Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Mit den seit 2014/15 ungleich verstärkten Migrationsbewegungen nach Europa und Deutschland einher ging ebenfalls eine Konjunktur von Materialien zum Thema (Zwangs-)Migration/Flucht. Eine Untersuchung von knapp 300 digitalen Projekten zu Formen von Bildungs- und Medienprojekten für Geflüchtete durch die Werkstatt der bpb (Bundeszentrale für politische Bildung) im Jahr 2015 ergab u.a., dass Medienkompetenz und historisch-politische Bildung noch deutlich unterrepräsentiert waren. Die meisten Angebote waren weniger Bildungs- oder Medienbildungsprojekte, sondern vor allem den Aspekten Vernetzung und Information gewidmet – lediglich 31% gingen darüber hinaus.
Bildungsmaterialien selbst sind wiederkehrend zumeist gegenwartsorientiert und als PDF-Handreichungen online abrufbar, d.h. sehr selten technisch oder formal experimentell. Selten behandeln sie Migration/Flucht in historischer Perspektive. Auffallend häufig thematisieren selbst solche Materialien schwerpunktmäßig Flucht und Asyl in der Gegenwart – die historische Perspektive bleibt meist Beiwerk.
Gegenwärtige Migrationsphänomene werden didaktisch, aber auch publizistisch, in der Fach- und Populärgeschichte oder auch parlamentarischen Debatten meist wie folgt verglichen:
mit beliebigen, geografisch-ungebundenen Ereignissen vor dem 20. Jahrhundert (Adam und Evas Vertreibung aus dem Paradies, Sklaven im Römischen Reich, Babylon, Ruhrpolen, Hugenotten, Deutsche Emigranten in Amerika…)
mit Erfahrungen von Vertreibung, Flucht, Exil und Asyl während der NS-Zeit,
mit „Flucht und Vertreibungen“ der Deutschen zum Ende des Zweiten Weltkriegs,
mit Mauer, DDR- oder Republikflüchtlingen sowie
mit Ereignissen der neueren Zeitgeschichte wie der Flucht im Zuge der jugoslawischen Zerfallskriege.
Geklammert werden solche, meist ungewichteten Vergleiche beispielhaft durch die Narrative Integration/Aufbau, Fremd-Sein und Fremd-Machen (gemeinsame Erfahrung ökonomischer Paranoia und/oder religiöse Fremdelei) oder auch Leid (Viktimisierung). Migrant_innen und Geflüchtete, oft als „Ausländer und Flüchtlinge“ benannt, werden noch immer häufig als „konfliktträchtig und krisenhaft“, als Problem und Herausforderung für eine weitgehend homogen vorgestellte (Aufnahme-)Gesellschaft dargestellt (Schulbuchstudie Migration und Integration). Dagegen gälte es die Leerstellen wie nahezu nie thematisierte migrantische Selbstorganisation(en) auch im Sinne einer selten bedachten Multiperspektivität zu füllen sowie Fluchtphänomene und die daran Beteiligten als Opfer, aber auch als Profiteure und Akteure mit Vorgeschichten, Hoffnungen, Handlungsoptionen und Ambivalenzen zu betrachten.
Auffällig an Materialien, die auch mit dem Nationalsozialismus im Zusammenhang stehende Fluchtphänomene betrachten, ist vor allem:
der meist alleinige Bezug auf die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg (in Schulbüchern) auf Deutschland, so dass wenn überhaupt von Flucht und Vertreibung betroffene Deutsche sowie Displaced Persons in Deutschland thematisiert werden,
die dadurch mit bedingte konstante Randständigkeit von Flucht und Asyl durch Nationalsozialismus/Faschismus noch vor dem Zweiten Weltkrieg,
sowie die Ausblendung von fliehenden NS-Täter_innen und
die geringe Beachtung deutscher Kontinentalkolonisationspolitik (beispielsweise Flucht und Vertreibung durch „Germanisierungspoltik“) sowie deren Planern und Opfern als Fluchtphänomene.
