Der Diskurs zum komplexen Themenfeld „Kriegskinder“ ist im deutschen Kontext geprägt von Diskussionen über sogenannte Bombenopfer, Vertriebene und Opferhierarchisierungen. Um dem Diskurs zum Thema gerecht zu werden und so auch Erzählungen mit einer europäischen Dimension in den Blick zu nehmen, wurden in einem Projekt mit 18 Studierenden aus 12 europäischen Ländern sehr unterschiedliche Gruppen von Kindern erforscht. Dabei ging es den Projektverantwortlichen, der Körber-Stiftung und der Agentur für Bildung, darum, die junge Perspektive und Fragen zur Zukunft der Erinnerung aus Sicht der heute 19- bis 27-Jährigen wertschätzend zur Geltung zu bringen.
Für ein europäisches Projekt unter dem Titel „Children of War in Europe“ lud die Körber-Stiftung 20 Studierende im Alter von 19 bis 27 Jahren ein, ein Semester lang online sowie während eines einwöchigen Studienaufenthaltes in Berlin gemeinsam zu lernen und sich über die verschiedenen nationalen und kulturellen Perspektiven auszutauschen. Verantwortlich für die Durchführung zeichnete sich die Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V., die über verschiedene Angebote und Arbeitsaufträge Interaktivität herstellte. Die jungen Europäerinnen und Europäer werteten Forschungsergebnisse anderer Jugendlicher aus, die an Geschichtswettbewerben des EUSTORY-Netzwerks teilgenommen hatten. Sie schrieben Rezensionen zu neu erschienenen einschlägigen Büchern und Filmen. Sie beteiligten sich an einer Serie von Fragen, in denen das Thema Kriegskinder, sowohl in seiner historischen als auch seiner gegenwärtigen Dimension, Anlass für Forschungen (im eigenen Land) boten. Und schließlich bildeten sie binationale Tandems, um ein selbst gewähltes Thema forschend zu vertiefen. Während eines einwöchigen Präsenzseminars in Berlin, zu dem 18 der 20 Studierenden kommen konnten, wurde intensiv debattiert und gearbeitet.
Unter Kriegskindern werden im deutschsprachigen Raum häufig Kinder verstanden, die in Bombenkellern ausharren und mit der Landverschickung die Städte verlassen mussten. Aber auch bei dem großen Thema „Flucht und Vertreibung“ wird immer wieder auf die zahlreichen Kinder verwiesen, die Opfer einer Abschiebungsaggression wurden.
Was offenbar nicht nur im deutschen Diskurs über Kriegskinder weniger vorkommt, sind die Gräuel, die die Nationalsozialisten in den zahlreichen überfallenen und besetzten Ländern Kindern angetan haben. So fehlen in der Geschichtsschreibung und in den Erinnerungskulturen noch immer oft die Kinder von Verfolgten des NS-Staats, zum Beispiel jüdische Kinder, die verzweifelt und auf sich gestellt im Versteck überleben mussten, oder russische Kinder, die während der sogenannten Leningrader Hungerblockade elend umkamen, oder aber Kinder aus Widerstandsfamilien, die, noch weit nach dem Krieg und aus unterschiedlichen Gründen, in den europäischen Gesellschaften regelrecht geächtet wurden.
Erzählt wird im deutschsprachigen Raum wenig von Kindern, deren Eltern dem NS-Regime zustimmten oder die selbst z.B. der Hitlerjugend angehörten oder sogar mit der Waffe kämpften. Doch auch in anderen europäischen Ländern, die in unterschiedlichem Ausmaß mit dem NS-Regime kooperierten, sei es Kroatien, Litauen oder die Niederlande, erfährt man bis heute wenig über diese Kinder. Hinzu kommen nicht nur die in vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Ländern von Wehrmachtangehörigen gezeugten Kinder, sondern auch die Kinder der Besatzung Deutschlands. Erst seit den 1990er Jahren wurde von diesen Kindern geredet, so zunächst über die Mütter und ihre Kindern in Norwegen; in anderen Ländern, wie in Belgien begann die Forschung erst vor wenigen Jahren.
