Kathrin Krahl, Soziologin, und Antje Meichsner, Medienpädagogin, beide aktiv im Projekt „RomaRespekt“ und in der Gruppe „Gegen Antiromaismus“, haben ein lange überfälliges Buch herausgegeben, ein Kompendium, das Geschichte und Gegenwart von Sinti und Roma in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Tschechien aufgreift, das über politischen ebenso wie kulturellen Aktivismus berichtet sowie über Verfolgung und Diskriminierung – kurz: über Lebensrealitäten. Auf 254 Seiten schließt das Buch diese Rezeptionslücke und lässt hierfür unterschiedlichste Autor_innen zu Wort kommen: 39 Autor_innen, zusätzlich zwei Autor_innenkollektive mit insgesamt 35 Beiträgen und Interviews. Was die Publikation im Untertitel ankündigt, nämlich „Texte über Antiromaismus und historische Lokalrecherchen zu und von Roma, Romnja, Sinti und Sintezze in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Tschechien“, wird in fünf Schwerpunktkapiteln eingelöst: Aktivismus, Geschichte, Gegenwart, Kunst und Bildung. Bereits in der Inhaltsübersicht wird klar: Das ist ein Buch aus der Praxis, geschrieben von Aktivist_innen, Künstler_innen, Kämpfer_innen, und entsprechend finden sich viele richtige praxisnahe herrschafts- und rassismuskritische Hinweise, Überlegungen und Anknüpfungspunkte.
So stellt Isidora Randjelović das Feministische Archiv „RomaniPhen“ vor und beschreibt dessen Notwendigkeit: Da Sinti und Roma im mehrheitsgesellschaftlichen Mainstream nicht vorkommen, da Geschichte von Herrschenden geschrieben wird, da Lücken der hegemonialen Geschichtsschreibung geschlossen werden müssen, da Zugänge zu Erzählungen von und über Roma als handelnde Subjekte fehlen, braucht es ein eigenes Archiv.
Hamze Bytyçi greift unter anderem die aktuellen Diskussionen um den Grundsatz des Pressekodexes auf, die ethnische oder nationale Identität von Straftäter_innen nur dann zu veröffentlichen, wenn diese für das Verständnis des Sachverhalts wichtig ist, und stellt diese in den Zusammenhang mit der Beschwerde des Verbandes der Sinti und Roma darüber, dass die Polizei in Nordrhein-Westfalen bei „bestimmten Kriminalitätsformen“ die „Herkunft der Täter“ erfassen wollte.
Ivana Mariposa Čonková stellt die kritische Frage nach dem Zusammenhang von Bildung und Aktivismus – wie also kann das Empowerment von Einzelnen, zum Beispiel über Stipendien oder Auslandsstudienaufenthalte, auch positive Effekte auf die Community als Ganzes haben, wenn Bildung von einzelnen Personen nicht zum Empowerment einer ganzen Gruppe führt.
In mehreren Beiträgen wird skandalisiert, dass sich am Ort eines früheren KZ („Zigeunerlager Lety“) weiterhin eine Schweinefarm befindet, und Forderungen gerade an deutsche Regierung, hier tätig zu werden, werden laut.
In den zahlreichen Interviews in dem Band stellen Aktivist_innen die Auslöser und ihre Motivation des Engagements anschaulich dar.
Kristina Wermes führt als praktisches Beispiel Stolperstein-Verlegungen mit Jugendlichen an und gibt Tipps für die Nachahmung und Umsetzung.
Insofern ist die Schwerpunktlegung auf praktische Aspekte und Aktivismus durchaus ein Vorzug des vorliegenden Bandes. Dagegen schwächelt der Band mitunter in der theoretischen Auseinandersetzung und Begriffsdefinition. Überwiegend wird als Beschreibung des hier relevanten Phänomens der Begriff „Antiromaismus“ verwandt, ohne (und nur in einzelnen Fußnoten) auf die Begriffskontroverse einzugehen. Dafür wird lediglich auf einen einzigen online verfügbaren Text verwiesen, dessen Autorin, Isidora Randjelović, jedoch ausdrücklich darauf verzichtet, den Begriff „Antiziganismus“ zu diskutieren (Randjelović: 2014). Bei aller berechtigten Kritik und trotz des Wissens um eine mögliche Triggerwirkung durch die Verwendung des Terminus „Antiziganismus“, macht dieser Begriff dennoch den Projektionscharakter der rassistischen Zuschreibung deutlich. Es geht um die Fremdzuschreibung der Mehrheitsgesellschaft, die einer Minderheit oder einem Individuum unabhängig von der eigenen Verortung oder dem eigenen Zugehörigkeitsgefühl ein „zigeunerhaftes“ Wesen unterstellt (End: 2013). Genau dies macht meines Erachtens der Begriff deutlich, ähnlich wie der Begriff „Rassismus“ die Annahme, Menschen ließen sich in unterschiedliche „Rassen“ unterteilen, nicht stützt, sondern vehement ablehnt.
Auch der Terminus „Porajmos“ wird in unterschiedlichen Beiträgen verwendet, ohne auf die Kontroverse um den Begriff hinzuweisen. Zwar geht der Begriff auf den Roma-Aktivisten Ian Hancock zurück, dennoch gab und gibt es auch aus Roma-Communites linguistische Einwände, weil in einigen Dialekten des Romanes der Begriff als sexuelle Handlung verstanden werden kann (Tcherenkov, Laederich: 2004).
