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Der gesellschaftliche Aufbruch des sogenannten Prager Frühlings, indem die Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ in der Tschechischen Sozialistischen Republik (ČSSR) lag, wirkte sich auch auf die Situation der jüdischen Gemeinden und die Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden aus. Im Gegensatz zum bis dahin antizionistischen, nicht selten antisemitischen, Kurs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ) gegenüber Israel, kritisierten insbesondere seit dem Sechs-Tage-Krieg Schriftsteller_innen die offizielle politische Haltung. Mitarbeiter_innen der Gedenkstätte Theresienstadt verfassten im Mai 1968 sogar einen offenen Brief an Außenminister Jiří Hájek indem sie ihre Sympathien ihre für Israel offenlegten und die anti-israelische Politik kritisierten. Der Rat der jüdischen Gemeinden verlangte die Aufhebung der gesetzlichen Ungleichbehandlung der im Nationalsozialismus aus rassistischen Gründen Verfolgten gegenüber den politisch Verfolgten, die auf einer Konstruktion von angeblich passiven und aktiven Opfern beruht (Hallama 2015a: 267f).
Doch war der Prager Frühling nur ein kurzer Zeitraum politischen Tauwetters, in dem auch die Erinnerung an den Holocaust gegenüber dem an die sowjetische Geschichtspolitik angelehnten antifaschistischen Universalismus kurzzeitig einen Aufschwung nahm? Indem Peter Hallama aus den „politischen Rahmenbedingungen nicht die alleinige Erklärungskraft für die Möglichkeiten und Ausformungen der Holocaust-Erinnerung“ (Hallama 2015b) zieht, kommt er in seiner Studie „Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust“ zu sehr viel differenzierteren Einschätzungen. Er hinterfragt „die allzu einfache Schuldzuweisung, demnach allein der kommunistische Staat mit seiner antifaschistischen Ideologie für die ‚Unterdrückung’ der Shoah verantwortlich sei.“ und zeigt auf „wie die Erinnerung an die jüdischen Opfer des Holocaust bereits unmittelbar nach Kriegsende an den Rand gedrängt und vor allem als ‚Sache der Juden’ betrachtet worden war“ (Hallama 2015b). In der ČSR der Nachkriegszeit bis zum Februar 1948, also bis zum Umsturz der Kommunist_innen gegen die Regierung Beneš, wurde die deutsche Besatzungs- und Germanisierungspolitik häufig gleichgesetzt mit der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Diese Gleichsetzung berührt einen „der zentralen Faktoren der tschechischen Weltkriegserinnerungen: die Assimilierung des jüdischen Schicksals an das (in Erwägung gezogene) Schicksal der Tschechen, die zu einer Negation jedweder Spezifität und Partikularität des Holocaust führte“ (Hallama 2015a: 48). Darüber hinaus wurde der Antisemitismus in der Nachkriegszeit externalisiert und zugleich die Gesellschaft als immun gegen Antisemitismus dargestellt. So wurde das jüdische Leiden das Leiden der „Anderen“ das einen nicht betraf und das nicht erinnert wurde. Auch die Auseinandersetzung um die Frage tschechischer Kollaboration und Mittäterschaft, insbesondere in den „Zigeunerlagern“ Lety und Hodonín fand keinen gebührenden Platz im öffentlichen Diskurs und ist gesamtgesellschaftlich bis heute kaum geführt.
In der Tat hatte die tschechische Bevölkerung schrecklich unter dem deutschen Besatzungsregime im „Protektorat Böhmen und Mähren“ zu leiden. Da die tschechische Rüstungsindustrie nicht gefährdet werden sollte, gab es von dort aus keine Massendeportationen wie aus Polen. Dennoch waren allein im KZ Dachau 5.500 Tschechen inhaftiert.
Berüchtigt ist auch das Massaker in Lidice westlich von Prag, begangen vor allem durch deutsche Ordnungspolizei, bei dem der Ort am 10. Juni 1942 praktisch ausgelöscht wurde. Dieses herausragende Einzelverbrechen des Zweiten Weltkriegs erhielt einen zentralen Stellenwert in der tschechischen Erinnerung mit bis heute heroisierender Ausrichtung der Erinnerung.
