Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Kunst im KZ? Das erscheint kaum vorstellbar. Wer nicht zu den Millionen Ermordeten gehörte, litt unter Hunger, Krankheit, Folter und Zwangsarbeit. Und doch gelang es einigen Gefangenen sich in den Lagern künstlerisch zu betätigen. Auch unmittelbar nach der Befreiung fertigten zahlreiche Überlebende Bilder über ihre Lagerzeit an. Was waren ihre Beweggründe? Wie waren die Möglichkeiten der Kunst im KZ? Und können diese als Kunst bezeichnet werden, oder sind sie eher als Dokumente zu betrachten? Dieser Essay versucht Antworten zu geben und einen Überblick über die Kunst der Häftlinge und Überlebenden aus den NS-Zwangslagern zu liefern.
Die Häftlingskunst in den NS-Zwangslagern lässt sich grundsätzlich in zwei Kategorien einordnen: Zum einen Kunst im offiziellen Auftrag der SS, zum Anderen verbotene Kunst, die im Verborgenen entstand.
Kunst auf Befehl war in allen größeren KZ anzutreffen. Künstlerisch talentierte Häftlinge mussten unter anderem Landkarten, Plakate, Schilder, Wegweiser, Tabellen und Baupläne herstellen. Andere Gefangene wurden beauftragt, den Lagerausbau in großen Ölgemälden zu dokumentieren oder Holzschnitzereien und Schmiedearbeiten anzufertigen. In sogenannten „Ateliers“ (oft engen Häftlingsbaracken), in Malerkommandos, Baubüros und technischen Abteilungen entstanden so zahlreiche Kunstwerke. Abgesehen von ihrem praktischen Nutzen offenbaren sie ein geschöntes Bild der Lagerrealität, ganz im Sinn der NS-Propaganda.
Was nicht ausdrücklich von der SS befohlen wurde, war den Häftlingen streng verboten. Wer entdeckt wurde, musste mit Ermittlungen, Folter, Lagerarrest oder oftmals tödlich endender Strafkompanie rechnen. Die extremen Lebensbedingungen reduzierten die Möglichkeiten, sich künstlerisch zu betätigen, auf ein absolutes Minimum. Nach einem Arbeitstag von zwölf und mehr Stunden hatten die meisten Häftlinge schlicht keine Zeit, sich Zeichenmaterial zu besorgen und Kunstwerke anzufertigen. Geringfügig bessere Chancen hatten diejenigen Gefangenen, die in den SS-Dienststellen oder in den Lagerwerkstätten arbeiteten. Denn dort konnten sie leichter Bleistifte und Papier besorgen und die Arbeit in den geschlossenen Räumen war weniger erschöpfend.
Die Bedingungen konnten sich allerdings erheblich von Lager zu Lager unterscheiden. So waren zum Beispiel im Ghetto Theresienstadt im begrenzten Maße künstlerische Aktivitäten möglich, da es als vermeintliches „Musterlager“ der NS-Propaganda diente. In den Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau oder Treblinka haben sich dagegen kaum Bildwerke von Gefangenen erhalten.
Manchmal zweigten die Gefangenen für ihre heimlichen Werke das Material aus den offiziellen Aufträgen ab. Oft blieb ihnen jedoch keine andere Wahl, als Papier und Stifte bei der Ankunft in das Lager zu schmuggeln, gegen einen Teil ihrer spärlichen Lebensmittelrationen einzutauschen, Funktionshäftlinge oder SS-Angehörige zu bestechen, aus Werkstätten und Büros zu stehlen oder – wenn sie großes Glück hatten – Material aus Hilfspaketen zu bekommen. Gemalt und gezeichnet wurde unter anderem mit Holzkohle, Kreide, Pastellstiften, Rötel oder Tusche. Am häufigsten wurde der Bleistift eingesetzt, da er überall im Lager zum Anfertigen von Listen oder Ausfüllen von Formularen verwendet wurde. Als Bildträger verwendeten die Häftlinge u.a. Papier aus Zeichenblöcken, Notizbüchern, Schulheften, Buchseiten oder den Rückseiten von Formularen der SS.
