Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
|
Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
|
In der Ausgabe des LaG-Magazins vom 25. März 2015 beschrieb Dogan Akhanli unter dem Titel „Historische Drehscheiben in Berlin“ die interkulturelle Vielfalt der historischen Schauplätze entlang der Hardenbergstraße in Berlin-Charlottenburg. Hier können armenisch-deutsch-türkische Beziehungsgeschichten aufgezeigt werden, die zudem alle mit Flucht, Exil und Verfolgung vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus zu tun haben. Für uns, Studierende vom Touro College Berlin im Masterstudiengang Holocaust Communication and Tolerance, waren die von Dogan Akhanli beschriebenen Themen Anlass für eine Projektarbeit. Entstanden ist eine deutsch-englisch-türkische sowie web-basierte Stadtführung mit Audioguide, welche unter www.flucht-exil-verfolgung.de abrufbar ist.
Texte und Bilder schildern für sechs Hauptstationen die Geschichten, die sich mit den jeweiligen Orten verknüpfen: Cemal Kemal Altun, ein türkischer Flüchtling, der sich 1983 am Verwaltungsgericht an der Hardenbergstraße aus Angst vor seiner Abschiebung in den Tod stürzte; Talaat Pascha, als osmanischer Innenminister und Großwesir verantwortlich für den Armeniergenozid, der 1921 Hardenberg-/Ecke Fasanenstraße von Soghomon Tehlirian, einem armenischen Studenten, erschossen wurde; Isaak Behar, dessen türkisch-jüdische Familie zu Beginn des Armeniergenozids 1915 nach Berlin emigrierte und 1942 in Auschwitz ermordet wurde; die Synagoge in der Fasanenstraße, während des Novemberpogroms 1938 geschändet und in Brand gesetzt; der Steinplatz, Standort der ersten Gedenksteine für die Opfer des Stalinismus in der Bundesrepublik seit 1951und für die Opfer des Nationalsozialismus in West-Berlin seit 1953; schließlich Ernst Reuter, Türkei-Emigrant während des Nationalsozialismus und späterer Regierender Bürgermeister West-Berlins, an den seit 1963 am Ernst-Reuter-Platz ein Denkmal erinnert.
Neben diesen Hauptstationen gibt es weitere Orte, die als Nebenstationen beschrieben werden: eine (dauerhafte) Ausstellung zur NS-Justiz, im Gebäude des Verwaltungsgerichts in der Hardenbergstraße; die Wirkungsstätte des Weltbühne-Redakteurs Carl von Ossietzky in der Kantstraße; den (letzten) Wohnort des von der Gestapo ermordeten Antifaschisten Alfred Bergmann – dessen Asylantrag von der Schweiz abgewiesen wurde – in der Uhlandstraße und das Wohnhaus des Berliner Vize-Polizeipräsidenten Bernhard Weiß am Steinplatz, der von den Nazis ins Londoner Exil vertrieben wird; die erste Wohnung Ernst Reuters in der Hardenbergstraße, die er nach dem Krieg bei Rückkehr aus dem türkischen Exil bezog; die Wohnung des türkischen Exilanten Talaat Pascha und gegenüber das von seinem Attentäter Soghomon Tehlirian angemietete Zimmer, beide in der Hardenbergstraße; schließlich geflüchtete bzw. vertriebene Künstler und Wissenschaftler wie Eugene Paul Wigner.
Wenngleich wir die Haupt- und Nebenstationen fundiert in Archiven und Bibliotheken recherchierten, verzichten wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit bei den Website-Texten, mit Ausnahme der Einleitung, auf einen wissenschaftlichen Apparat und nennen für jedes Kapitel nur eine Literaturempfehlung zum Weiterlesen. Als Alternative stehen zudem kurze Hörtexte zu allen Stationen bereit. Sie können online aufgerufen werden oder nach dem Herunterladen als Audiodateien angehört werden. Ebenso steht die Karte für den Rundgang als Download zur Verfügung – es bedarf also (vorheriges Herunterladen vorausgesetzt) keines dauerhaften Internetzugangs, um vor Ort den Rundgang mit einem beliebigen Endgerät– vom Smartphone, dem Tablet, bis zum MP3-Player – zu unternehmen. Zur besseren Orientierung im Stadtraum kann zwischen einer historischen und einer gegenwärtigen Karte umgeschaltet werden. Dies verlinkt die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart auch optisch.