Unabhängig davon, welche Rolle den Kindern Europas während des Zweiten Weltkrieges zukam, die Annahme ist berechtigt, dass sie grundsätzlich aus dem Krieg mit seelischen Wunden und auch körperlichen Versehrtheiten hervorgegangen sind. In den meisten Ländern übereinstimmend ist es das Brot, das von ehemaligen Kindern als Symbol für den empfundenen Hunger und Schrecken bis ins hohe Alter erinnert wird. Andererseits ist im öffentlichen Diskurs das Bild des Kindes aber auch a priori gekennzeichnet von einem Nimbus der Unschuld, sodass es sich, nun aber politisch vereinnahmend, für viele europäische Masternarrative eignet. Was dann häufig zu kurz kommt, ist das individuelle Schicksal im historischen Kontext und eine Sicht auf Kinder und Jugendliche, die ihre Handlungsspielräume suchten, häufig Aufgaben der Erwachsenen übernehmen mussten oder sehr wohl dazu in der Lage sind, trotz allem ein erfolgreiches Leben aufzubauen und ihre damalige Situation zu reflektieren. Ein besonderes Beispiel wären hier jene Kinder, die eine aktive Rolle in den europäischen Widerstandsbewegungen spielten (vgl. hierzu eine preisgekrönte Radiosendung des CBC von Paul Kennedy, „Little Fighters“, die erstmals 1989 gesendet wurde)
Während des gesamten Seminars wurden über verschiedene Methoden ganz unterschiedliche Gruppen von Kriegskindern berücksichtigt. In den binationalen Tandems (vgl. Themenüberblick hier) wurden insbesondere folgende Themen einer intensivieren Betrachtung unterzogen:
Kinder im Versteck (österreichisch-spanisches Tandem)
Jüdische und andere Kinder in Konzentrationslager der Nationalsozialisten und der kroatischen Ustacha (serbisch-griechisches Tandem)
Besatzungskinder (belgisch-österreichisch-finnisches Trio)
Kinder aus Widerstandsfamilien – Gefangen zwischen Erinnerung und Realität (slowenisch-serbisches Tandem)
Nach Sibirien verschleppte lettische und litauische Kinder (lettisch-litauisches Tandem)
Auswirkung sowjetischer Gefangenschaft (georgisch-österreichisches Tandem)
Kriegskinder in der unmittelbaren Nachkriegszeit (slowenisch-niederländisches Team)
Medizinische Experimente an Kindern (polnisch-russisches Tandem)
Vertreibung – Kinder damals und heute (polnisch-deutsches Tandem)
Die Dokumentation des gesamten Seminars findet sich öffentlich zugänglich auf dem History Campus der Körber-Stiftung.
Die jungen Forscherinnen und Forscher haben keine Mühen gescheut und zum Teil über Monate Material zusammengetragen. Sie suchten in Archiven und Museen, sie studierten neueste Publikationen und Filme, sie führten Interviews mit ehemaligen Kriegskindern, und es gelang ihnen, eine jeweils binationale (in einem Fall trinationale) Perspektive auf ein Thema und ihre jeweiligen Standpunkte sichtbar zu machen.
Besonderes Augenmerk legten sie dabei auf drei Aspekte:
Erstens war ihnen daran gelegen, die oft in ihren Ländern vernachlässigten, ja vergessenen Stimmen der Kinder hörbar zu machen (über Biographien, Zitatcollagen, Interviews und sogar über ein fiktives Tagebuch). Es entstanden berührende Texte wie kühle Bestandsaufnahmen, aus denen sehr viel gelernt werden kann über die Kriegskinderthematik in einer europäischen Dimension. Beispielhaft nennen möchte ich den Beitrag von Milena Tatalović and Fotini Patinari, „Whispers becoming voices: Scenes of lost childhood from the Balkans”, die, unter anderem über ein literarisch-filmisches Montageverfahren, verschüttete Stimmen jüdischer, griechischer und serbischer Kinder behutsam in Szene setzten. Sie erläutern:
„During the tandem research, our ambition was not only to provide historical facts, but to listen to the voices of the child survivors, who might have been overheard. It was a difficult task, since in Serbia and in Greece, the traces of remembrance of war children are not prominent. In Thessaloniki, there is no memorial, and data about Jewish children is missing. In Belgrade, there is no clear vision on how to make the Sajmište camp site a part of collective memory. For us, personal stories are a way to strengthen this remembrance and a chance to walk in another person’s shoes for a while. Milan, Yaacov and Raul are here to remind us that we cannot allow ourselves to forget. In order to give more child survivors the attention they deserve, we collected quotations of hidden children, of children who suffered from the occupation and of children who survived concentration camps.”
