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Das Gespräch mit Dorothy Bergmann führte Helmut Krohne
1. Krohne: Frau Bergman, Sie sind als Dorothee Kalkopf 1930 im Osten des damaligen Deutschen Reiches geboren worden, in Oberschlesien. Aus welchem Grund und wann sind Sie in das Konzentrationslager Bergen-Belsen gekommen?
Bergman: Meine beiden Schwestern und ich lebten in Bedzin bei Kattowitz in einem jüdischen Waisenhaus. Nach Kriegsbeginn mussten wir erst ins Ghetto, dann nach Balkenhain und Landeshut arbeiten und 1943 wurden wir als Zwangsarbeiterinnen in eine Spinnerei nach Grünberg gebracht. Das heißt heute Zielona Gora und ist in Polen. Der Grund war ja ganz einfach, dass wir Juden waren, ich hatte aber darüber noch nie nachgedacht vorher. Von Grünberg aus hat man uns im Dezember 1944 auf einen Marsch zu Fuß weggeschickt. Wir wussten nicht, wo es hingeht. Es waren etwa 1000 Zwangsarbeiterinnen, die aber für den Marsch geteilt wurden. Die letzten drei Tage des Marsches sind wir im Waggon gefahren, da waren wir aber schon keine 500 mehr.
2. Krohne: Die Alliierten rückten schon Ende 1944 immer weiter Richtung Reichsgebiet vor. Man nennt diese Märsche, weg von der heranrückenden Front quer durch das Deutsche Reich, auch „Todesmärsche“. Ist diese Bezeichnung übertrieben oder zutreffend?
Bergman: Von den etwa 500, die losmarschiert sind, ist nach etwa drei Wochen Marsch in Bergen-Belsen nur ungefähr die Hälfte angekommen im Januar 1945. Als das Lager am 15. April 1945 befreit wurde, waren von uns nur noch 33 am Leben. Zu den Überlebenden gehörten auch meine beiden Schwestern, das ist ein Wunder. Es waren Todesmärsche ins Todeslager. Ich war 14 Jahre damals, die mittlere Schwester drei Jahre älter und die älteste Schwester acht Jahre älter.
3. Krohne: Wie muss man sich Ihr Leben im Lager vorstellen?
Bergman: Ich wurde von meinen Schwestern getrennt, hatte aber großes Glück. Ich kam in die Schälküche. In der Schälküche wurden den ganzen Tag von morgens bis abends Kartoffeln geschält für die Gefangenen. Es gab Wasser, sogar eine Dusche. Man kann Kartoffeln auch roh essen, wenn es sein muss. Da hatte man schon mal etwas zu essen. Sonst gab es ja nur ganz wenig Brot, eine dünne Suppe, Ersatzkaffee. Und natürlich wurde die Versorgung zum Schluss immer weniger und ganz am Schluss gab es gar nichts mehr. Mein Befreiungsgewicht war 15 Kilogramm. Ich mag bis heute keine Kartoffeln mit Schale, also auch nicht die jungen Kartoffeln. Kartoffeln mit Schale kann ich nicht ertragen.
4. Krohne: 15 oder 50 Kilo?
Bergman: Nein, 15.
5. Krohne: Gibt es Erlebnisse aus der Zeit des Todesmarsches oder im Lager, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind? Vielleicht sogar schöne Momente? Das ist vielleicht eine ungewöhnliche Frage, aber ich möchte sie stellen.
Bergman: Ja, zum Beispiel auf dem Todesmarsch. Da ging ich fast immer hinten, weil ich ja da schon schwach war. Wir sind da von älteren Wehrmachtsoldaten begleitet worden, nicht SS. Einer kam von hinten mit dem Gewehr. Da hatte ich Todesangst. Aber er hat mich mit dem Gewehr geschoben, nicht gestoßen oder bedroht. Er wollte, dass ich weitergehe. Er hat einmal ganz viel Milch gebracht und gesagt: „Nur für die Kleine“. Da war ich glücklich. Dann war er aber weg. Im Lager selbst war eine ältere Russin, die war wie eine Mutter. Hat mir die Haare gekämmt und ein rotes Band hineingemacht. Sie sagte „meine Schönheit“ (moya krasivaya) zu mir. Ein anderer Russe hat mir aber meinen Mantel gestohlen und die Tasche mit allen Bildern meiner Familie. Ich habe ihn gezogen und dabei hat mir heißer Kaffee die Hand verbrüht. Das war ganz schlimm. Denn ohne gesunde Hände kann man nicht Kartoffeln schälen. Es ist aber gut gegangen. Ohne gesunde Hände wäre ich aus der Schälküche herausgekommen und hätte nicht überleben können, auch nicht ohne Mantel im Winter draußen.
