Brennende Erstaufnahmeheime, nationalistische Demonstrationen und rassistische Angriffe auf neu Angekommene – die Entwicklungen der letzten Monate haben gezeigt, dass rechtes Gedankengut und der dazugehörige Aktivismus in der Gesellschaft weit verbreitet sind. Doch neben den verbalen und physischen Attacken der Nationalist_innen, die sich selbst gerne als friedliebende „Patriot_innen“ bezeichnen, hat sich in der Bundesrepublik auch eine „Willkommenskultur“ herausgebildet, die im Sinne der bürgerlich-demokratischen Gastfreundschaft für eine aktive, unmittelbare und vielseitige Unterstützung der Flüchtlinge eintritt. Spenden- und Kleidersammlungen, Sprachkurse, kulturelle Angebote und politische Forderungen – unter anderem nach einer schnellen Klärung des Asylverfahrens – werden aus der bürgerlichen Mitte heraus mit dem Ziel initiiert, Solidarität mit den Geflüchteten zu zeigen und die eigenen Privilegien sinnvoll einzusetzen. Oft wird der aktive Einbezug der geflüchteten Menschen selbst sowie ihrer eigenen Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse dabei jedoch nicht berücksichtigt.
Das Magazin IZ3W hat sich in seiner im Januar 2016 erschienenen Ausgabe als Schwerpunkt dem Thema „Refugees und Selbstermächtigung“ gewidmet. Der Redaktion geht es dabei in erster Linie darum klarzustellen, dass die Solidarität mit Geflüchteten nicht darin bestehen sollte, willkürlich singuläre Rechte auszusprechen und zwischen Starken und Schwachen, Ausreisefähigen und Schutzbefohlenen, Migrant_innen und Flüchtlingen zu unterscheiden. Solidarität mit Geflüchteten müsse vielmehr bedeuten, so im Vorwort der Ausgabe, die Ankommenden als Menschen mit gleichen Rechten willkommen zu heißen und sie als Individuen, unter anderem in Bezug auf ihre Freizügigkeit und eine politische Partizipation, anzuerkennen und ernst zu nehmen.
Dass es sich bei der derzeit gelebten „Willkommenskultur“ in Deutschland jedoch vielfach nur um eine unpolitische Gastfreundschaft handelt, zeigen Till Schmidt und David Niebauer in ihrem Artikel. Als Gegenkonzept fordern sie deshalb von einer reflektierten Solidaritätsgemeinschaft die Politisierung der Debatte auf gesellschaftlicher Ebene sowie den aktiven Einbezug der Geflüchteten in diese Auseinandersetzungen. Auch Vassilis S. Tsianos spricht sich in seinem Beitrag gegen eine Politik der Ausgrenzung und Kontrolle der Ankommenden aus und stellt dabei die auf gesellschaftlicher und politischer Ebene betriebene Unterscheidung zwischen den Begriffen Flucht und Migration in Frage. Aufbauend darauf setzt sich auch Johanna Wintermantel kritisch mit der unpolitischen Denkstruktur auseinander, die der deutschen Willkommenskultur oftmals zugrunde liegt, und fragt nach einer sinnvollen Form der Flüchtlingssolidarität aus einer antirassistischen und sich als politisch verstehenden Perspektive.
Neben den Artikeln, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht und Migration sowie dem Umgang der deutschen Gesellschaft mit den Ankommenden ermöglichen, zeigen verschiedene Texte und Interviews, wie Geflüchteten der Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und politischer Partizipation ermöglicht werden kann, beziehungsweise wie es geflüchteten Menschen gelungen ist, sich dieses Recht selbst zu erkämpfen. In einem Interview mit Emmanuel Mbolela, der seine Flucht aus dem Kongo in einem Buch verarbeitet hat und sich heute als Aktivist für globale Bewegungsfreiheit einsetzt, spricht sich dieser für die Selbstorganisation von Geflüchteten und deren Einbezug in die verschiedenen Solidaritäts-Aktivitäten aus. Auch Rex Osa vom „The Voice Refugee Forum“ und dem „Netzwerk Refugees for Refugees“ stellt in einem Interview die Bedeutung der Selbstorganisation von Geflüchteten heraus. Larry M. Macaulay, Journalist aus Nigeria, erzählt von dem Hamburger Radio-Projekt „Refugee Radio Network“, in dem Geflüchtete einen Ort der Information und der freien Meinungsäußerung geschaffen haben und nun durch Wissensvermittlung, öffentliche Debatten und Vernetzung eine politische Selbstorganisation der Geflüchteten ermöglichen.