(vgl. Dokumentation)
Ein weiteres Beispiel, “Children of War in the Aftermath of War”, von Sara Bensa and Dyonne Niehof, widmet sich den Kindern, die sich während des Krieges auf der “falschen Seite” befanden, und unmittelbar nach 1945 Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt waren. Sara Bensa erforschte ein Lager, das, unter dem sich neu bildenden sozialistischen Regime in Slovenien, insbesondere für Kinder eingerichtet worden war:
“Petriček became the camp where children of opponents of the communist regime were locked up. It is the camp where children were separated from their parents. It is the place where children were marked with scars that cannot ever be healed. And yet, so little is known about it and about its children. The former Slovenian government kept it as a secret. Children were prohibited to talk about it. That is exactly why I would like to present you a story of a post-war child; because he deserves to be heard. His name is Ivan Ott.”
(vgl. Dokumentation)
Ihre Tandempartnerin, Dyonne Niehoff, entschied sich für das in den Niederlanden eher ignorierte Schicksal niederländischer Jungen, die während des Zweiten Weltkriegs in der Hitlerjugend und in einer Eliteschule waren. Sie wandte das literarische Verfahren eines fiktiven Tagebuchs an, um deutlich zu machen:
“Through the eyes of the young boy, who was eleven when the war broke out, I will explain how the events of 1940–45 impressed him at first but then scarred him for life. The events of the story are based on true events, but for the purpose of the story some dates have been altered. The purpose of this fictional diary is to provide the reader with an insight into the lives of these boys and their struggles to find their place in the post-war society.“
(vgl. Dokumentation)
Zweitens finden sich häufig kritische Reflektionen und Erklärungsansätze zu der Frage, warum der Aspekt der Kriegskinder im öffentlichen Gedenken des jeweiligen Landes bislang unzulässig vernachlässigt wurde und worin die Chancen liegen, sich genau diesen Geschichten zuzuwenden. Für die Teilnehmenden wie für uns war es mitunter überraschend, wie sehr sich die Mechanismen und Erinnerungspraxen in den jeweiligen Ländern glichen. Insbesondere Aspekte wie „Mittäterschaft“ und politische „Sippenhaft“ waren immer wieder Gegenstand von Umdeutungen, unter denen in erster Linie die Kinder zu leiden hatten. Deutlich wird häufig, wie sehr die Erinnerung an die Gräuel des Zweiten Weltkriegs von politischen Systemen instrumentalisiert oder tabuisiert wurde und wird. In diesem Lichte sind insbesondere auch die Bemühungen zu sehen, die Geschichte jener Kinder ans Tageslicht zu bringen, die unter dem sowjetischen Regime litten und vertrieben wurden. So schreiben Rasa Goštautaitė und Agnija Vaska in ihrem Beitrag „‘Guilty without guilt’. Latvian and Lithuanian Children being exposed around Siberia”:
„1940 marks not only the first Soviet occupation of the Baltic States (Lithuania, Latvia and Estonia), but also the beginning of repressions aimed at the indigenous populations, which included mass arrests, surveillance and deportations.
The accusations behind the deportations were different. Families were selected based on their social status. The first wave mainly touched members of the intelligentsia – teachers, politicians and state officers. In the later years, people could be deported for very trivial reasons, like owning too much land or belonging to certain associations. Others would be deported for anti-Soviet ideas, agitation and resistance.”
(vgl. Dokumentation)
Drittens fand sich bei fast allen Tandems auch eine dezidiert gegenwartsbezogene Motivation, nämlich die Überzeugung, dass aus der Beschäftigung mit der Geschichte Einiges für die gegenwärtige Lage von Kindern aus Konflikt- und Kriegsgebieten gelernt werden könne. Bei dem polnisch-deutschen Tandem führte das sogar so weit, dass sie sich experimentell an einen Film wagten, der eine vergleichbare Struktur und emotionale Befindlichkeit dieser Kinderschicksale damals und heute freilegte. In ihrem gemeinsamen Beitrag, „Trains Crashed or Boats Capsized – does it make a difference? Similarities of escape experiences from a child’s perspective”, der gleichzeitig in ihren Film einführt, denken Oldrich Justa und Johanna Strunge über die Chancen nach, im Hinblick auf die heutige Flüchtlingsthematik aus der Geschichte für ein Heute zu lernen:
“Maybe we can understand the situation of the refugees nowadays better by reflecting the fate of children of WW II?