Dies scheint weniger durch eine Sensibilität für die Vermeidung einfacher Analogiebildungen bedingt, als vielmehr durch ein oftmaliges Ausblenden oder Unbewusstsein vom Nationalsozialismus selbst als Migrations- (Umsiedlungsprojekte) und Fluchtursache. Als Faktoren für dieses Phänomen – mit dem die Phase der nationalsozialistischen Vertreibungspolitik(en), deren Opfer und Selbstbehauptung abseits der standardisierten Erzählung von den Kindertransporten oder der internationalen Konferenz von Evian 1938 ausgeblendet werden – können gelten:
Konsequent gleichen sich viele Materialien darüber hinaus in ihrem standardisierten Aufbau: Fluchtursachen und -gründe[1], -routen, Arbeitsblätter, Beispielbiografien, Glossar und weiterführende Links. Die wenigen, die eine historische Tiefendimension in den Blick nehmen, verlieren nicht selten die historischen Spezifika aus dem Blick, in dem sie nahezu omnitemporal/metahistorisch Migration als anthropologische Konstante der menschlichen Geschichte darstellen und häufig zu einfachen Analogieschlüssen ermuntern. Eine spannende Ausnahme bildet hier bspw. das thematisch klar abgesteckte, vorbereitungsintensivere, „gesteuerte“ Spiel der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus „Was nun?“. Dieses kombiniert Aspekte von Würfel- und Rollenspielen und versucht über die internationale Flüchtlingskonferenz von Evian 1938 – im Kontext von Bildungsmaterialien zum Thema Flucht beinahe ikonographisch geworden – eine innovative Annäherung an das Spannungsfeld individueller Perspektiven und kollektiver Zwänge.
Das ist schon allein deshalb methodisch erfrischend, weil das Gros der Materialien aus Positionierungs- (beispielsweise Rollen/Identitäts-Karten) und Koffer-Pack-Übungen besteht. Sie zielen – bewusst oder unbewusst – auf die schulische Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen ab. Allein durch die Sprachwahl und mangelnde Angebote von geteilten geschichtlichen Schnittstellen als Anlässe zur Auseinandersetzung adressiert die große Mehrheit der Materialien vor allem bereits länger hier lebende, sehr gut Deutschsprechende – zumeist Mitglieder der Dominanzgesellschaft. Mehrsprachige, weniger sprachbasierte und auch inhaltlich differenzierte Formate, die eine Teilhabe heterogener Zielgruppen ermöglichen und z.B. theaterpädagogische Überlegungen, nonverbale Zugänge und anders ausbalancierte kognitive und emotionale Lernwege zur Anwendung bringen, finden sich äußerst selten.
Bei einer Korrektur dieses Defizits ginge es weniger allein um Migrant_innen als Zielgruppe, als vielmehr um die Migrationsgesellschaft als Kontext, also alle Gruppen einer Gesellschaft.
Vor dem Hintergrund meist allein agierender Akteur_innen als Herausgeber_innen – deren jeweilige didaktische oder sozialarbeiterische Expertise nicht zur Debatte steht, die jedoch den geschilderten Fallstricken der einfachen Analogiebildung durch zuweilen unklare Beispielauswahl, fehlender Nachhaltigkeit durch Format- und Zielgruppenverengungen (Accessibility durch Sprache, Interaktivität etc.) und Redundanz-Produktionen erliegen – erscheint die Kooperation verschiedener, sich gegenseitig methodisch hinterfragender und über den eigenen Tellerrand schauender Fachinstitutionen sowie ein klares thematisches Profil erfolgsversprechender.
[1] Meist bleiben diese – ob aus Gründen des Umfangs, der Zielgruppe oder Unbewusstsein – schematisch, indem sie kategorial von Kriegen, wirtschaftlichen Gegebenheiten oder Naturereignissen als Ursachen sprechen.