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Am Braunschweiger Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung ist in den vergangenen Jahren das Lernportal „Zwischentöne“ entstanden, ein Projekt, das es sich zum Ziel setzt, neue Möglichkeiten, „die Herausforderungen einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft aufzugreifen.“ „Die Vielfalt der Biographien und die Pluralisierung der Lebenswelten bieten die Chance“, so ist auf der Projekteseite zu lesen, „Schülerinnen und Schüler zu einem konstruktiven Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden anzuregen.“ In diesem Zusammenhang wird auch das Thema Migration aufgegriffen und in einigen der Lernmodule, die das Portal anbietet, für den Schulunterricht in den Fächern Geschichte, Politik, Ethik und Religion bearbeitet.
Dabei werden auch Quellen aus dem migration-audio-archiv didaktisch aufbereitet, einem Archiv, das eine Sammlung von hörbaren Migrationsgeschichten bereitstellt, die seit dem Jahr 2000 gesammelt und für pädagogische Erinnerungsarbeit nutzbar gemacht wurden. Erzählt werden hier fast 140 Geschichten von Migrant_innen, die seit den 1960er-Jahren in die Bundesrepublik und die DDR ‚eingewandert’ sind. Dabei geben die Interviewten Auskunft über die Motive ihrer Migration, über Erfahrungen im Herkunftsland vor ihrer Migration und über ihre Begegnungen mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die Interviews stehen unter der Domain migration-audio-archiv.de bereit. Sie decken insbesondere die Themen der Arbeitsmigration und der Kriegs-und Bürgerkriegsflüchtlinge ab, bieten jedoch ebenso Interviews mit politischen Flüchtlingen, so genannten Wirtschaftsflüchtlingen oder Umweltflüchtlingen an. Das Thema des Exils wird dabei ebenso berührt wie etwa jüdische Einwanderung nach Deutschland aus Osteuropa. (http://migration-audio-archiv.de/)
Für die „Zwischentöne“ sind konkret drei Lernmodule entstanden:
In diesem kurzen Beitrag soll das didaktische Konzept dieser Module vorgestellt werden.
Die Audio-Geschichten können als Selbstzeugnisse klassifiziert werden, die in einem offenen Interviewverfahren aufgezeichnet und anschließend geschnitten und gekürzt sowie technisch bearbeitet wurden. Da es sich bei diesen Quellen um einen durch seine Erzählstruktur und die besonders facettenreiche Thematisierung von Migration sehr bemerkenswerten Quellenkorpus handelt, wurde in den Unterrichtsmodulen angestrebt, die Migrationserzählungen als Audio-Material zu fokussieren: Das Anhören der Lebenserzählungen, ein aufmerksames Zuhören und eine Auseinandersetzung mit der jeweiligen Erzählweise soll im Zentrum des Unterrichts stehen.
Im Zuge eines Geschichtsunterrichts, der die Förderung von narrativer Kompetenz sowie handlungs- und produktionsorientierte Verfahren ernst nimmt, wurde die Arbeit mit den Audio-Erzählungen zugleich als eine eigen-sinnige produktive Aneignung der Migrationsgeschichten konzipiert: Die Schülerinnen und Schüler sollen die Analyse der Quellen zum Ausgangspunkt für eine Produktion von eigenen historischen Narrationen zum Thema Migration nehmen. Um dem Anspruch eines multiperspektivischen Geschichtsunterrichts Rechnung zu tragen, wurden pro Modul stets mehrere Migrationsgeschichten verwendet.
Die Module umfassen im Kern eine Unterrichtstätigkeit in sechs Schritten:
Zu Beginn eines jeden Moduls soll das Thema (s.v.) benannt und hierzu in knappem Umfang eine Hintergrundinformation angeboten werden. Anhand einer bearbeiteten und gekürzten Fassung des Interviews kann hier auch bereits Einblick in eine Audio-Geschichte gewährt werden, die auf besonders signifikante Weise in die Themenstellung einführt. Hier soll durch ein gemeinsames Hören dieses ersten exemplarischen Geschichtsfragments bereits im Klassenverband oder in Kleingruppen über Höreindrücke und über signifikante inhaltliche und emotionale Beobachtungen gesprochen werden.
Hier werden in themenverschiedener Gruppen- oder Einzelarbeit, auch als Bestandteil einer Hausarbeitsleistung, insgesamt drei bis fünf unterschiedliche Audiogeschichten bearbeitet. Die Auswahl richtet sich aus auf Multiperspektivität im Hinblick auf jeweils besondere Migrationserfahrungen. Zur inhaltlichen Erschließung wurde dazu ein vorstrukturierter Arbeitsbogen entwickelt, der den Schülerinnen und Schülern zunächst die Möglichkeit bietet, als Hörauftrag wesentliche biografische Informationen der Erzählenden festzuhalten: Name, Geburtsjahr, Herkunftsland, Informationen zu Eltern (Berufe, Herkunftsland), (Schul- und) Berufsbiografie der Erzählenden, Stationen der Migration. Daneben bietet das Arbeitsblatt die Möglichkeit, besondere Eindrücke des Gehörten, bemerkenswerte Inhalte und Auffälligkeiten zu notieren.
