerade dieses Kapitel an mancher Stelle etwas überladen.
Besser gelingt dies im vorletzten Kapitel. Dort werden am Beispiel von Sozialdemokraten und Kirchen die Auswirkungen der Reformbestrebungen für die Gesellschaft beleuchtet. Zum Kapitelabschluss geht es einmal mehr um die transnationale Perspektive auf die Geschehnisse (S.222). Es sind diese Abschnitte bzw. Unterkapitel des Buches, die das Interesse wecken. Dem tatsächlich bisher kaum beachtete Aspekt der Auswirkungen über die Sowjetunion und die Tschechoslowakei hinaus wird hier besondere Beachtung geschenkt.
Das fünfte und letzte Kapitel ist noch einmal den Medien gewidmet. Neben den Klassikern Funk und Fernsehern stellt Schulze Wessel die Printmedien, insbesondere bisher kaum beachtete (Leser_innen-)Briefe und die damit verbundenen Zeitungen in den Vordergrund. Damit gelingt ihm die authentische Abbildung der Stimmung im Land. Hier nun schlägt Schulze Wessel den Bogen zu denen anfangs getätigten Ausführungen zu den Schauprozessen der 1950er Jahre, so dass sich ein in sich geschlossenes Bild ergibt.
Wie bereits in der Einleitung angekündigt, setzt sich der Autor intensiv mit dem um sich greifenden Antisemitismus der 1960er-Jahre auseinander. Als Beispiel dient der Fall des im Buch zuvor mehrfach angeführten Politikers Eduard Goldstücker (S. 247). Auch den Nationalitätenkonflikt arbeitet Schulze Wessel noch einmal beispielhaft ab, diesmal am „Manifest der 2000 Worte“.
Martin Schulze Wessel legt mit „Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt“ ein sowohl inhaltlich prall gefülltes als auch sehr anschauliches Buch vor. Wo altbekannte Informationen stehen, werden sie um neue Erkenntnisse des Autors ergänzt und ergeben somit ein rundes Bild der Geschehnisse im Jahr 1968. Unterfüttert mit zahlreichen Beispielen und vielfältigen, vor allem biographischen, Hintergrundinformationen zu den Verlauf bestimmenden Personen, gibt das Buch einen guten Überblick über die Entwicklungen von der Entstalinisierung bis hin zum „Prager Frühling“. Zu empfehlen ist es vor allem für diejenigen, die mehr über die Hintergründe der Ereignisse erfahren wollen. Für Lehrkräfte, die das Thema im Unterricht behandeln wollen, bietet der Band eine gute Möglichkeit für die eigene Vorbereitung.