Auf ihrer Homepage bietet die Bundeszentrale für Politische Bildung ein Diskussionsforum, die „Netzdebatte“. Bisher widmeten diese sich vor allem netzspezifischen Themen, anlässlich einer Gesetzesentscheidung des Bundestags im Herbst 2015 gilt der aktuelle Schwerpunkt jedoch der „Sterbehilfe“. Die Diskussion kreist um die Fragen: „Was ist selbstbestimmtes Sterben? Wer entscheidet, welche Leiden ertragbar sind und welche nicht? Wie sieht ein würdevolles Lebensende aus? Und was heißt eigentlich 'selbstbestimmt'?“.
Dazu versammelt die pbp verschiedene Positionen von der Kirche bis zur Zivilgesellschaft, stellt zehn Faktenkarten zur Begriffsklärung („Sterbehilfe“, „Patientenverfügung“ usw.) und Rechtslage in Deutschland, ein gut einminütiges Video über „Würde, Selbstbestimmung und sozialen Druck“ und einen Podcast zur Verfügung.
Die Jenaer Soziologin Stefanie Graefe wirft unter dem Titel „Schöner Tod?“ einen Blick auf „'Euthanasie' in Vergangenheit und Gegenwart“. Sie vergleicht Publikationen und Debatten zur Eugenik vor 1945 mit den Diskussionen zum "selbstbestimmten Sterben nach dem Nationalsozialismus.
Graefe beginnt mit den Überlegungen des Psychologen Alfred Jost, der bereits 1895 ein individuelles „Recht auf den Tod“ gefordert hat. Wörtlich lässt sich Euthanasie übersetzen mit glücklicher, ehrenhafter, guter Tod. Gemeint ist in der modernen Debatte jedoch nicht nur ein selbstbestimmter Tod, möglichst frei von Leid. Schon bei Jost tritt die Unterscheidung von „lebenswertem“ und „minderwertigem“ Leben dazu. Das bis dahin unbekannte Massensterben im Ersten Weltkrieg und die katastrophale Situation in staatlichen Fürsorge- und Heilanstalten in den Jahren danach bestärken Diskurse, die den grundsätzlichen Wert menschlichen Lebens in Frage stellen. Der Arzt Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding forderten 1922 programmatisch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Sie stellten sich „die Gesellschaft“ als dem Individuum übergeordnet vor, die natürlicherweise eine „bewusste Abstoßung“ von „Defektmenschen“ vornehme. Diese Einstellung bildete in den 1920er-Jahren in der deutschen Bevölkerung eine Mehrheit. Mit den Massenmorden an Kranken und Patienten durch die „Aktion T4“ wird die Ideologie vom lebensunwerten Leben praktisch umgesetzt.
Nach 1945 habe es dann, so Graefe, keine gesellschaftliche Debatte gegeben. Erst mit der Organtransplantation und dem Hirntod-Kriterium entwickelte sich ab den 1970er-Jahren ein neuer Diskurs: Das Konzept der Patienten-Autonomie am Lebensende wird nun der ärztlichen Maxime gegenüber gestellt, um jeden Preis das Leben zu schützen.
Folgt man der plausiblen, auf viele historische Quellen gestützten Argumentation, was könnte daraus für die historische Bildung folgen? Zunächst, den sozialdarwinistischen Glauben in seiner geschichtlichen Besonderheit wahrzunehmen. Dass sich der Wert eines Lebens an seiner gesellschaftlichen Produktivität bemesse und das Individuum der vermeintlichen Gesellschaft bzw. der Volksgemeinschaft untergeordnet sei, dass es gesellschaftlich lebensunwertes Leben gebe, spielt bei gegenwärtigen Debatten um Sterbehilfe nämlich keine direkte Rolle. Allerdings lässt sich durch den genauen historischen Blick diskutieren, inwieweit das Produktivitätskrierium heute von den Individuen soweit verinnerlicht ist, dass die gesellschaftlichen Bedingungen einer vermeintlich autonomen Entscheidung für den Tod – wie etwa zunehmende Altersarmut – auch theoretisch ausgeblendet werden.
http://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/209297/sterbehilfe
Stefanie Graefe: Autonomie am Lebensende. Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe, Campus, Frankfurt a.M. / New York, 2014
Adolf Jost: Das Recht auf den Tod. Sociale Studie, Göttingen 1895
Karl Binding, Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, 2. Aufl. Leipzig 1922