Aus dieser inhaltlichen Erschließung der Quellen werden sich für die Schülerinnen und Schüler Sachnachfragen zu solchen Aspekten von Hintergrundwissen ergeben, die für das Verständnis der Quelle notwendig sind (z.B. zur Bedeutung des Islam in der laizistischen Türkei in den 1960er und 1970er Jahren, zum materiellen Rechtsgehalt des Asylrechts in Deutschland vor und nach 1993, etc.) Die Schülerinnen und Schüler sollen sich zunächst untereinander über diese Sachnachfragen austauschen, dann aber auch gezielt und eigenständig recherchieren und schließlich die gewonnenen Informationen zusammenstellen sowie den Mitschülerinnen und Mitschülern zur Verfügung stellen.
Eine Systematisierung und ein Vergleich der Migrationsgeschichten kann auf dreierlei Weise erfolgen:
(a) Migration in räumlicher Dimension:
Die Schülerinnen und Schüler vollziehen die jeweilige Migrationsbewegung der Erzählerinnen und Erzähler nach, indem sie die Route der Migration anhand einer Landkarte erläutern. Hierbei soll eine jeweils historische Geschichtskarte verwendet werden.
(b) Migration in historisch-zeitlicher Dimension
Die Schülerinnen und Schüler tragen die wesentlichen Lebensstationen ihres Erzählers bzw. ihrer Erzählerin auf einem Zeitstrahl ein, auf dem zugleich zentrale historisch-politische Ereignisse benannt werden (z.B. Anwerbungsstopp 1973, ‚Revolution’ in Iran, etc.)
(c) Migration und die Handlungsmöglichkeiten von Migrantinnen und Migranten (agency)
Im Zuge einer systematisch-vergleichenden Diskussion der Lebensgeschichten sollen die Schülerinnen und Schüler zudem aufgefordert werden, anhand bestimmter Verb-Konstellationen das jeweils Spezielle der Lebensgeschichten herauszuarbeiten und zu vergleichen. Hierzu sollen sie der Lebensgeschichte zunächst ein treffendes Tätigkeitswort zuordnen, das das Bewegungsmoment des Migrationsvorgangs benennt, dazu stehen die Verben „gehen – kommen – bleiben“ zur Verfügung. Diese Verben sollen mit den Modalverben „dürfen – können – müssen – sollen – wollen“ kombiniert werden. Mit Hilfe dieser Verbkombinationen soll die bearbeitete Migrationsgeschichte vergleichend bewertbar werden. Da es sich bei den Lebensgeschichten im Archiv nur in seltenen Fällen um reine ‚Opfer’-Geschichten handelt, erscheint ein solches Vorgehen, das insbesondere die Facettenhaftigkeit von Handlungsmöglichkeiten (und auch von deren Verschlossen-Sein) berücksichtigt, besonders tragfähig. Vor allem ist dabei ja zu erwarten, dass die Schülerinnen und Schüler bei dieser systematischen Bewertung der Migrationsgeschichten zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das geschichtsdidaktische Prinzip der Multiperspektivität tritt hier auf der Ebene von Pluralität im Klassenzimmer zu Tage.
Die zu erwartende Unterschiedlichkeit der Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler soll im Rahmen einer gemeinsamen Diskussion genutzt werden. Hier kann es im Klassenverband darum gehen, besonders strittige Punkte aus Punkt 4, aber auch übereinstimmende Beobachtungen zu bündeln. Die Diskussionsergebnisse sollen zentral gesichert werden und den Schülerinnen und Schülern sichtbar bleiben.
Als Ergebnis der Beschäftigung mit den Quellen und unter Aufgreifen des Diskussionspotenzials aus Punkt 5 sollen die Schülerinnen und Schüler nun produktiv mit ihrem neuen und multiperspektivisch vertieften Wissen zu bestimmten Aspekten der Migration umgehen, indem sie eine der folgenden Schreibhandlungen durchführen:
(a) Systematisierendes Erzählen:
Verfassen einer eigenen historiografischen Narration zu einem behandelten Teilaspekt von Migration, z. B.: „Geschlechterverhältnisse in der Arbeitsmigration in den 1960er Jahren“
(b) Identifizierendes Erzählen:
Verfassen eines Briefes an die Erzählerin oder den Erzähler der Quelle, der entweder aus der Gegenwart und Perspektivität der Schülerin/des Schülers verfasst wird oder aus der historisierenden Perspektive eines/einer Angehörigen.
(c) Re- und Dekonstruktion der narrativen Quelle
Hier könnte es darum gehen, neue Fragen an die Quelle zu stellen oder zu rekonstruieren, welche Fragen im Rahmen des Interviewprozesses von der Interviewerin gestellt wurde, welche nicht, etc.
(d) Handlungsorientierte Produktion eines eigenen Audio-Textes
Hier kann aus besonders strittigen, besonders exemplarischen, inhaltlich oder emotional besonders auffälligen Sequenzen aus den Quellen eine eigene Audio-Datei hergestellt werden, die sich – ähnlich wie unter Punkt (a) – besonderen Teilaspekten des Themas widmet.
Das hier entworfene Vorgehen kann als explizit historisches Lernen bezeichnet werden, weil es den Schülerinnen und Schülern gelingen kann, aus einer intensiven und systematischen Analyse und Bearbeitung von historischen Quellen heraus (die insbesondere deren besonderen Quellenwert ernst nimmt) zum einen fundiert und empirisch abgesichert über Aspekte von Migration zu diskutieren, zum anderen sich Migrationsgeschichte durch eigenes historisches Erzählen anzueignen.