Vertreter_innen der verschiedenen Vertriebenenverbände und -vereine – allen voran die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach – haben immer wieder auf eine vermeintliche gesellschaftliche Tabuisierung von Flucht und Vertreibung in der deutschen Gesellschaft hingewiesen. Im Widerspruch dazu steht die Tatsache, dass seit Kriegsende zunächst in Westdeutschland, nach 1990 auch in den neuen Bundesländern, Hunderte von Denkmälern, Gedenkorten und Museen entstanden, die an die Geschichte der geflohenen und vertriebenen Deutschen erinnern sollten. Alleine in Bayern existieren bis heute 420 solcher Orte, in ganz Deutschland sind es etwa 1.400. Einer davon ist die in unmittelbarer Nähe zu der KZ-Gedenkstätte Dachau gelegene Gedenkanlage Oberschleißheim. Die Anlage, die 1983 von der 1971 durch die bayerische Landsmannschaft Ost- und Westpreußen ins Leben gerufene Ost- und Westpreußenstiftung (OWS) gegründet wurde, diente in den 1980er Jahren als Gedenkort für zahlreiche Interessensgruppen und Organisationen und wurde stetig um Exponate, Gedenk- und Informationstafeln erweitert. Ziel des Ortes sollte es sein, einen „sinnlichen Zugang“ zu der Thematik zu schaffen, beispielsweise durch die Ausstellung eines Kleinkampfbootes der Wehrmacht, das am Ende des Krieges zur Evakuierung von Flüchtlingen aus Ostpreußen genutzt wurde. An dem Ort, der in den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens vor allem selbstreferenziellen jedoch durchaus auch politischen Interessen diente, fand lange Zeit weder eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte noch mit erinnerungspolitischen Prozessen und verschiedenen Gedenkformen statt.
Aufgrund der politischen und strukturellen Gegebenheiten vor Ort beschloss der Landkreis München Anfang der 2000er-Jahre, ein neues Gebäude auf dem ursprünglichen Gebiet des Gedenkkomplexes zu errichten, das vom Kreisjugendring München-Land, der seine nahe gelegene Bildungsstätte erweitern wollte, genutzt werden sollte. Um die Interessen und Vorstellungen beider neuen Nutzer des Geländes – also des Kreisjugendrings auf der einen und der OWS auf der anderen Seite – überein zu bringen, gründete sich parallel zum Baubeginn der neuen Anlage eine interdisziplinäre Kommission. Diese entwickelte bis zur Einweihung der neuen Bildungsstätte im Jahr 2010 ein Konzept, das die Bildungsarbeit vor Ort um eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Geländes und den vorhandenen Gedenkorten, -tafeln und Denkmälern erweitern sollte. Ein im Jahr 2012 vom Institut für Jugendarbeit Gauting herausgegebenes Magazin gibt einen Einblick in die Ergebnisse der Kommission, in die Ansätze und Konzepte, die nun einen entscheidenden Teil der pädagogischen Arbeit vor Ort bilden, sowie in allgemeine Überlegungen zu einem sinnvollen geschichtsdidaktischen Umgang mit dem Thema Flucht und Vertreibung an Gedenkorten. Als Grundlage für die Publikation diente das „3. Fachgespräch zur Politischen Bildung an historischen Orten des Nationalsozialismus und Gedenkstättenpädagogik“, das im Januar 2011 in Oberschleißheim stattfand.
