Primo Levi überlebte das Lager Auschwitz-Monowitz, da seine Fähigkeiten als promovierter Chemiker in den dort produzierenden Buna-Werken gebraucht wurden. In seinen Erinnerungen schilderte er, wie er dem leitenden Ingenieur der chemischen Abteilung, Dr. Pannwitz, gegenübertrat, und dieser mit einem einzigen, herabwürdigenden Blick über dessen Leben und Tod entschied: „Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist...“
Das Zitat, dessen Aussage Levi als symptomatisch für das „Wesen des großen Wahnsinns des Dritten Reiches“ verstand, diente 1991 – vier Jahre nach Levis Freitod – als Ausgangspunkt für einen Dokumentarfilm, der den gesellschaftlichen Blick auf Menschen mit Behinderung thematisiert. Der Macher des Films, Didi Danquart, hat dabei sehr unterschiedliche filmische Mittel und Perspektiven zu einer fast poetisch anmutenden Collage verbunden, in der die Kontinuität und die Bedingungslosigkeit des „Pannwitzblicks“ innerhalb der Gesellschaft auch nach der Zeit des Nationalsozialismus deutlich wird. Nationalsozialistisches Propaganda-Material aus den 1930er Jahren, das für die gesellschaftliche Akzeptanz eugenischer Ideen warb und so die spätere systematische Ermordung behinderter und psychisch kranker Menschen vorbereitete, wird neben die persönlichen Erzählungen und Erfahrungen behinderter Menschen und neben Beiträge zur Anfang der 1990er Jahre kontrovers geführten Sterbehilfedebatte gestellt. Dabei wird deutlich: Die Massenvernichtung der von den Nationalsozialisten als „lebensunwert“ bezeichneten Menschen gibt es zwar gewiss seit 1941 nicht mehr, doch hat sich die Einstellung und der Blick der Mehrheitsgesellschaft auf Menschen mit Behinderung bis in die Gegenwart nicht grundlegend geändert.
Nach wie vor gilt Behinderung grundsätzlich als an eine vermeintliche Normalität anzupassende Abweichung. Die Sicht auf Menschen, die der gesellschaftlichen Norm nicht entsprechen, ist daher geprägt von Angst und Abneigung. Diese Gefühle, so schildert es Theresia Degener, wandeln sich nicht selten in offen gelebte und verbalisierte Aggression gegen behinderte Menschen. Die Professorin und Juristin, die als eines der Opfer des Contergan-Skandals ohne Arme auf die Welt kam, trat als kleines Kind gegen ihren eigenen Willen als Protagonistin in einem Werbefilm der Prothesen-Industrie auf, in dem sie – nur mit einer Unterhose bekleidet – ihren Körper zur Schau stellen und verschiedene Übungen machen musste. Der Film, den Degener heute noch als entwürdigend und respektlos empfindet, stellte leider keine Ausnahme dar. In der Dokumentation wird unterschiedliches historisches Filmmaterial gezeigt, dessen teilweise verstörende Bilder entrechteter und entmenschlichter Personen neben die Aussagen behinderter und kranker Menschen gestellt werden und die zeigen, dass Ideen der Eugenik und der „Euthanasie“mit dem Dritten Reich längst nicht begraben wurden.
Wie schwierig jedoch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema insbesondere dann ist, wenn die Lebensfähigkeit von Menschen aufgrund einer Behinderung oder einer Krankheit in Frage gestellt wird, zeigt der Umgang mit der Sterbehilfedebatte, die zu der Zeit, in der der Film gedreht wurde, ihren Anfang nahm und bis heute andauert. Beiträge mehrerer, mit dem Thema auf verschiedene Weise verbundener Personen – so zum Beispiel des umstrittenen Philosophen und Ethik-Professors Peter Singer – werden von Menschen mit Behinderung kommentiert und durch ihre eigenen Geschichten ergänzt. Ihr Kampf, in einer vorurteilsbehafteten Gesellschaft als vollwertige Mitglieder angesehen zu werden – egal ob in ihrem Wunsch zu Leben oder zu sterben – wird in dem Film auf sensible und zugleich ermutigende Weise dargestellt. Es entsteht so eine vielschichtiges und komplexes Bild von der Situation behinderter und kranker Menschen innerhalb der deutschen Gesellschaft Anfang der 1990er Jahre, dass sich vielleicht bis heute nicht großartig geändert hat.
"Der Pannwitzblick“
Regie: Didi Danquart
Produktionsfirma: Medienwerkstatt Freiburg
in Zusammenarbeit mit: Westdeutscher Rundfunk (WDR)
Länge: 90 min
TV-Erstausstrahlung: 5. Oktober 1992