Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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„Ich renne gegen den Hass in meinem Land und um meiner Familie zu helfen“, so äußerte sich die Leichtathletin Samia Yusuf Omar, als sie 2008 in Peking bei den Olympischen Spielen für ihr Land Somalia antrat.(Der Spiegel, 20.8.2012)
Samia Yusuf Omar machte Furore beim 200 Meter Lauf. Über ein Freilos war sie für ihr Land dorthin gekommen. Die Situation hält der Comiczeichner Reinhard Kleist mit sicheren schwarzen Strichen als gescheiterte Chancengleichheit fest: Die damals erst 17-jährige Samia wirkte anders als ihre Konkurrentinnen, die muskulös und gut genährt in Profisportkleidung an den Start gingen, während sie, eindeutig zu dünn, im einfachen T-Shirt, rannte und alles gab, um den Lauf für sich zu entscheiden. Sie wurde Letzte. Kein Wunder, ihre bisherige Ausbildung und Förderung waren nicht ausreichend. Doch sie erhielt frenetischen Applaus vom Publikum, das zu bemerken schien, dass hier ein ganz großes Talent durchs Ziel lief.
Ihr Traum ist es, weiter zu trainieren und bei den Olympischen Spielen in London erneut an den Start zu gehen. Nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat erfährt sie aber weiterhin am eigenen Leib, was es heißt, in einem Land zu leben, dass seit Jahrzehnten von Bürgerkriegen geschüttelt und von Extremisten kontrolliert wird. Das Stadion, in dem sie trainiert ist weitgehend zerstört, die Laufbahn dort eine Kraterlandschaft. Massiv wird sie immer wieder als Frau bedroht, denn Frauen haben keinen Sport zu treiben. Steine werden auf sie geworfen, weil sie, damals in Peking, bei ihrem olympischen Lauf im Fernsehen ohne Kopftuch zu sehen war.
Sie hat keine Chance ihren sportlichen Weg zu verfolgen, deshalb verlässt sie ihr Land. Ihre Familie ist traurig, doch steht sie hinter ihr und gibt die letzten Ersparnisse mit auf ihren Weg. Die Odyssee führt über den Sudan, durch die Wüste, nach Libyen, wo sie in den dortigen Bürgerkrieg gerät, immer in Abhängigkeit von Schlepperbanden, die sie bezahlen muss.
Die Schwarz-Weiß-Zeichnungen des Autors Reinhard Kleist halten die Stationen ihrer Flucht fest. Der preisgekrönte Comiczeichner hat Recherchen angestellt, Samias Schwester aufgesucht, Informationen gesammelt und in eindringlichen Bildern den Hoffnungen der jungen Sportlerin die brutalen Bedingungen ihres Weges nach Europa gegenüber gestellt. Eines wird immer deutlicher: Will sie an den Olympischen Spielen in London 2012 teilnehmen, dann muss sie den illegalen Weg übers Mittelmeer wagen.
Über Ihre Facebook-Einträge erfährt die Außenwelt, was mit ihr geschieht. Als Leser/in hofft man mit ihr und ist immer wieder erleichtert, dass sie nicht aufgibt und der Gewalt und Ausweglosigkeit ein weiteres Mal entkommen ist. Betrachtet man jedoch die vielfältig gezeichneten Gesichter derjenigen, denen sie für ihre Unternehmung ausgeliefert ist, beginnt man wider Willen an einem guten Ausgang zu zweifeln.
Flucht und Migration als historisches Thema im Umfeld des Zweiten Weltkrieges hat, wie sich mit diesem Comic zeigen lässt, auch eine aktuelle europäische Dimension. Der Menschenrechtsschutz, wie er insbesondere durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie durch Dutzende Konventionen und die Europäische Grundrechtecharta als eine der Lehren aus der Vergangenheit festgeschrieben wurde, trifft nach wie vor auf Fremdenfeindlichkeit, auf wirtschaftliches Kalkül und auf politischen Unwillen.
Samia Yusuf Omars Lebenstraum jedenfalls zerschellte an der „Festung Europa“. Reinhard Kleist gelang es mit seiner einfühlsamen Graphic Novel der 21-Jährigen, die zu einer der Tausenden, für uns namenlosen Bootsflüchtlingen im Mittelmeer wurde, ein Gesicht zu geben, das wir nicht wieder vergessen können.