1988, kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion, gründete eine Gruppe von Menschrechtsaktivist_innen, der auch die Historikerin und Publizistin Dr. Irina Scherbakowa angehörte, in Moskau die unabhängige zivilgesellschaftliche Organisation „Memorial“, deren Ziel es war, die verschiedenen Formen politischer Repression während der Stalinzeit und darüber hinaus aufzuarbeiten, an die zahllosen Opfer zu erinnern und diese gesellschaftlich zu rehabilitieren. Im Jahr 2014 erinnert sich Scherbakowa, inzwischen Trägerin des Bundesverdienstkreuzes und Autorin zahlreicher Arbeiten zu dem Thema, an die Zeit von damals, als die politischen Umbrüche jener Tage ihr und ihren Mitstreiter_innen als „Basis für eine tiefgreifende gesellschaftliche Reflexion“ erschienen waren. Nüchtern erkennt sie, dass sich alles „dann als sehr viel schwieriger und schmerzhafter heraus[stellte], als es uns am Ende der 1980er Jahre erschien.“ (S.5)
Die Gründe für die komplexe und von Widerständen geprägten Auseinandersetzungen mit der Stalinzeit und den verschiedenen Formen gesellschaftlicher und politischer Repression jener Tage, sind vielfältig. Sie beginnen bereits mit der Definition von Täter_innen und Opfern, deren Positionen in einer Gesellschaft, die gezeichnet war von inneren Konflikten auf der einen und einer strukturellen Illoyalitätsvermutung auf der anderen Seite, oft fließend ineinander übergingen. Die Verstrickung der Geschichte der Sowjetunion und insbesondere der Stalinzeit mit den Erfahrungen von Zweitem Weltkrieg und der Shoah, dem anhaltenden Blockdenken des Kalten Krieges und eines durch jahrzehntelange staatliche Repression gewachsenen kollektiven Misstrauens, führten im Zuge der Bemühungen um eine Aufarbeitung des Geschehenen immer wieder zu Abwehrhaltungen, Beißreflexen und offen ausgetragenen Konflikten.
Der von der Historikerin Julia Landau und Irina Scherbakowa für die Bundeszentrale für politische Bildung im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie der Gesellschaft „Memorial“ 2014 herausgegebene Sammelband „Gulag. Texte und Dokumente, 1929-1956“, befasst sich nun ausführlich mit der Aufarbeitung sowjetischer Unrechtsgeschichte. Die verschiedenen Beiträge des Bandes eröffnen dabei einen multiperspektivischen Blick auf das Thema, sowohl in Bezug auf die historiografische Darstellung des Geschehen als auch auf die Aufarbeitungs- und Rezeptionsgeschichte und die Beschreibung historiografischer Querverbindungen und Interdependenzen. Grundlage für die Publikation bildeten die verschriftlichten Beiträge zweier Vortrags- und Disskussionsreihen, die zwischen 2012 und 2013 im Kontext der von „Memorial“ und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora erarbeiteten gleichnamigen Ausstellung in Weimar und Berlin durchgeführt wurden. Sowohl die Ausstellung als auch der vorliegende Band bündeln dadurch nicht nur den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung zum Thema „Gulag“, sondern geben auch einen Überblick über die Kontroversen, Schwierigkeiten und Errungenschaften der letzten Jahre.
In dem ersten Teil des Bandes nehmen einige Autor_innen zunächst eine historiografische Einordnung sowie eine definitorische Hinführung an die Thematik vor. Dabei werden schnell die Zäsuren deutlich, die im Rückblick die Entwicklungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene beeinflussten. Während innerparteiliche Entwicklungen und weltpolitische Ereignisse – insbesondere der Zweite Weltkrieg – die Genese des Gulag-Systems und des repressiven Charakters des sowjetischen Staates maßgeblich beeinflussten, führte vor allem der Tod Josef Stalins 1953 zu einem stetigen Rückgang der Verfolgung und schließlich zur sukzessiven Schließung eines Großteils der Straflager und Kolonien. Auf historiografischer Ebene hingegen bildete der von dem ehemaligen Gefangenen Alexander Solschenizyn herausgegebene, 1800 Seiten starke Erfahrungsbericht „Der Archipel Gulag“ einen markanten Einschnitt sowohl in Bezug auf die öffentliche Auseinandersetzung als auch auf die wissenschaftliche Einordnung des Themas. Solschenizyn, der in seinem Buch das Lagersystem der Sowjetunion als inselartiges, in die Gesellschaft hineinwirkendes Gebilde beschrieb, lieferte erstmals nicht nur erschütternde Berichte über den Häftlingsalltag innerhalb des Gulag-Systems selbst, sondern zeigte auch, dass das sowjetische Vorhaben eines weitreichenden gesellschaftlichen Umbaus nur in Verbindung mit der inhärenten Unterdrückung und Repression der eigenen Bevölkerung erfolgen konnte.