6. Krohne: Aber der Mantel war doch gestohlen, wie hat man dann den Winter überlebt?
Bergman: Ein Mantel kostete 7 Portionen Brot. Das musste man sich absparen. Dann konnte man mit der Kleiderkammer Brot gegen Mantel tauschen. Das war natürlich verboten, aber ein Mantel war wichtig. Natürlich musste man hungern dafür, aber man hungerte sowieso. Es war ein Spiel mit dem Tod. Frieren ist Energieverbrauch. Nur Essen genügt nicht. Ich hatte ja dann auch keinen Platz mehr in der Pritsche, sondern habe auf dem nackten Boden geschlafen. Wenn ich morgens aufwachte, lagen immer Tote neben mir.
7. Krohne: Wie haben Sie den 15. April 1945 erlebt, den Tag der Befreiung?
Bergman: An diesem Tag lag ich mit den Schwestern im Revier. Das war der Name für die Krankenstation. Ein polnischer Zahnarzt hatte das arrangiert. Eine Schwester war ja auf dem Appellplatz umgefallen. Ich habe den Namen des polnischen Zahnarztes leider vergessen. Ich weiß auch nicht, ob er überlebt hat. Ich wurde vorher auch entlaust, ich hatte so viele Läuse, dass nach dem Kämmen der Boden schwarz war. Im Revier konnten wir liegen und dämmerten vor uns hin. Wir waren eigentlich fast tot. Dann kamen zwei Männer in britischen Uniformen in das Revier, die aber Polen waren und polnisch sprachen. Es gab ja Polen, die mit den Engländern gekämpft haben. Er sagte zu mir: „ Wenn du etwas brauchst, sag es uns. Wir sind da.“Eine Schwester flüsterte: „Dorta, wir sind befreit.“ Ich hatte einen Schock, ich glaubte es nicht. Ich dachte zuerst, das ist ein Nazitrick. Ich hatte jeden Tag geglaubt, dass ich morgen tot sein würde.
Wir versuchten dann, mit den anderen aus dem Revier zu gehen. Wir sind aber mehr gewankt als gelaufen. Draußen konnte man überhaupt nicht laufen, so viele tote Menschen lagen herum. Wir sind dann gekrochen. An der Latrine war es gefährlich, man konnte hineinrutschen. Dann wäre man nicht mehr herausgekommen. Die Latrine bestand ja nur aus einem schmalen Balken, fast schon eine Stange, und darunter der Graben, der nicht mehr geleert wurde. Und da lagen auch die Leichen.Wenn wir auf dem schmalen Balken saßen, haben wir uns abwechselnd gegenseitig festgehalten. So viel Angst hatten wir, da hineinzufallen. Wir waren ja auch sehr schwach. So war man stärker, wenn einer schwach wurde.Die Engländer haben später alles versucht, Gefäße für alle auf dem Gelände aufgestellt. Es waren ja Seuchen im Lager, Typhus vor allem. Da hat man starken Durchfall und so sah es überall auch aus.
8. Krohne: Und wie ging es weiter? Gab es dennoch so etwas wie ein Glücksgefühl? Ein Gefühl: Das ist jetzt die Befreiung, ein neues Leben beginnt.
Bergman: Nein, nein, es war ganz unwirklich, kein Glücksgefühl. Die Engländer brachten mich dann irgendwann in meine Baracke zurück und ich hatte dann eine eigene Pritsche für mich allein. Das war schön. Und die Soldaten der British Army kamen dann später und brachten Kekse, Corned Beef, Tee, Schokolade, Seife. Ich habe fast nichts verbraucht davon, ich habe alles versteckt zuerst. Ich konnte lange nicht gehen. Von der Pritsche aus sah ich aus dem Fenster, wie sie die Leichenberge begraben haben. Und dann wurden wir eines Tages in ein provisorisches Krankenhaus bei Bergen gebracht. Ich habe aus dem Autobus, ich glaube, es war ein Autobus,die Baracken des Lagers brennen sehen. Das musste man machen wegen der Seuchen, deshalb gibt es heute keine alten Baracken mehr in Bergen-Belsen, die hat man schon gleich 1945 verbrannt.
Dieses provisorische Krankenhaus war in einer Art Villa oder Schloss untergebracht, mit Balkonen und Park. Es hieß, das sei Himmlers Sommerresidenz. Ich weiß nicht, ob es Himmlers Sommerresidenz war, aber es kam uns so vor. Dorthin ist dann das schwedische Rote Kreuz gekommen. Meine Schwestern wollten nach Polen zurück. Da sagte uns ein Major George Klein: „Was wollen Sie denn in Polen? Meinen Sie, Sie können einen Schlüssel nehmen und in eine Wohnung gehen? Es ist doch fast alles zerstört.“ Da haben wir doch versucht, nach Schweden zu kommen. Da sind wir dann schon im Juli 1945 nach Schweden gebracht worden und konnten wirklich ein neues Leben beginnen. Die meisten anderen Befreiten ohne Heimat blieben ja noch dort, „Displaced Persons“ nannten die Engländer das. In Schweden gingen wir in Vikingshill bei Stockholm zur Schule in ein Internat, denn wir konnten ja vorher nie richtig zur Schule gehen. Wir lernten aber erst gar kein Schwedisch, sondern hatten polnische Lehrer, ebenfalls aus Konzentrationslagern. Erst als Polen kommunistisch wurde, durften wir endgültig in Schweden bleiben. Ich habe Schweden mein Leben zu verdanken und Großbritannien meine Rettung und das Überleben. Es sind ja noch 14.000 gestorben nach der Befreiung, die hat man nicht mehr retten können.