Auch das ab 1780 als österreichische Festung erbaute Theresienstadt wurde ein wichtiger Markstein in der tschechischen Geschichtskultur. Eingang in die tschechische Erinnerung fand jedoch in erster Linie das ehemalige Gestapo-Gefängnis in der Kleinen Festung, für die 1947 eine „Gedenkstätte des nationalen Leidens“ beschlossen und am 11. Juni 1949 eröffnet wurde. Als Ort der Verfolgung von politischen Gegner_innen und des Widerstands wurde die Kleine Festung ein Sinnbild, das mit dem von Lidice in seiner Bedeutung gleichzusetzen ist. Die erste Ausstellung wurde vom Historischen Institut des Militärs eingerichtet und thematisierte hauptsächlich den kommunistischen Widerstand und kommunistische Gefangene.
Diese Erinnerung ging zulasten derjenigen an das Ghetto Theresienstadt. So wurde das ehemalige Polizeigefängnis als Konzentrationslager bezeichnet und die Kleine Festung diskursiv als Synonym für den Verbrechenskomplex Theresienstadt gesetzt (Hallama 2015a: 66f). Die Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden blieb bis zur Entstalinisierung in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren marginal, obwohl sich die jüdischen Gemeinden um eine Veränderung der Situation bemühten. Hinter dem antifaschistischen Universalismus verschwand die Erinnerung an das Ghetto. So gab es 1952 einen Plan zur Errichtung eines Ghettomuseums in der Palackystraße 5. Er wurde jedoch behördlicherseits mit dem Hinweis verhindert, die Ausstellung in der Kleinen Festung sei informativ genug. Im Klima des staatlich geschürten Antisemitismus, das seinen öffentlichen Höhepunkt in den Slánský-Prozessen desselben Jahres fand, und mit einer antizionistischen Außenpolitik gegenüber Israel war es um die Erinnerung an die jüdische Verfolgungsgeschichte nicht gut bestellt. Einzig zwei außerhalb der Stadt liegende Orte standen in der Nachkriegszeit für so etwas wie eine jüdische Perspektive der Erinnerung. Dazu gehörte ein Gedenkort, errichtet von ehemaligen Inhaftierten in der direkten Nachkriegszeit, am Fluss Ohře (Eger), wo 1944 die Asche von mehr als 20.000 Opfern auf Befehl der SS in den Fluss gekippt worden war. Anfangs wies noch ein hölzerner Davidstern auf die jüdischen Opfer hin. Bereits 1946 wurde das jüdische Symbol durch eine universalisierende Inschrift am Boden ersetzt: „Hier ruhen 25.000 Theresienstädter Urnen 1941-1945“ (zit. nach Hallama 2015a: 86).
Auf dem jüdischen Friedhof beim Gebäude des ehemaligen Krematoriums, ungefähr einen Kilometer außerhalb der Festung gelegen, sind ungefähr 12.000 Menschen in Einzel- und Massengräbern bestattet worden. Die Instandsetzung des Ortes und seine Betreuung oblag zunächst der jüdischen Kultusgemeinde. Sie trug auch die Kosten und organisierte Freiwilligenarbeiten. „Im Rahmen der Gedenkfeierlichkeiten der jüdischen Gemeinde im April 1947 wurde etwa das Krematorium [...] vom Kolíner Rabbiner und ehemaligen Theresienstadt-Häftling Richard Feder neu eingeweiht. Hier sollten in Zukunft die alljährlichen Trauerfeiern der jüdischen Gemeinde stattfinden und in den 1960er Jahren schließlich auch erste Ansätze einer musealen Installation zur Geschichte des Ghettos verwirklicht werden“ (Hallama 2015a: 85).