During our interviews with children expelled during WWII, we found support for this thesis by former refugees themselves. For example, Roswitha who was two years old when she had to flee from Upper-Silesia to Berlin in 1945, feels strong empathy for the children-refugees nowadays. She told us in an interview: ‘I feel the misery of the refugees today!’
[…] We chose to focus on the 15-years-old Theodor (Theo) Pohl and his forced escape, telling his experiences in a short film. We emphasized the main aspects of his story in order to underline the universal aspects of a child’s forced migration experience. As a result, his fear, loneliness and suffering were taken into focus.
Even without the exact dates, places and names, it remains the personal story of Theodor Hugo Pohl. Only at the end of the short movie, the spectator gets to know that Theodor fled in 1946, is 85 years old today, and experienced the expulsion 69 years ago.
Without the additional information, the short film could also be a child telling his harrowing story in 2015: watching our film is meant to be irritating and thought-provoking.”
(vgl. Dokumentation)
Das Seminar, das von März bis August 2015 lief, bot und bietet nicht nur den Teilnehmenden eine herausragende Möglichkeit, das Thema Kriegskinder in seiner europäischen Dimension auszuloten. Wir Durchführenden haben sehr profitiert von der lebendigen, multinationalen Debatte. Dabei waren uns auch externe Fachleute eine große Hilfe, darunter Ingrid Bettwieser, die uns souverän zur Thematik über das Gelände der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen führte (vgl. den Bericht von Nadja Grintzewitsch und den Film des Teilnehmers Rafael Jiménez Montoya), aber auch Ljiljana Radonić, die uns Thesen und Ergebnisse ihrer neuesten Forschungen in einem von Birgit Marzinka durchgeführten Webinar zur Diskussion stellte: „Europeanization of the Holocaust‘ and Victim Hierarchies in Post-Communist Memorial Museums“.
Ein Höhepunkt des gemeinsamen Aufenthalts in Berlin war gewiss für alle das Zeitzeugengespräch mit Inga Zomber-Eschke, die 1941 in Berlin geboren wurde (vgl. den Bericht von Nadja Grintzewitsch), aber auch die gemeinsame familienbiographischen Zugänge zum Thema (vgl. die Dokumentation). Alle 18 Teilnehmenden brachten ein Familienartefakt mit nach Berlin, das mit Kriegskindern in der Familie verknüpft war: Liebesbriefe, ein Poesie- und ein Wörterbuch, ein Ring, ein Ziegelstein, ein Feuerzeug, Lebensmittelkarten, Fotos und Dokumente, alle verknüpft mit dem Zweiten Weltkrieg. Darüber hinaus hörten wir aber auch die Geschichte eiserner Eheringe, die finnischen Urgroßeltern gehörten, die Kinder im Ersten Weltkrieg waren, und die über einen gefälschten Geldschein, der von einem damals 14-jährigen Großvater eines spanischen Teilnehmers perfekt gezeichnet war – eine Maßnahme, um während des Spanischen Bürgerkrieges Nahrung bezahlen zu können.
In Partnerinterviews und in Gruppenarbeit wurden familiäre Schicksale und Ereignisse vorgestellt und nach Differenzen und Ähnlichkeiten geforscht.
(vgl. den Beitrag der Autorin „Losses, Artefacts and Feelings. Young Europeans sharing their family stories)
Es ist der Körber-Stiftung und ihrem Netzwerk europäischer Geschichtswettbewerbe EUSTORY zu verdanken, das dieses Thema im Gedenkjahr „70 Jahre Zweiter Weltkrieg“ in so besonderer Art und Weise sichtbar gemacht werden konnte. Die Teilnehmenden des Seminars jedenfalls waren einhellig der Meinung, dass über solche Möglichkeiten zum Forschen und Austausch ein wertvoller Beitrag geleistet werden kann hin zu einer lebendigen europäischen Erinnerung.