Unter dem Stichwort „Cultural Appropriation“ kritisiert Antje Meichsner, dass Goran Bregović in seinen Filmmusiken Melodien von Rom_nja adaptierte. Dass Bregović Musik außer seiner eigenen offenbar als Gemeineigentum ansieht und den Komponist_innen keine Credits zugesteht, mag das Kunsturheberrecht verletzen und bedarf im Zweifel einer juristischen Entscheidung über Anspruch auf Tantiemen. Ist diese Aneignung aber wirklich kulturell oder nicht eher Diebstahl geistigen Eigentums? Überhaupt birgt die Annahme von „Cultural Appropriation“, also „kultureller Aneignung“, die Gefahr, Kultur als essentialistisch zu sehen und impliziert „eine reaktionäre Vorstellung von kultureller Reinheit“ (Hertz: 2016). Weiterhin müsste in einem rassismuskritischen Buch vermieden werden, Einzelne als Vertreter_innen ihrer „Nation“ oder „Kultur“ anzusehen. So wird die Sintezza-Musikerin Dotschy Reinhardt zitiert, die die Darstellung von Roma in Shakiras Musikvideo zu „Gypsy“ kritisiert: „Mich stört, dass eine Nicht-Gypsy der Welt erklären möchte, wie eine Sintezza ist. Eine Sinti- oder eine Romnifrau weiß sich immer auch zurückzuhalten. Es ist nicht diese schamlose Art. Sinti sind ein sehr sensibles Volk, auch kein lautes Volk, wie man das immer darstellen möchte, diese wilde Verwegenheit, dieses Feurige, das ist angedichtet.“ Auch wenn Reinhardt Fremdzuschreibungen und Klischees zu Recht kritisiert, tappt sie doch in die Kulturalisierungsfalle, wenn sie ein einheitliches, kulturell geprägtes Verhalten aller Sinti fabuliert. Der gleiche Beitrag widmet sich auch der Band Gogol Bordello um den New Yorker Sänger und Schauspieler Eugene Hütz, die sich selbst als Gypsy-Punk-Band versteht, und wirft die Frage auf: „wieviel ‚Gypsy‘ oder ‚Roma‘ steckt in diesem Punk?“
Meichsner verweist hier auf die „Roma-Wurzeln“ von Hütz, Wikipedia ist da direkter: Hütz sei „1/4 Romani“ (Wikipedia). Menschen sind keine Bruchzahlen und lassen sich nicht als solche darstellen. Die Erfindung des „Voll-, Halb- oder Vierteljuden“ war eine der Nationalsozialisten. Spätestens an dieser Stelle pervertiert der Vorwurf der „Cultural Appropriation“ dann jeglichen Antirassismus: Bis in die wievielte Generation ist die Suche nach den „Wurzeln“ zulässig, um noch in einer Gypsy-Band spielen zu dürfen?
Leider schmälern solche begrifflichen Ungenauigkeiten und die stellenweise fehlende theoretische Auseinandersetzung den Gewinn des Buches. Wird der Sammelband vor dem Hintergrund dieser Kritik gelesen, bietet die praxisbezogene Herangehensweise jedoch Anregungen für die eigene Auseinandersetzung mit Antiziganismus und für die rassismuskritische Bildungsarbeit.
Krahl, Kathrin / Meichsner, Antje (Hg.): Viele Kämpfe und vielleicht einige Siege. Dresden 2016.
Auch online verfügbar: http://www.weiterdenken.de/de/2016/08/01/viele-kaempfe-und-vielleicht-einige-siege
Randjelović, Isidora: Ein Blick über die Ränder der Begriffsverhandlungen um „Antiziganismus“. https://heimatkunde.boell.de/2014/12/03/ein-blick-ueber-die-raender-der-begriffsverhandlungen-um-antiziganismus
Wikipedia zu Eugene Hütz: https://en.wikipedia.org/wiki/Eugene_H%C3%BCtz
Hertz, Anja: Recht hat, wer am unterdrücktesten ist. In: Analyse & Kritik. 16. Februar 2016. Auch online unter https://www.akweb.de/ak_s/ak613/28.htm: „Der Vorwurf der cultural appropriation verteidigt eine vermeintlich homogene, authentische Kultur der Subalternen gegen ihre kolonialistisch-kulturindustrielle Ausbeutung - eine Argumentation, die nicht mehr zwischen rassistischer Karikatur und kulturellen Vermischungsprozessen unterscheidet und reaktionäre Vorstellungen von kultureller Reinheit impliziert.“
Zur Begriffsdefinition „Antiziganismus“ siehe auch: End, Markus (2013): Antiziganismus. Zur Verteidigung eines wissenschaftlichen Begriffs in kritischer Absicht. In: Bartels, Alexandra / von Borcke, Tobias / End, Markus / Friedrich, Anna (Hg.): Antiziganistische Zustände 2. Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse. Münster, S. 39-72.
Zur Kritik am Begriff „Porajmos“ siehe auch: Tcherenkov, Lev / Laederich, Stéphane (2004): The Rroma, Band 1: History, Language and Groups. Basel, S. 236.