Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Gegenwärtig geht es – davon zeugen die Personalquerelen um das in Berlin geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ - noch immer darum, ob und wie die Geschichte der Vertreibungen und des Verlustes der Ostgebiete sowie der oft grausamen Aussiedlung von Volksdeutschen aus ostmitteleuropäischen Ländern in die offizielle Gedächtnisgeschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wird. Diese Frage war in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik keineswegs nur ein Thema in den Familien, sondern auch in der offiziellen Politik. Davon zeugt etwa die Dokumentation der Vertreibung von Deutschen, die in den 1950er Jahren von Theodor Oberländer - einem ehemaligen, überzeugten Nationalsozialisten und Vertriebenenminister im ersten Kabinett Adenauer – vorgelegt wurde.
Diese Dokumentation stand unter der fachlichen Verantwortung des Historikers Theodor Schieder, eines in seiner Jugend und seiner jungen Erwachsenenexistenz antisemitisch und exterministisch gesonnenen, nationalsozialistischen Volkstumsideologen, der jedoch in der frühen Bundesrepublik zu einem der bedeutendsten Historiker wurde.
Im Zusammenhang dieser Debatten versuchte und versucht die deutsche Rechte - im ganzen Spektrum ihrer demokratischen und totalitären Spielarten – eine Stärkung des deutschen Nationalbewusstseins aus dem Umstand zu gewinnen, dass der von den meisten Deutschen keineswegs widerstrebend geführte Krieg Hitlers, seiner Ideologen und Technokraten gegen die Sowjetunion nicht nur mit dem Verlust der östlichen Teile Deutschlands, sondern auch mit dem Exodus, der Vertreibung deutscher Minderheiten aus Ost-Mitteleuropa, von Rumänien bis zu den östlichen Teilen der Tschechoslowakei, endete.
Dabei, soweit besteht in der Forschung Übereinstimmung, sind in den Jahren 1945-1948 etwas mehr als eine Million Deutscher ums Leben gekommen, während zwölf Millionen unter ungeheuren Strapazen die vor allem westlichen Besatzungszonen erreichten. Nun sind Vertreibungen, geförderte Fluchtbewegungen und Aussiedlungen im Kern nichts anderes als ein ebenso drastisches wie primitives Mittel der Biopolitik: der Kontrolle von Menschenmassen im Rahmen eines gegebenen Territoriums.
Gleichwohl: Ohne die Bombardierung von Coventry und Rotterdam wären weder Hamburg noch Dresden zerstört worden, ohne den Überfall der Wehrmacht auf die UdSSR am 22. Juni 1941 hätte es keine Ausschreitungen der Roten Armee auf deutschem Boden gegeben – darunter massenhafte Vergewaltigungen von Frauen - ohne die Ausrottung der polnischen Eliten und die Versklavung und Ermordung keineswegs nur jüdischer Polen keine Austreibung von Deutschen aus Pommern und Schlesien, ohne den Verrat der nichtjüdischen deutschsprachigen Bewohner Böhmens und Mährens an der gewiss nicht einem multikulturellen Ideal entsprechenden, tschechisch dominierten tschechoslowakischen Republik keine Aussiedlung und Vertreibung von Deutschen aus den Sudetengebieten.
Letzten Endes sind für die Vertreibungen der Deutschen aus der Tschechoslowakei und Polen das nationalsozialistische Deutschland sowie - das gilt nun vor allem für die Tschechoslowakei - jener große Teil der Sudetendeutschen verantwortlich, die ohne Not gegen ihren eigenen Staat, die Tschechoslowakei, und für das nationalsozialistische Deutschland gestimmt haben.
Bei alledem stellten sich schon die organisierten Vertriebenen in Westdeutschland spätestens seit 1950 als die eigentlichen Opfer des Zweiten Weltkrieges dar. Die vor allem von ehemaligen nationalsozialistischen Funktionären verfasste und unterschriebene "Charta der Heimatvertriebenen" behauptet etwa 1950 - also nach den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen - allen Ernstes: "Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden."
Man muss diesen Satz zweimal lesen, um seine Ungeheuerlichkeit ganz zu erfassen. Wird doch in ihm ernstlich behauptet, dass unter allen Opfern in der Zeit des Zweiten Weltkrieges die Heimatvertriebenen am schwersten betroffen waren: also nicht die Überlebenden der Bombardements von Dresden und Hamburg, nicht die hunderttausenden deutschen Kriegswaisen und -witwen, nicht die drangsalierten Polen oder Russen, schon gar nicht die sechs Millionen ermordeten Juden, deren Schicksal 1950 durchaus bekannt war.
Der geschichtsklitternde Skandal der „Charta der Heimatvertriebenen“ besteht mithin in dem von den damaligen Vertriebenenfunktionären - beinahe ausnahmslos nationalsozialistische Volkstumskämpfer - erhobenen Anspruch, die am schwersten geschädigten Opfer zu sein. Das im Rahmen der aktuellen Gedenkpolitik neuerdings wieder heftig debattierte Thema einer Konkurrenz der Opfer hat hier einen seiner Ausgangspunkte. Tatsächlich handelt sich bei der "Charta der Heimatvertriebenen" um Äußerungen, die an Realitätsblindheit, Wahrnehmungsschwäche, Egozentrismus und mangelnder Empathie fürs Leiden anderer schwerlich zu überbieten sind - Zeugnis einer Verantwortungslosigkeit, die sich bis heute durchhält und auch durch das scheinbar universalistische Projekt eines "Zentrums gegen Vertreibungen" nicht wirklich überwunden wird.