Helga Weissová (geb. 1929), die 1941 als 12jährige von Prag ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde, durfte ihren Zeichenblock und ihre Wasserfarben mitnehmen. Während die Farben fast drei Jahre reichten, ging der Papiervorrat bald zur Neige, so dass ihr Vater heimlich Papier aus der Zeichenstube des Technischen Büros mitbrachte. Darüber hinaus sparte sie mit dem Material, indem sie ihre Farben manchmal mit Pfützenwasser von der Straße mischte, was ihre Bilder düsterer wirken ließ (Weissová 1997).
Um ihre Kunstwerke zu retten, versteckten einige Künstler ihre Arbeiten an sicheren Orten oder schmuggelten sie aus dem Lager heraus. Andere gaben ihre Werke an Freund/innen und Verwandte weiter, die sie aufbewahrten. Helga Weissová übergab kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz im Oktober 1944 die Bilder an ihren Onkel Josef Polák, der im Ghetto Theresienstadt blieb. Er versteckte sie hinter einer Mauer der Magdeburger Kaserne und gab sie nach der Befreiung an seine Nichte zurück.Der Großteil der Kunstwerke ging jedoch verloren oder fiel der SS in die Hände. Einige Häftlinge zerstörten aus Furcht vor einer Entdeckung ihre eigenen Arbeiten. So zerschnitt Erich Lichtblau (1911-2004) fast alle seiner Karikaturen, die er im Ghetto Theresienstadt von 1942 bis 1944 anfertigte. Nach der Befreiung fügte er die Schnipsel wieder zusammen und erneute die Bildinschriften (Melamed 2010).
Trotz der extremen Ausnahmesituation haben viele Häftlinge sich künstlerisch betätigt. Die Gründe sind vielfältig und heute aus dem Rückblick nur schwer zu erklären. Gleichwohl lassen sich zwei übergreifende Kategorien ausmachen:
Zum einen können die bildnerischen Arbeiten als ein Zeichen der Selbstbehauptung verstanden werden und als Rückgriff auf eine frühere kulturelle Identität (Suderland 2004). Bereits der Moment des Zeichnens, die Auswahl des Bildthemas, der Komposition und des Zeichenstils bewirkte für einen kurzen Moment eine Kontrolle über das eigene Leben, die der Häftling ansonsten nicht mehr besaß.
Ein anderer Beweggrund war der Wunsch, die Lagerwirklichkeit zu dokumentieren, und der Nachwelt ein Zeugnis der Ereignisse zu liefern. Viele Häftlinge trieb die Angst um, mit ihrem Tod könnte auch das Wissen um die Verbrechen der Nationalsozialisten verschwinden und niemand würde davon erfahren. Wahrscheinlich auch deshalb hat der Vater von Helga Weissová kurz nach der Ankunft im Ghetto Theresienstadt zu seiner Tochter gesagt: „Zeichne, was Du siehst!“.
Die thematische Bandbreite in den Bildwerken ist groß. Neben der Deportation und der Aufnahme im KZ zeichneten die Häftlinge die Enge der Baracken, den quälenden Hunger, die körperliche Erschöpfung und die katastrophalen hygienischen Verhältnisse. Andere Motive sind die Zählappelle, die Essensausgaben und die vielen Arten der Zwangsarbeit. Darüber hinaus werden oftmals Wachtürme, Stacheldrahtzäune und Häftlingsbaracken abgebildet. Hingegen drücken Landschaftsbilder, Stillleben oder Märchenszenen den Wunsch der Häftlinge nach einer friedlichen Gegenwelt aus.
Zu den häufigsten Bildmotiven der Lagerkunst zählen Porträts und Selbstbildnisse. Oftmals zeigen die Darstellungen ein geschöntes Abbild, um die Würde des Porträtierten zu bewahren. Porträts waren für die Angehörigen als Lebenszeichen gedacht, konnten Zeichen der Dankbarkeit sein (etwa für Nahrung oder Medikamente) oder dienten als Passbildersatz für Lagerflüchtlinge.
