In einer heterogenen und pluralistischen Gesellschaft mit ganz unterschiedlichen Erfahrungshorizonten, durch welche Deutschland geprägt ist, kommt einer multiperspektivischen Geschichtsvermittlung eine besondere Bedeutung zu. Eine als Buch und digital erhältliche bpb-Publikation aus der Reihe „Themen und Materialien“ setzt an diesem Punkt an und orientiert sich an den Bedingungen der Migrationsgesellschaft. Grundlage war ein von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördertes Projekt des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie, bei dem zwischen Juli 2010 und April 2012 ein interdisziplinäres Team aus unterschiedlichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen zusammen mit Multiplikator_innen, Lehrer_innen und Schüler_innen in Fachgesprächen sowie Workshops die Themen und Bausteine der Materialsammlung entwickelt und erprobt haben.
Die Autor_innen begreifen die deutsche Geschichte (auch) als Migrationsgeschichte, stellen eine große Anzahl von Materialien für die schulische und außerschulische historisch-politische Bildung zusammen und bereiten eine Reihe von zeitgeschichtlichen Themen so auf, „dass sie für die Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft anschlussfähig sind“(S.14). Zielgruppen sind dabei explizit nicht migrantische Minderheiten; die Materialien richten sich vielmehr auf Basis der lebensweltlichen Realität von Lernenden mit ganz unterschiedlichen familiären und kulturellen Hintergründen an die gesamte Gesellschaft.
Jedem der insgesamt zehn Themenfelder geht ein einleitender Text voraus. Den Kern bilden darauf folgend inhaltlich differenzierte Module, die vor allem „ noch vorhandene Lücken in der Vermittlung von bestimmten Aspekten der Zeitgeschichte“ (ebd.) füllen sollen. Die Module sind in drei Schritten strukturiert. Einer thematischen Einführung folgen konkrete Arbeitsvorschläge, wie das jeweilige Thema methodisch und didaktisch für unterschiedliche Zielgruppen aufbereitet werden kann. Dabei legen die Autor_innen besonderen Wert auf die praktische Umsetzbarkeit der Module und zeigen jeweils Problematiken auf, welche diese erschweren können. Den Abschluss bilden Kopiervorlagen der eingesetzten Quellen wie Statistiken, Karikaturen, Fotografien, Aktenauszüge, Zeitungssauschnitte oder Redemanuskripte. Die einzelnen Module sind als eigenständige Lerneinheiten aufgebaut, können jedoch miteinander verknüpft werden. Die Gestaltung der Publikation ermöglicht es problemlos, einzelne Seiten – beispielsweise zur Vervielfältigung von Materialien – herauszutrennen.
Gleich zu Anfang widmet sich Caroline Gritschke der deutschen Migrationsgeschichte. Sie stellt heraus, dass „die Perspektive auf Migration als Konstante der deutschen Geschichte“ (S.21) nirgends zu finden sei und bietet fünf Module an, die vor diesem Hintergrund thematische Lücken in der historisch-politischen Bildung zu schließen vermögen. Gritschke stellt so beispielsweise ein Konzept vor, wie Schüler_innen „verräterischer Sprache“ im Hinblick auf Migrant_innen auf die Spur kommen können. Dabei sollen „migrationsspezifische Entwicklungen nach 1945 anhand von Wortfeldsuchen nachgezeichnet werden“ (S.52). Die Dauer und Vorbereitungszeit des Moduls lässt sich variabel gestalten, eine internetbasierte Recherche während einer Vertretungsstunde – beispielsweise im Online-Archiv der Zeitschrift „Der Spiegel“ – ist ebenso möglich wie eine vorbereitungsintensivere Auswertung von Print-Artikeln aus der Lokalpresse. Ziel ist es, die Schüler_innen in die Lage zu versetzen, historische Veränderungen der Sprache, mit der auf Migrant_innen Bezug genommen wird, nachzuzeichnen, einzuordnen und darauf aufbauend die gesellschaftliche Partizipationschancen von Migrant_innen zu erkennen.