Die politische Selbstorganisation von geflüchteten Menschen – hier vor allem von Jugendlichen – hat auch die Initiative „Jugendliche ohne Grenzen“im Sinn. Das Projekt, das sich in einer Berliner Beratungsstelle aus einer Handvoll Jugendlicher gründete, ist heute bundesweit vernetzt und über die Landesgrenzen hinweg bekannt und aktiv. Lena Danner stellt die Arbeit der Organisation in einem Artikel vor. Katrin Dietrich widmet sich in ihrem Beitrag hingegen zwei Initiativen, die sich zur selbstorganisierten Unterstützung geflüchteter Frauen gegründet haben – zum einen „Women in Exile“und zum anderen der „International Women Space“. Das „Project Shelter“, das in Frankfurt initiiert wurde, um ein selbstverwaltetes Zentrum für schutzbedürftige Geflüchtete aufzubauen, wird von Anna-Theresa Bachmann, beschrieben.
Tobias Müller weitet schließlich in seinem Beitrag das auf Deutschland fokussierte Blickfeld und gibt einen Einblick in die Arbeit des Projektes „We are here – Wij zijn hier“, das in Amsterdam versucht, obdachlosen Flüchtlingen Schutz und Hilfe zur Verfügung zu stellen. Vier Aktivist_innen der „Student Action for Refugees“ in Leicester beschreiben anschließend, wie sich in Großbritannien eine vielfältige und aktive Solidaritätsbewegung herausbildete, nachdem die britische Regierung auf einen Versuch von Geflüchteten, von Calais nach Dover zu gelangen, mit zunehmender Repression und politischen Maßnahmen gegen Geflüchtete reagiert hatte.
Ein Hilfsnetzwerk für im Mittelmeer in Seenot geratene Flüchtlinge stellt Miriam Edding in einem kurzen Beitrag vor. „Watch the Med“bietet eine Notfall-Nummer, an die sich Schiffbrüchige für sofortige Hilfe wenden können, sowie eine online Plattform, die über aktuelle Fälle und Zahlen informiert.
Zwei weitere Artikel befassen sich aus unterschiedlicher Perspektive mit der Situation der Flüchtlinge, sowie mit dem Umgang der deutschen Gesellschaft mit den Ankommenden. Die Recherchegruppe Mazedonien berichtet von der schwierigen Lage, in der sich ein Großteil der geflüchteten Roma in Deutschland befindet. Dabei wird deutlich, dass sich die Betroffenen, die oft aus Familien stammen, die bereits seit Generationen – nicht zuletzt durch das nationalsozialistische Regime – stigmatisiert und verfolgt wurden, aus der Sicht der deutschen Gesellschaft in einer rassistisch motivierten Klassifizierung der Geflüchteten auf unterster Stufe befinden.
Der Medienwissenschaftler Felix Koltermann setzt sich darüber hinaus kritisch mit einem Projekt des Fotografen Tobias Zielony für den deutschen Pavillon auf der Venedig-Biennale auseinander, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Geflüchtete zu porträtierten und sie so als politische Subjekte darzustellen. Dass der Fotograf mit dem Ziel, die Fotografien für sich sprechen zu lassen, auf Kontextinformationen und erläuternde Erklärungen weitgehend verzichtet, führe jedoch – so Koltermann – zu einer Entpolitisierung der Bilder.
Anders, als viele andere Publikationen zu dem Thema, hat es sich das Magazin IZ3W zur Aufgabe gemacht, den Blickwinkel der Geflüchteten selbst sowie verschiedene Möglichkeiten der Selbstermächtigung und -organisation aufzuzeigen. Damit einher geht auch die Forderung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Position und einer Reflexion über Gründe, Ursachen und Formen der Solidarität innerhalb der deutschen Gesellschaft. Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht es den Jugendlichen, sich vom eigenen Standpunkt zu entfernen, die eigenen Privilegien zu reflektieren und zu hinterfragen und eine neue Sicht auf die Thematik zu entwickeln. Durch die thematische Vielfalt der verschiedenen Beiträge eignet sich die Publikation für die Arbeit in Kleingruppen, beispielsweise zur Entwicklung einer Wandzeitung, die sich dem Thema Flucht und Geflüchtete widmet.
Here We Are – Refugees und SelbstermächtigungIZ3W, Ausgabe 352 (Januar/Februar 2016)
Aktion Dritte Welt e.V., Informationszentrum 3. welt (IZ3W)
Freiburg, 2016.
50 Seiten, 5,30 Euro
Kann als Print- oder PDF-Version auf der Website des Magazins bestellt werden.