Mit der fortschreitenden Entstalinisierung begann ein geschichtspolitischer Veränderungsprozess, der seinen Niederschlag in der Veränderung des Status von Theresienstadt fand. Die Gedenkstätte wurde durch die Prager Regierung am 30. Mai 1962 zum nationalen Kulturdenkmal erklärt. Damit einher ging ein Entwicklungsplan, der Stellen für die wissenschaftliche Arbeit von Historiker_innen, Kurator_innen und Archivar_innen vorsah. 1965 ging die Verwaltung der Gedenkstätte in den nordböhmischen Kreis-Nationalrat über. Die Arbeit nahm in der Folge zunehmend den Charakter einer Museumstätigkeit an. Neben der Erweiterung des historischen Forschungshorizonts auf den Gesamtkomplex Theresienstadt, von der Errichtung als österreichische Festung bis zur deutschen Besatzung, sollte die Einrichtung nun auch die Erinnerung an das Ghetto sowie an das KZ Leitmeritz, einem Außenlager des KZ Flossenbürg, in ihre Arbeit einbeziehen (Benz 2013: 234f; Munk 1998: 343f). Die Einsetzung einer ‚Regierungskommission zum Aufbau der Gedenkstätte Theresienstadt’ integrierte nicht nur den Verband antifaschistischer Kämpfer_innen, sondern auch den Rat der jüdischen Gemeinden.
Symbolisch für diesen Prozess der Öffnung steht die offizielle Umbenennung in „Gedenkstätte Theresienstadt“ (Památnik Terezín), die heute noch gültige Bezeichnung. Die Gedenkstätte entwickelte sich zunehmend zu einem Ort an dem informell auch Künstler_innen eingebunden wurden und an dem die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung diskutiert wurde. Auch ein Plan zu Errichtung eines Museums für das Ghetto wurde wieder reaktiviert. Mit den Vorbereitungen zu Einrichtung des Museums wurde 1968 begonnen, doch zerstob dieser Plan letztlich wie andere Hoffnungen unter den Ketten sowjetischer Panzer und in der nachfolgenden Phase der sogenannten Normalisierung. „Es kam zwar nicht sofort zur vollständigen Aufgabe des Projektes, aber zunächst hatte man auf gewisse außenpolitische Umstände Rücksicht zu nehmen. Darüber hinaus war das Regime bemüht, sich nicht des Antisemitismus bezichtigen zu lassen. Aus diesen Gründen wurde in aller Stille von dem einstigen Vorhaben, ein Ghetto-Museum zu schaffen, Abstand genommen“ (Blodig 2005: 224). Einzelne Vorhaben zur Umgestaltung wurden dennoch umgesetzt. Dazu gehört die Instandsetzung des Denkmals an der Ohře sowie die Errichtung eines steinernen Denkmals und die Neugestaltung des jüdischen Friedhofs. Die Kosten für diese Arbeiten wurden vor allem durch jüdische Organisationen aus dem Ausland aufgebracht. Die Hälfte der Mittel stammt aus Österreich. Doch nicht alle Entwicklungen der 1960er-Jahre konnten rückgängig gemacht werden. Die Dokumentations- und Forschungsarbeit zur Geschichte des Ghettos wurde fortgeführt. Allerdings gab es kaum Möglichkeiten zur Publikation der Forschungsergebnisse. Vojtěch Blodig weist darauf hin, dass in der Fachzeitschrift Theresienstädter Blätter zwischen 1975 und 1988 nur neun Artikel erschienen sind, die sich mit der Geschichte des Ghettos befassen (Ebda.: 224ff).
In unterschiedlichen Filmen und literarischen Darstellungen fand die Erinnerung an die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in der Tschechoslowakei ihren Platz: „Einer der frühesten Spielfilme über die Rassengesetze und Konzentrationslager ist der tschechoslowakische Film Daleká cesta (Der lange Weg, 1949; Alfréd Radok) über das Schicksal einer ‚Mischehe’ in Prag und Terezín/Theresienstadt“ (Drubek-Meyer 2008: 342). Das politische Tauwetter der Entstalinisierung schlug sich bis in den Prager Frühling hinein auch im Medium Film sowie dessen Thematisierung der Shoah und des jüdischen Schicksals nieder. So griffen „einige wichtige Filme der tschechischen ‚Neuen Welle’ das Thema auf: Transport z ráje (Transport aus dem Paradies, 1962), Démanty noci (Diamanten der Nacht, 1963), Obchod na korze (Der Laden auf der Hauptstraße, 1965), Dita Saxová (1967) und Modlitba pro Kateřinu Horovitzovou (Gebet für Kateřina Horovitzová, 1969). Der Slovake Peter Solan thematisierte 1963 in seinem Film Boxer a smrt (Der Boxer und der Tod, 1963) die sogenannte ‚Endlösung’“ (Ebda.).
