Zur Ermordung von politischen Gefangenen bedurfte es in der Sowjetunion unter Stalin nicht zwingend der berüchtigten Erschießungen. Die verheerenden Bedingungen in den sowjetischen GULags sind wohlbekannt und in der Forschungsliteratur weitgehend aufgearbeitet. Wenn jedoch die Erinnerungen eines ehemaligen Häftlings, der in insgesamt 17 Jahren Zwangsarbeit gleich mehrere Lager überlebt hat, in einem Buch zusammengefasst werden, fügt dies dem Blick auf die Vergangenheit eine weitere aufschlussreiche Perspektive hinzu.
Warlam Schalamow war Ende der 1920er Jahre Student an der juristischen Fakultät in Moskau, wo er sich in Kreisen der sowjetischen linken Opposition bewegte. Er demonstrierte gegen den fortschreitenden Machtzuwachs Stalins und sah sich dabei in einer Reihe mit früheren russischen Revolutionsbewegungen. Im Februar 1929 wurde er in einer illegalen Druckerei erstmals verhaftet. Ihm wurde die Verbreitung von Lenins sogenanntem „Testament“ zur Last gelegt, einem Brief des in Ungnade gefallenen Revolutionshelden an den Siebten Parteitag der Kommunistischen Partei aus dem Jahr 1922. Nach einigen Wochen im Moskauer Untersuchungsgefängnis Butyrka wurde Schalamow als „gefährliches Element“ verurteilt und verbrachte mehr als zwei Jahre in einem Arbeitslager am Fluss Wischera westlich des Uralgebirges.
Im Januar 1937 kam es zur zweiten Verhaftung wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“. Nach sechsmonatiger Untersuchungshaft im Butyrka-Gefängnis – freilich ohne Untersuchung – war Schalamow bis 1951 in Arbeitslagern in der Region Kolyma im Nordosten Sibiriens inhaftiert. Es folgten fünf Jahre der Verbannung, ehe er nach Moskau zurückkehren konnte.
Es sind die beiden Inhaftierungen im Butyrka-Gefängnis, die als Rahmen für diese Sammlung von Erzählungen über die Zeit an der Wischera dienen. Dies liegt zum einen in dem Umstand begründet, dass Schalamow in „Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma“ bereits ausführlich die Jahre in Sibirien reflektiert hat. Zum anderen aber hebt diese Form den vergleichenden Charakter hervor, der in vielen der insgesamt 19 Episoden mitschwingt. Denn egal, wie düster Schalamow die Umstände seiner ersten Haft beschreibt, wird er nicht müde zu betonen, wie viel schlimmer die Prozess- und Haftbedingungen im Laufe der 1930er Jahre wurden, bis sie während und nach dem „Großen Terror“ ihren negativen Höhepunkt erreichten.
Schalamow erzählt von seiner ersten Verhaftung als dem „Beginn [s]eines gesellschaftlichen Lebens“ und der Gelegenheit, „unter harten Bedingungen“ seine „wahren seelischen Eigenschaften zu erproben“ (S. 7). Anderthalb Monate verbrachte er im Butyrka-Gefängnis in Einzelhaft und schaffte es, sich in dieser Zeit mit seiner neuen Situation zu arrangieren und mental gestärkt die Haft an der Wischera anzutreten. Im weiteren Verlauf rekapituliert das Buch die verschiedenen Stationen an der Wischera und natürlich die vielen Begegnungen, die Schalamow auf diesem Weg gemacht hat. Und so bieten die Episoden des aufmerksamen Schriftstellers detailreiche Einblicke in das Leben im GULag, sowohl in die kleinen Alltäglichkeiten als auch in die übergeordneten Mechanismen, die den Lagerbetrieb am Laufen hielten.
Schalamow schreibt von den Ganoven, in deren Umfeld man sich auch als politischer Gefangener zwangsläufig bewegte, von Lager- und Polizeifunktionären, von denen einige später im Zuge des „Großen Terrors“ erschossen wurden, und von vielen anderen Mithäftlingen. Manche erreichten im GULag hohe Posten, andere gingen unter, wieder andere scheiterten beim Fluchtversuch. Im Buch allgegenwärtig ist auch der beginnende Prozess der „Umschmiedung“, die ein Belohnungssystem in den Lagern einführte und etwa die Größe der Brotrationen der individuellen Arbeitsleistung anpasste. Dieses Spiel nicht mitspielen zu dürfen, war wohl eine von Schalamows wichtigsten Erkenntnissen dieser Zeit. Überhaupt kann man sich beim Lesen nicht dem Eindruck entziehen, dass der Autor das Überleben seiner hohen Beobachtungsgabe verdankt.
Als Maßstab für die Bewertung der Zeit an der Wischera dient immer wieder Schalamows zweite Hafterfahrung in Sibirien. Herausgeberin Franziska Thun-Hohenstein schreibt dazu im Nachwort: „Im Wissen um die grauenvollen Geschehnisse in den Lagern der Kolyma-Region erscheint das Lager an der Wischera aus Schalamows Sicht als ein anderes Lager: Es ist ein Lager, dessen Ziel (noch) nicht die Vernichtung des Menschen durch Kälte, Hunger und extrem harte physische Arbeit ist, ein Lager, dessen Kern (noch) nicht der kalkulierte Verschleiß des Menschen ist, sondern die Ausbeutung seiner Arbeitskraft, seiner Fähigkeiten. Solche Unterschiede werden aber erst aus der Perspektive der Kolyma wirklich erkennbar.“ (S. 235 f.)
Wenngleich sich „Wischera. Antiroman“ nicht direkt mit dem „Großen Terror“ auseinandersetzt, so enthält das autobiografische Werk doch zahlreiche Referenzen an die Massenverhaftungen, von denen Warlam Schalamow 1937 schließlich auch selbst betroffen war. Es ist erstaunlich, mit wie viel Feinsinn es ihm gelingt, die Erfahrungen aus jahrelanger Zwangsarbeit im GULag festzuhalten. „Wischera“ überzeugt nicht nur mit unglaublichem Reichtum an Details, sondern auch mit vielen klugen Einordnungen des Autors. Stellenweise sticht der naturgemäße Umstand ins Auge, dass ein autobiografischer Text dem subjektiven Empfinden folgt und dieses einem historisch reflektierten Diskurs überordnet, etwa wenn Schalamow ein besonders berüchtigtes Lager als „etwas wie das Auschwitz der Kolyma“ (S. 215) bezeichnet. Wer sich aber für ein auch stilistisch äußerst ansprechendes Buch über politische Haft in der Sowjetunion der 1930er Jahre interessiert und dazu bereit ist, die Erzählungen mitunter einem quellenkritischen Blick zu unterziehen, wird mit „Wischera“ viel Freude haben.
Warlam Schalamow: Wischera. Antiroman, Matthes & Seitz, Berlin 2016. 271 Seiten, 22,90 Euro.
Im vergangenen Jahr ist auch eine LaG-Ausgabe zum Thema „GULag“ erschienen.