Die Mehrsprachigkeit der Website, das heißt die Übersetzung aller Texte und der Audiodateien ins Englische und Türkische, macht zum einen für ein nicht deutschsprachiges Publikum den Zugang leichter; dadurch erhoffen wir uns auch eine breitere Rezeption der Inhalte. Doch ebenso wichtig ist uns das Signal: Wir nehmen uns armenisch-deutsch-türkischer Beziehungsgeschichten an und daher geben wir uns – die Sprachenvielfalt der Einwanderungsstadt Berlin wertschätzend – die Mühe, die Geschichten nicht nur in der Sprache der Mehrheitskultur, also auf Deutsch, zu erzählen. Berliner Schüler/innen aus türkeistämmigen Familien zeigten eine besondere Aufmerksamkeit, als wir ihnen die türkischen Texte und Audiodateien vorstellten – auch wenn sie weitaus besser Deutsch als Türkisch verstehen, lesen und sprechen.
Aus Gründen der Sprachkenntnis bedurfte es eines türkischsprachigen Projektpartners, der zugleich auch ein inhaltlicher Berater sein sollte. Nach dem, was wir Quellen und Literatur entnahmen, stand für uns außer Frage, dass es sich bei den Ereignissen zwischen 1915 und 1918 im Osmanischen Reich um einen Völkermord handelte (und dass das verbündete Deutsche Reich eine qualifizierte Mitverantwortung trug). Die Geschichten von Talaat, Tehlirian und Behar sind mit diesem Völkermord verbunden. Wie jüngst zum 100. Jahrestag des Armenier-Genozid-Gedenkens erneut zu erfahren war, ist eine genaue Kenntnis der Geschichte und der so heftig umstrittenen Worte, die sie beschreiben, vonnöten. Mit dem Kölner Autor Dogan Akhanli, der nach Haft und Folter als politischer Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland kam, und der Hamburger Sozialpädagogin Perihan Zeran hatten wir zwei politisch höchst sachkundig türkischsprachige Kolleg/innen an unserer Seite.
Unser studentisches Projekt veränderte sich an dieser Stelle zu einem professionellen, da wir für die Übersetzungen, für die Aufnahmen der Audiodateien (Tonstudio, Sprecher/innen) und für das kontinuierlich komplexere Webdesign (Layout und Programmierung) finanzielle Unterstützung benötigten. Eine Anschubfinanzierung hatte es bereits von der Meridian-Stiftung gegeben. Den weitaus größeren Teil steuerte der Projektbereich Interkulturalität von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste bei, mit Mitteln, die man dort aus dem Europäischen Integrationsfonds eingeworben hatte.
Nachdem wir die Website Anfang März 2015 online stellten, konnten wir drei Bildungsveranstaltungen mit ihr durchführen. Unsere pädagogischen Zielsetzungen lassen sich in drei Punkten zusammenfassen:
Mit einem Geschichts-Leistungskurs der Da-Vinci-Schule aus dem Ortsteil Buckow in Berlin-Neukölln gingen wir im März 2015 an den Tatorten entlang. Zuvor hatten wir ihnen die Website vorgestellt. Die Schüler/innen hatten in Zweiergruppen die Haupt- und Nebenstationen thematisch erarbeitet. Sie hatten zuerst Zeit, die Orte konkret zu erkunden. Dann trafen wir uns wieder, um sie zu begehen. Die Schüler/innen berichteten einander wechselseitig über die von ihnen erarbeiteten und erkundeten Orte. Anschließend konnten wir für ein Nachgespräch Räume des Zentrums für Antisemitismusforschung am Ernst-Reuter-Platz nutzen. Dasselbe Konzept verfolgten wir mit jungen Erwachsenen der Babylonia-Sprachschule aus Berlin-Kreuzberg. Mit 40 interessierten Erwachsenen gab es schließlich am 19. April 2015 einen von uns moderierten Stadtrundgang. Über ihn wurde am 27.04.2015 in der TAZ berichtet.
Die bei diesen Bildungsveranstaltungen gesammelten Erfahrungen lassen uns folgende Empfehlungen für den Gebrauch unserer Website in der historisch-interkulturellen Bildungsarbeit formulieren:
Wir erhoffen uns, dass die Website von Multiplikator/innen und individuell Interessierten genutzt wird. Die positiven Rückmeldungen auf unsere Website motivieren uns aber auch selbst zur Weiterarbeit. Unser Ziel ist es, weitere Bildungsarbeit mit ihr und entlang der Hardenbergstraße im Rahmen der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit anbieten zu können – dies ist auch eine Frage künftiger Mittelakquise. Zudem stoßen wir beständig auf weitere Themen im Stadtraum zwischen Bahnhof Zoo und Ernst-Reuter-Platz (und werden von anderen darauf gestoßen). Wir sind zwar überzeugt, dass die Seite in ihrer jetzigen Form thematisch kompakt fokussiert und daher angemessen ist, wollen das Format aber auch gerne weiter entwickeln. So steht bereits eine Darstellung der Inhalte in einfacher Sprache im Raum.