Auch der in der Charta – immer wieder mit Stolz zitierte, scheinbar demütige – Verzicht auf Rache und Vergeltung entpuppt sich in Wahrheit als Ungeheuerlichkeit. Kann man doch nur auf das verzichten, was einem entweder rechtens zusteht oder was man faktisch hat. Da aber von einem Recht auf Rache sinnvoll keine Rede sein, kann es sich hier nur um das – womöglich realistische – Eingeständnis handeln, noch 1950 voller Vergeltungssucht gewesen zu sein.
Eines jedenfalls ist klar und darf durch keine Vertriebenencharta und durch kein "Zentrum gegen Vertreibungen" geleugnet werden: Kein einziger Deutscher wäre jemals vertrieben worden, wenn nicht Hitlers Deutschland die Tschechoslowakei zerschlagen sowie Polen und die Sowjetunion mit allen unvorstellbaren, massenmörderischen Folgen angegriffen hätte. Der Irrsinn der nationalsozialistischen "Umvolkungspolitik" führte bald nach Kriegsbeginn dazu, dass Juden brutal aus ihren Wohnungen im besetzten polnischen Territorium verjagt und in den Tod deportiert wurden, um Raum für "heimgeholte" Deutsche aus dem Baltikum zu schaffen. Gewiss: Einzelne tschechische und polnische Nationalisten träumten seit langem von ethnisch homogenen Territorien ohne Deutsche, gleichwohl: Es war ausschließlich das nationalsozialistische Deutsche Reich mit seinem Krieg, das derlei Nationalisten, aber auch der stalinistischen Expansionspolitik sowie britischen Vorstellungen von einem stabilen Mitteleuropa die Möglichkeit gab, ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Eine sensible, auf den Menschenrechten beruhende Betrachtung des Zweiten Weltkriegs, die - durchaus zu Recht - auch alliierte Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen an Deutschen vermerkt, droht heute zur feinsinnig auftretenden Geschichtsklitterung missbraucht zu werden. Das lässt sich am heikelsten Fall, dem Fall der Tschechoslowakei und der "Beneš-Dekrete", die die zurückgekehrte tschechoslowakische Regierung ohne parlamentarische Beschlussfassung verkündete, verdeutlichen. Neben plausiblen Bestimmungen, etwa der Rückgängigmachung aller unter dem nationalsozialistischen Besatzungsregime getätigten "zivilen" Geschäfte, verfügten sie auch die Ausbürgerung der Deutschen, die sich übrigens mit ihrer Zustimmung zum Münchner Diktat 1938 selbst ausgebürgert hatten. Aus heutiger Perspektive stellen diese Dekrete zu einem großen Teil gewiss Formen "gesetzlichen Unrechts" (Gustav Radbruch) dar - andererseits: in keiner anderen Region des nationalsozialistischen Deutschland war die Mitgliedsquote der NSDAP so hoch wie in den Sudetengauen, auch war der Antisemitismus stärker verbreitet als anderswo und der Hass gegen die Tschechen ungemildert. Hätte man mit diesen drei Millionen besonders nationalsozialistisch gesonnenen Bürgern 1948 allen Ernstes einen multikulturellen Staat der Tschechen, Deutschen, Slowaken und Magyaren aufbauen können? Unter sozialistischen, sprich stalinistischen Vorzeichen?
Spätestens an diesem Punkt der Debatte wird die tragische Geschichte der sudetendeutschen Sozialdemokratie ins Spiel gebracht, die sich aber zu keinem Zeitpunkt des Zweiten Weltkriegs in der Lage sah, rückhaltlos zum tschechoslowakischen Staat zu stehen, so rückhaltlos, dass etwa Sudetendeutsche in tschechischer Uniform gegen das nationalsozialistische Deutschland kämpfen sollten.
1930 lebten übrigens im Gebiet des späteren "Sudetengaus" etwa 25.000 Juden, in allen von Deutschland annektierten Gebieten der Tschechoslowakei 33.000 Juden, von denen viele noch vor dem Münchner Diktat vor immer brutaler werdenden antisemitischen Ausschreitungen ins Innere der Tschechoslowakei flüchteten. Indem die Deutschen in den Sudetengebieten seit 1937/38 immer stärker gegen die eingestandenermaßen fehlerhafte tschechoslowakische Demokratie und für den rassereinen Staat der nationalsozialistischen Diktatur optierten, gaben sie ihre jüdischen Nachbarn preis und wussten dabei genau, was sie taten. Die verspätet einsetzenden Pogrome der "Kristallnacht" waren dort von besonderer Grausamkeit.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: So gut und richtig, ja sogar notwendig eine historisch gerichtete europäische, ja weltweite Verständigung darüber ist, dass Bevölkerungsverschiebungen als Mittel der Politik in Zukunft nicht mehr in Frage kommen und dass alle "ethnischen Säuberungen" - von Kaukasus bis ins subsaharische Afrika - leicht in Genozide umschlagen, so wenig folgt daraus eine kollektive, allemal verspätete öffentliche Liturgie der Trauer über Flucht und Vertreibung.
Das hat übrigens die überwiegende Mehrheit jener zwölf Millionen, die in Westdeutschland ein neues Leben begonnen haben, durchaus verstanden. Vielen von ihnen, ja den meisten war klar, was - theologisch gesprochen - ein "Tun-Ergehens Zusammenhang" ist.
Wenn es also beim gegenwärtigen Opferdiskurs um kein Tabu geht, worum dann? Um eine abschließende, nachgeholte Trauerarbeit sowie um eine allgemeine menschenrechtliche Sensibilisierung am Beispiel von Flucht und Vertreibung der Deutschen?