In dem vorliegenden Band gibt Bernd Bonwetsch zunächst einen Überblick über die historische Dimension des Gulag-Systems und der sowjetischen Massenverbrechen. Dabei wird deutlich, dass Statistiken über Opferzahlen und Verurteilungen zwar Aufschluss geben über das Ausmaß der Untaten, jedoch nicht als zuverlässige Quellen und Erklärungsschablone dienen können. Grund dafür ist zum einen, dass die überlieferten Akten aufgrund ihrer Unvollständigkeit nicht den tatsächlichen Hergang abbilden können, und zum anderen, dass die Ereignisse immer auch im Zusammenhang gesehen und entsprechend kontextualisiert werden müssen.
Aufbauend auf den einführenden Text von Bonwetsch bemüht sich Jörg Ganzenmüller um einen Vergleich des deutschen Lagersystems mit dem sowjetischen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die „nationalsozialistischen und sowjetischen Lagersysteme so unterschiedlich wie Nationalsozialismus und Stalinismus selbst“ seien. Gerade deshalb ließen sich jedoch anhand eines analytischen Vergleichs der beiden Systeme „auch die Spezifika der beiden Diktaturen erläutern“ (S. 56).
Welche Perspektive die sowjetische Staatsführung selbst auf das Gulag-System hatte zeigt Felicitas Fischer von Weikersthal in ihrem Beitrag, in dem sie die sowjetische Inszenierung des Gulags als „Besserungsanstalt“ darstellt und hinterfragt. Aleksej Zacharčenko widmet sich schließlich in einem vierten einführenden Artikel der Aufarbeitung der Geschichte des Gulag-Systems im postsowjetischen Russland. Dabei stellt er in erster Linie die Schwierigkeiten eines reflektierten Quellenstudiums dar, die die Voraussetzung für eine unvoreingenommene und kritische Analyse überlieferter Dokumente und der darin verwendeten Sprache bilden.
Im zweiten und dritten Teil der Publikation vereinen die Herausgeberinnen schließlich verschiedene Beiträge, die eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Gulag-System ermöglichen. Dabei geben zwei Lokalstudien Einblicke in regionale Besonderheiten und Entwicklungen, während sich vier weitere Texte einzelnen Häftlingsgruppen und Einzelschicksalen zuwenden. Mirjam Sprau untersucht in ihrer Studie die Lager im ehemaligen Nordosten der Sowjetunion in der Region am Fluss Kolyma und Andrej Suslov stellt die Vorgänge in dem Gebiet Perm am Ural dar, in dem während ab den 1920er-Jahren als sogenanntes Spezkontingent Hunderttausende zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden.
Marc Elie beschreibt in seinem Beitrag die als „Drehtür“ bezeichnete Häftlingspolitik, die zwischen 1945 und 1960 eine starke Fluktuation innerhalb der Lager sowie eine wellenförmige Haftkarriere und eine langfristige Marginalisierung vieler Gefangener zur Folge hatte. Reinhard Stark und Immo Rebitschek widmen sich schließlich verschiedenen Häftlingsgruppen innerhalb der Lager – Stark befasst sich mit Frauen und Kindern im Gulag während Rebitschek das Schicksal von „nicht-politischen“ Häftlingen beleuchtet. Jascha Nemtsov analysiert abschließend am Beispiel des Komponisten Vsevolod Zaderatsky, wie die Hafterfahrung das Leben der ehemaligen Gefangenen nachhaltig prägte und beeinflusste.
Im vierten Teil des Bandes ermöglichen zwei Beiträge die Erweiterung der Perspektive auf andere Lagersysteme und -formen. Andreas Hilger widmet sich in seinem Beitrag den Deutschen Kriegsgefangenen innerhalb des sowjetischen Lagersystems während und nach Ende des Zweiten Weltkriegs, Jörg Morré eröffnet anschließend einen Blick auf die sowjetischen Speziallager in der SBZ/DDR und fragt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu den Lagern des sowjetischen Gulag-Systems.
Im fünften und letzten Teil des Bandes geht es schließlich um die Auseinandersetzung mit dem Gulag-System sowohl auf historiografischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Beate Fieseler fragt dabei, inwiefern es nach dem Tod Stalins 1953 tatsächlich gelang, ehemalige Häftlinge zu rehabilitieren und wiedereinzugliedern. Wie schwierig die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte war, zeigt der Beitrag von Katherina Haverkamp, der die Geschichte der ersten Gulag-Ausstellung in der Sowjetunion darstellt. Mit den gesellschaftlichen Nachwirkungen und Kontinuitäten befassen sich zwei abschließende Berichte. Anton Oleinik zieht eine Linie zu heutigen Disziplinarmaßnahmen in Russland und Michail Gnedovskij und Nikita Ochotin stellen Überlegungen an, wie das kulturelle Gedächtnis der postsowjetischen Gesellschaft mit dem Erbe des Gulags verfahren könnte und sollte.
Insgesamt bietet der Band einen guten und ausführlichen Überblick über das Lagersystem der Sowjetunion und seine gesellschaftliche und politische Bedeutung. Gerade durch die Themenvielfalt und die Eröffnung verschiedener Perspektiven eignet sich das Buch sowohl für die Vorbereitung des Unterrichts, als auch für die Implementierung in diesen in Form von Gruppenarbeiten oder Kurzreferaten.
Landau, Julia; Scherbakowa, Irina (Hrsg.): Gulag. Texte und Dokumente 1929-1956. Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung. Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
Der Band kann für 4,50 Euro zzgl. Versandkosten bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt werden.