9. Krohne: Frau Bergman, wir sind jetzt hier 70 Jahre später 2015 in einem Hotel in Celle. Sie sind erstmals nach langen 70 Jahren hier an den Ort Ihres Leidens und Ihrer Befreiung zurückgekehrt. Heute waren wir bei der Gedenkfeier in Bergen-Belsen dabei und die Eindrücke sind noch frisch. Wie sind Ihre Eindrücke und Gefühle heute?
Bergman: Was mir am meisten weh tut ist, dass ich nicht schon früher gekommen bin. Mein Name ist ja Dorothee Kalkopf, ich kenne natürlich auch die deutsche Sprache aus meiner Kindheit. Die Sprache kommt zurück.Ich habe in Schweden geheiratet, ich habe drei Kinder, fünf Enkel und schon zwei Urenkel. Ich habe auch einmal Kofi Annan getroffen, als in Schweden eine Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von Raoul Wallenberg war. Mein Name auf schwedisch ist Dorothy Bergman. Ich war zuletzt krank, sogar im Krankenhaus, habe wenig gegessen.Dann habe ich von Judith aus der jüdischen Gemeinde gehört, dass es eine Einladung nach Bergen-Belsen gibt zur Gedenkfeier. Ich habe beschlossen hinzufahren. Meine Kinder hatten Angst und wollten mich nicht weglassen. Meine Freundin Judith hat mir zugeredet und nun sind wir beide hier. Ich bin Judith sehr dankbar.
Ich hatte geglaubt, ich würde sehr unglücklich sein hier, aber es war nicht so. Es war ganz anders. Als wir auf das Gelände gefahren sind, kam ein Bild in mir hoch und ich habe mich gefragt: „Wo sind die weißen Berge?“Die Leichenberge mit den nackten Menschen waren so hoch, dass sie von weitem wie weiße Berge aussahen. Aber dann habe ich die Realität gesehen, es ist ja flach, es ist ja Heidelandschaft.Es geht mir sehr gut, ich habe gegessen, ich fühle mich gesund.Ich bin nicht früher gekommen, weil ich immer Angst hatte vor Deutschland. Viele sagen bis zu ihrem Lebensende: Nie wieder Deutschland. Heute haben wir sogar gelacht im Bus. Die Betreuung gerade auch von Ihrer Frau Doreen und den anderen Helfern aus der Gedenkstätte ist wunderbar. Die Rede vom Präsidenten war schön. Die Deutschen sind heute ganz anders als damals. Das war eine gute Erfahrung, es ist wie eine Art zweite Befreiung für mich.
10. Krohne: Frau Bergman, ich danke Ihnen sehr für dieses Interview. Abschließend eine Frage, die ich stellvertretend für junge Menschen stellen möchte. Möglicherweise ist sie nicht so einfach zu beantworten. Gibt es etwas, dass Sie als eine Art Vermächtnis oder Botschaft jungen Menschen sagen möchten?
Bergman: (lange Pause). Junge Menschen sollen selbst denken und wenn sie spüren, etwas ist moralisch nicht richtig, was man von ihnen verlangt, dann sollen sie es nicht tun.
In der kurzen Zeit zwischen Januar und April 1945 starben mehr als 35.000 Menschen im Lager Bergen-Belsen. Darunter war auch Anne Frank. Bergen-Belsen war Ziel einiger Todesmärsche aus anderen Konzentrationslagern, denn es lag in einem Teil Deutschlands, der erst kurz vor Kriegsende befreit werden konnte. Bis zu 14.000 Menschen starben zusätzlich noch nach der Befreiung. Insgesamt hat es im Lagerkomplex Bergen-Belsen über 70.000 Tote gegeben, von denen etwa 20.000 sowjetische Kriegsgefangene waren. Das unter der Leitung der Wehrmacht vom KZ-Gelände getrennt geführte Kriegsgefangenenlager wurde im Januar 1945 aufgelöst. Nach der Befreiung lebten viele heimatlose Gefangene, überwiegend Menschen jüdischen Glaubens, als „Displaced Persons“ in ehemaligen Kasernengebäuden in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers. Während der Zeit vor der Übersiedlung in die neue Heimat Israel wurden eine Vielzahl von Kindern geboren, sodass eine Reihe von Israelis in ihrem Pass als Geburtsort stehen hatten bzw. haben: Bergen-Belsen/Deutschland. Als symbolischer Ort gilt Bergen-Belsen deshalb auch als Geburtsstätte neuen jüdischen Lebens und neuer Hoffnung nach der Befreiung durch die Engländer. Das Gelände kann besichtigt werden, Informationsstelen erleichtern die Orientierung. 2007 wurde ein großzügig angelegtes Dokumentationszentrum eröffnet, dessen Besuch besonders lohnend ist.