Auch die Literatur nahm sich ab Ende der 1950er-Jahre und im Prager Frühling in Romanform jüdischer Themen an. Häufig waren die Romane dieser „Zweiten Welle“ autobiografisch geprägt. Hier ist beispielhaft Arnošt Lustig zu nennen, der Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald überlebte und im April von einem Transport nach Dachau fliehen konnte. Wie andere Juden auch wurde er im Zusammenhang mit den Slánský-Prozessen polizeilich über Kontakte nach Israel verhört. Lustig hatte als Berichterstatter über den Unabhängigkeitskrieg für die Zeitung Lidové noviny (Volkszeitung) in Israel gearbeitet. Lustig verließ die ČSSR schließlich 1968 um in die USA zu emigrieren. Er kehrte erst 2003 wieder nach Prag zurück. Seine neorealistischen Erzählungen und Novellen verweigern sich der Heroisierung des Widerstands. In Noc a naděje (Nacht und Hoffnung von 1957) und Démanty noci (Diamanten der Nacht von 1958) widmet er sich alten Menschen und Kindern als Lagerinsassen. Můj známý Vili Feld (Mein Bekannter Vili Feld von 1961) und Dita Saxová (1962) greifen die Probleme von KZ-Überlebenden auf sich in der Nachkriegszeit zurecht zu finden. Neben Lustig wären noch weitere relevante Autor_innen zu nennen, die sich mit der Shoah und dem jüdisch-tschechischen Verhältnis beschäftigt haben. Dazu gehören neben anderen Ladislav Fuks (1923-1994), der in seinen ersten Büchern vor allem das Thema der Solidarität von Tschech_innen und Juden_Jüdinnen aufgriff. In dem 1967 erschienene Roman Spalovač mrtvol (Der Leichenverbrenner), ein Horrorroman über einen Angestellten eines Krematoriums, bildet der selbstkritische Umgang mit tschechischer Kollaboration mit dem Nationalsozialismus das Leitthema. Der Roman wurde 1968 von Juraj Herz verfilmt (Drubek-Meyer 2008: 346f).
Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen endete mit der Niederschlagung des Prager Frühlings die Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzung und der Verfolgung und Ermordung der tschechischen Jüdinnen und Juden nicht völlig. Sie trat allerdings deutlich in den Hintergrund und erst mit den politischen Umbrüchen nach 1989 bekam die Erinnerung an die Shoah einen neuen Platz in der tschechischen Gesellschaft. Dennoch bleibt die Thematisierung von Kollaboration und Mittäterschaft bei den deutschen Verbrechen eine Aufgabe, die noch längst nicht vollständig angegangen, noch gar komplett aufgearbeitet ist.
Wolfgang Benz: Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung. München 2013.
Vojtěch Blodig: Die Gedenkstätte Theresienstadt in der Vergangenheit und der Gegenwart, in: Christoph Cornelißen, Roman Holec, Jiřy Pešek (Hg.): Diktatur – Krieg – Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Essen 2005. S. 221-228.
Natascha Drubek-Meyer: Opfer und „Leichenverbrenner“. Das „jüdische Thema“ in tschechischer Literatur und Film, in: Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.) Geschichtspolitik und Gegenerinnerung. Krieg, Gewalt und Trauma im Osten Europas (=Osteuropa 6/2008). Berlin 2008. S. 341-356.
Peter Hallama: Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust. Göttingen 2015 (Hallama 2015a).
Peter Hallama: Nationalgeschichte oder „Hebraistik“? Die tschechische Erinnerung an den Holocaust. 2015. Online unter http://erinnerung.hypotheses.org/125?lang=de_DE (Hallama 2015b).
Jan Munk: Entwicklungskonzeptionen der Gedenkstädte Theresienstadt und die Motivationsstruktur ihrer Besucher, in: Miraoslav Kárný, Raimund Kemper, Margita Kárná: Theresienstädter Studien und Dokumente 1998. Prag 1998. S. 342-355.