Vier Module für die Auseinandersetzung mit den Themen Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust entwickelt Elke Gryglewski. Sie dekonstruiert dabei bestehende Vorurteile wie beispielsweise die vermeintlich fehlende Bereitschaft von Jugendlichen arabischer oder türkischer Herkunft, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, und betont, dass die Beschäftigung mit nationalsozialistischen Verbrechen „kein Allheilmittel gegen antisemitische, rassistische und andere abwertende Haltungen und Aktionen“(S.58) darstelle. Gryglewski warnt davor, dass es durch die Entwicklung von Materialien für eine spezifische Zielgruppe wie einer migrantischen Minderheit zu einer Reethnisierung und Festschreibung der Lernenden als „Andere“ kommen kann und stellt fest, dass eine „vermeintlich homogen zusammengesetzte Schulkasse […] von für sie unbekannten Quellen ebenso profitieren“(S.60) werde „wie eine multikulturell oder multiethnisch zusammengesetzte“(ebd.).
Ein als mehrwöchiges Projekt konzipiertes Modul zu den globalen Folgen und Dimensionen des Nationalsozialismus sieht Gryglewski vor allem als Einstiegssequenz, welche durch ihren partizipativen Charakter Interesse weckt und die Schüler_innen in die Lage versetzt, die Inhalte der anderen drei Module in einen historischen Kontext einzuordnen. Mit der Frage, welche Handlungsspielräume nicht rassisch oder politisch verfolgte Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus hatten, befasst sich ein zweites Modul am Beispiel des Berliner Hausmeisters Otto Jogmin und hinterfragt – ohne die Risiken zu verschweigen – das tradierte Narrativ, dass es keine Möglichkeiten zur Unterstützung von Verfolgten gegeben hätte. Die Person Otto Jogmins könne aufgrund seiner fehlenden Ausbildung zudem „als Identifikationsperson für bildungsbenachteiligte Jugendliche dienen“(S.71). Die ideologischen Grundlagen von Rassismus und Antisemitismus des Nationalsozialismus können Schüler_innen anhand der von Gryglewski in einem weiteren Modul zusammengestellten Materialien nachvollziehen, während sich das letzte Modul der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus widmet und Schüler_innen „Anknüpfungspunkte zur Beschäftigung mit unterschiedlichen politischen Systemen in Deutschland, in dem Status und Lebensbedingungen von Arbeiterinnen und Arbeitern im Längsschnitt der Geschichte betrachtet werden“ (S.83), bietet.
Weitere Themenfelder der Materialsammlung behandeln Migrationsgeschichte im Kontext der DDR, des Alltags in der (frühen) Bundesrepublik, der politischen Partizipation durch Wahlen, der Familien- und Herkunftsgeschichte, historisch gewachsener Diskriminierung sowie des Umbruchs in Europa um 1989 und der deutschen Erinnerungskultur. Die Partizipation und Selbstorganisation von Migrant_innen beleuchtet Heiko Klare und stellt fünf Module vor, in welchen die Frage aufgeworfen wird, wie marginalisierte Gruppen und Akteure ihre Handlungsspielräume genutzt haben. So stellt Klare beispielsweise ein als zeitlich flexibles Projekt konzipiertes Modul vor, bei dem Schüler_innen historisches Hintergrundwissens zur Geschichte der Schülermitverwaltung erarbeiten und sich auf dieser Basis mit der „Geschichte von Mitbestimmung und Mitverwaltung an der eigenen Schule“(S.208) auseinandersetzen.
Die Publikation „Praktische Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ entwickelt auf einer breiten thematischen Grundlage zahlreiche Module für die schulische und außerschulische historisch-politische Bildung. Der Praxisbezug, die Multiperspektivität und die Selbstreflexion, mit der die Autor_innen an die Geschichtsvermittlung herangehen, sind die großen Stärken der Publikation. Aufgrund der hohen Anzahl von zur Verfügung gestellten Quellen und des inhaltlichen und methodischen Abwechslungsreichtums kommen sowohl jene auf ihre Kosten, die langfristig angelegte Projekte planen, als auch jene, die auf der Suche nach Konzepten für eine Vertretungsstunde an der Schule sind.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Praktische Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft. 46 Bausteine für die schulische und außerschulische historisch-politische Bildung, Bonn 2012.
Die Publikation ist für 4,50 (zzgl. Versandkosten) im Onlineshop der Bundeszentrale für politische Bildung als Buch und auf CD-Rom erhältlich.