In der inzwischen fast nicht mehr überschaubaren Forschungsliteratur zum Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg, bildet Griechenland und das Schicksal der griechisch-jüdischen Bevölkerung sowie jenes der nicht jüdischen Dorfbevölkerung und der als Partisanen in den Bergen Kämpfenden bis heute einen blinden Fleck. Kaum Berichte und Erzählungen von Überlebenden haben Eingang in die wissenschaftliche Forschung oder die Erinnerungskultur Deutschlands genommen und nur wenige wissenschaftliche Arbeiten bemühen sich um eine zusammenhängende und umfassende Darstellung. Mit seinem Buch „Winter in Griechenland. Krieg, Besatzung, Shoah. 1940 – 1944“ hat sich der Autor Christoph U. Schminck-Gustavus deshalb einem bisher kaum erforschten Thema angenommen.
Bereits Ende der 1980er Jahre reiste Schminck-Gustavus im Rahmen seiner Recherchen mehrfach nach Griechenland, angetrieben durch ernüchternde Auseinandersetzungen mit ehemaligen Angehörigen von Wehrmacht und SS, die in der Bundesrepublik in verschiedenen Funktionen nach wie vor einflussreiche Positionen einnahmen und damit die politische Bildung der nachfolgenden Generation maßgeblich zu beeinflussen vermochten.
Auf seiner Suche nach Informationen und Berichten von Zeitzeug_innen und Überlebenden, die die Geschehnisse in Griechenland aus griechischer Perspektive wiedergeben konnten, fokussierte sich Schminck-Gustavus jedoch nicht auf die großen Städte wie Athen oder das im Norden gelegene Thessaloniki, in dem sich vor der Shoah mit rund 70.000 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern die größte jüdische Gemeinde des Balkan befunden hatte. Stattdessen reiste der Historiker nach Ioannina, die Provinzhauptstadt der Épirus-Region, in dem er – nicht zuletzt aufgrund bestehender persönlicher Verbindungen – schnell Kontakte knüpfte und Gesprächspartner_innen fand, die bereit waren, mit ihm über ihre Erinnerungen zu sprechen.
Das Buch, das aufgeteilt ist in vier Kapitel, zeichnet ein sehr subjektives, und dadurch auch sehr heterogenes Bild von der Zeit des Zweiten Weltkrieges in Ioannina und Umgebung aus der Perspektive verschiedener Bürgerinnen und Bürger der Region. Das Leben in Griechenland und insbesondere in der Épirus-Region, war gezeichnet von den verschiedenen Macht- und Regierungsstilen jener, die das Land ab 1940 besetzten. Nachdem das faschistische Italien bereits im Oktober 1940 erfolglos versucht hatte, Griechenland zu besetzen, plante die Wehrmacht ab Herbst 1940 einen Angriff auf den Balkan. Im April 1941 eroberten die Nationalsozialisten in ihrem Balkanfeldzug innerhalb weniger Tage zuerst Jugoslawien und schließlich auch Griechenland. Die Épirus-Region, und damit auch ihre Hauptstadt Ioannina, fiel nach der Kapitulation Griechenlands unter italienische Besatzungshoheit. Die italienischen Truppen beschlagnahmten zahlreiche, vor allem herrschaftliche Häuser der Stadt, pflegten jedoch insgesamt einen gemäßigten Besatzungsstil. Auch die jüdische Gemeinde der Stadt wurde – anders als die Juden Athens oder Thessalonikis – von Verfolgungsmaßnahmen weitgehend verschont. Als jedoch im September 1943 Italien den Waffenstillstand mit den Alliierten erklärte, ersetzen Wehrmachtstruppen die italienische Besatzungsmacht. Unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen begann die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Außerdem führte die Wehrmacht in der albanischen Grenzregion, in der nicht allein aufgrund der Nähe zur Front schon seit Beginn der Besatzung zahlreiche Partisaneneinheiten aktiv waren, bereits kurz nach ihrem Eintreffen regelmäßig „Sühnemaßnahmen“ durch, die der Abschreckung und der Einschüchterung der Bevölkerung dienen sollten. Zahlreiche Bergdörfer wurden abgebrannt, „Verdächtige“ mit drastischen Maßnahmen bestraft. Viele jener, deren Häuser und Hütten im Rahmen solcher Maßnahmen zerstört worden waren, kamen aus den Bergen in die Stadt und zogen in die zahlreichen Häuser die leer standen, nachdem ein Großteil der jüdischen Bevölkerung am 25. März 1944 nach Auschwitz deportiert worden war. Nur ein verschwindend kleiner Teil der jüdischen Gemeinde Ioanninas, der vor der Besatzung etwa 2.000 Menschen angehört hatten, überlebte den Holocaust. Wenige kamen nach Ioannina zurück und noch weniger waren dazu bereit, nach dem Krieg über das Erlebte zu sprechen.
In seinem Buch bedient sich Schminck-Gustavus der klassischen Oral History-Methode. Statt selbst die Geschichte zu erzählen, lässt er also die verschiedenen Zeitzeug_innen zu Wort kommen, die er im Rahmen seiner zahlreichen Reisen zu den Vorgängen in ihrer Heimat während des Zweiten Weltkriegs befragt hat. Die Publikation bewegt sich entlang der Interviews, die Schminck-Gustavus geführt hat, und die dadurch auch in gewisser Weise die Struktur des Buches vorgeben. Es entsteht dadurch eine Art Puzzle, das sich beim lesen sukzessive entfaltet. Zwar bilden die einzelnen Kapitel eine Zuordnung zu verschiedenen Themenbereichen, diese werden jedoch immer wieder verlassen, wenn die Interviewten das Gespräch selbst in eine bestimmte Richtung lenken. So handelt das erste Kapitel, das auf mehreren Gesprächen des Autors mit einer alten Frau aus einem Bergdorf nahe Ioannina und ihrem Sohn basiert, weitgehend von den „Sühnemaßnahmen“ der Nationalsozialisten, in deren Rahmen zahlreiche Dörfer der Umgebung abgebrannt wurden, darunter das Dorf der Befragten. Doch auch hier werden punktuell bereits die Themen angesprochen, die schließlich in den folgenden Kapiteln schwerpunktmäßig behandelt werden. Da die Mutter und ihr Sohn, nachdem ihr Dorf niedergebrannt war, in ein „Judenhaus“ in der Stadt zogen, streifen sie im Interview wie von selbst auch die Deportationen, sowie den Besatzungsalltag in der Stadt. Immer wieder kommt Schminck-Gustavus dann auf die Themen zurück und zeigt, insbesondere durch die sehr unterschiedliche Darstellung der Vorgänge durch seine Gesprächspartner_innen, dass die Wahrnehmung von Krieg, Besatzung, Widerstand und Verfolgung als höchst subjektiv und heterogen bezeichnet werden muss. Nicht nur aufgrund der ausführlichen und differenzierten Darstellung eines bisher weitgehend unbehandelten Themas muss die Publikation Schminck-Gustavus' deshalb als wichtiger wissenschaftlicher Beitrag und Zeitdokument bezeichnet werden. Auch die Herangehensweise, die auf eindrucksvolle Weise die selbstreflexiven und dialektischen Möglichkeiten der Oral History aufzeigt, macht das Buch zu einer empfehlenswerten Lektüre.