Bevor sich die Broschüre der spezifischen Darstellung der Gedenk- und Bildungsstätte Oberschleißheim widmet, nimmt der Historiker Stephan Scholz (in dieser Ausgabe mit einem Artikel zur Zwangsmigration der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges vertreten) in zwei einführenden Artikeln zunächst eine allgemeine historische Kontextualisierung von Flucht und Vertreibung sowie der Entstehung von Vertriebenendenkmälern in Deutschland vor. Dabei wird deutlich, dass eine differenzierte Darstellung des Themas möglich und wichtig ist, um den historischen Ablauf von Flucht und Vertreibung sowohl auf geschichtswissenschaftlicher als auch auf politischer Ebene in einen Gesamtkontext einzuordnen. Neben einer definitorischen Hinführung an den historischen Gegenstand durch die Beantwortung der klassischen W-Fragen (Wann, Was, Wer, Wo, Wie), bei der bewusst Gleichsetzungen, Verallgemeinerungen und Parallelisierungen vermieden werden, nimmt der Autor außerdem die Ikonografie der Flucht unter die Lupe. Bilder – unabhängig von dem jeweiligen historischen und politischen Zusammenhang – bilden immer nur einen Teil der Wahrheit ab, beziehungsweise zeigen nur Teilperspektiven auf und müssen deshalb, ebenso wie unterschiedliche Begriffe und Narrative, kontextualisiert und differenziert dargestellt werden. Der Autor rät daher zu einer genauen Analyse der verschiedenen Erklärungs- und Begründungsmuster, unter anderem in Bezug auf die Motive für Flucht und Vertreibung, die verschiedenen historischen Phasen und deren Verlauf.
In einem zweiten Aufsatz erläutert Scholz anschließend die aktuelle und historische Situation in Bezug auf Vertriebenendenkmäler und -gedenkstätten in Deutschland. Wie bereits eingangs erwähnt zeigt die große und über die Jahrzehnte stetig gewachsene Anzahl der Gedenkorte, wie präsent das Thema tatsächlich in gesellschaftlichen und politischen Diskursen seit 1945 war und ist. Am Beispiel des Gedenkgeländes in Oberschleißheim zeigt Scholz, dass an diesen Orten oft eine sehr unkritische Darstellung der Wehrmacht als Retterin der Flüchtenden und Vertriebenen vorgenommen und vielerorts gar ein regelrechter Wehrmachtskult betrieben wurde. Der Fokus lag und liegt dabei stets auf den letzten Kriegsmonaten, die Geschichte der vorangegangenen Monate sowie die damit in Zusammenhang stehenden Verbrechen der Wehrmacht spielen in der Regel keine Rolle. Durch die geografische Nähe zu der Gedenkstätte Dachau entstand in Oberschleißheim außerdem schon früh eine Konkurrenz um den Opferstatus, der sich in zahlreichen Publikationen, Gedenkreden und politischen Auseinandersetzungen widerspiegelte.
An die Thesen und Überlegungen von Stephan Scholz anschließend widmet sich Tim Völkerlin der geschichtsdidaktischen Arbeit an Gedenkorten für Flucht und Vertreibung. Dabei gibt er zunächst einen Überblick über die verschiedenen Phasen der Musealisierung der entsprechenden Orte – von der selbstorganisierten Gründung von sogenannten Heimatstuben zu einer sukzessiven Professionalisierung und Verstaatlichung der Heimatmuseen zu der Forderung nach einem „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin und der Gründung der „Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung“. Völkerin macht dabei deutlich, dass das geschichtsdidaktische Potential dieser Orte nicht allein in der Wissensvermittlung, sondern vor allem auch im Erlernen von eigenständigen Analyse-, Deutungs- und Interpretationskompetenzen liegen muss. Workshops vor Ort sollten daher in erster Linie dazu dienen, das Gelände und die museale Repräsentation vor Ort kritisch zu betrachten und eigene Ideen zur Weiterentwicklung oder Neukonzeption solcher Orte zu entwickeln.
Es ist den Autoren der Broschüre gelungen, eine kluge und differenzierte Publikation zu einem schwierigen und umkämpften Thema herauszugeben. Die verschiedenen Beiträge zeigen, welches Potential Vertriebenendenkmäler und -gedenkstätten bieten, um bei Jugendlichen einen kritischen und reflexiven Umgang mit den eigenen Geschichtsbildern anzustoßen und sie dazu anzuregen, über den gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit Geschichte kritisch nachzudenken. Dass Geschichte ein veränderbares und von Identitäten, Emotionen und Diskursen abhängiges Konstrukt ist, kann nirgendwo besser gezeigt werden als an Orten, die über Jahrzehnte hinweg und beeinflusst von gesellschaftlichen Kontroversen und politischen Auseinandersetzungen entstanden und gewachsen sind.