Nach Kriegsende standen viele bildende Künstler – nicht nur die überlebenden Lagerhäftlinge – vor einem Problem: Wie lässt sich die nie zuvor erlebte Ungeheuerlichkeit des Holocaust in die Sprache der Kunst übersetzen?
Um besser verstanden zu werden, verwendeten zahlreiche Künstler eine symbolische Bildsprache. Zum einen griffen sie traditionelle Elemente der christlichen Ikonografie auf, zum Beispiel die Motive der Pietà oder der Apokalypse. Zum anderen entwickelten sie neue Metaphern wie etwa den Krematoriumsschornstein als Zeichen der Ermordung oder den Güterwaggon als Sinnbild der Deportation. Ein Teil der Künstler verzichtete ganz auf Symbole und wählte eine sachliche Wiedergabe der Ereignisse.
Viele Überlebende beließen es nicht bei einzelnen Bildern, sondern gaben in mehrteiligen Bildfolgen ihrer Erinnerung eine chronologische Ordnung (Wendland 2011: 157-163). Thomas Geve (geb. 1929) kam 1943 als 13jähriger nach Auschwitz. Später überlebte er auch die Lager Groß-Rosen und Buchenwald. Kurz nach der Befreiung fertigte er noch in Buchenwald und später in der Schweiz eine umfangreiche Bildserie aus 79 Buntstift- und Aquarellzeichnungen an (Geve 1997). Die kindlich anmutenden Darstellungen beginnen mit der Ankunft in Auschwitz. So zeigt Geve zum Beispiel die demütigende Aufnahmeprozedur (Bild 1: Desenfektion). Ein anderes Bild stellt den Zählappell dar, der, wenn die Zahlen nicht stimmten, auch bis in die Nacht dauern konnte (Bild 2: Apell). Im dritten Bild ist der Tag der Befreiung am 11. April 1945 in Buchenwald zu sehen. Nun sind die Machtverhältnisse umgekehrt, die blauen KZ-Häftlinge überwältigen die gelben SS-Männer (Bild 3: "Wir sind frei").
In naher Zukunft wird es keine Zeitzeugen des Holocaust mehr geben. Nur mittels ihrer literarischen und künstlerischen Hinterlassenschaften können Sie noch zu uns sprechen. Während Schriftsteller, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, Preise für ihre Arbeiten erhalten (z.B. der Nobelpreis für Imre Kertész u.a. für seinen „Roman eines Schicksallosen“), ist eine Anerkennung für die bildenden Künstler bislang weitgehend ausgeblieben. Zwar sind die Bilder der Häftlinge sowie der Überlebenden heute in zahlreichen Ausstellungen, Gedenkstätten und auch im Internet präsent. Doch häufig dienen sie als Veranschaulichung der Zeit in den Lagern, als Dokumentation des Schreckens und Zeugnis der NS-Verbrechen.
Auch die Bilder von Thomas Geve, Helga Weissová oder Erich Lichtblau werden in der Regel gezeigt, um dem Betrachter die Welt der Konzentrationslager zu erklären. Weit weniger wird dabei der künstlerische Eigenwert der Bilder berücksichtigt. Zu erdrückend erscheint häufig der Inhalt. Doch neben der Perspektive eines Häftlings beinhalten die Bilder eben auch die Perspektive eines Künstlers. Eines Künstlers, der bewusst Komposition, Medium und Farbe einsetzt. Der aus dem Strom seiner Erinnerung ganz bestimmte Motive auswählt, und sie in eine individuelle Bildsprache überführt. Und dessen Werke sich vielleicht auch mit anderen Strömungen und Sujets aus der Kunstgeschichte vergleichen lassen.
Gleichwohl werden Lagerbilder immer mit den Bedingungen verknüpft sein, unter denen sie entstanden sind. Im KZ war eine Kunst, die ohne Zwang und aus freien Stücken geschaffen wurde, nicht möglich. Auch die Werke der Überlebenden sind durch die Biografien ihrer Schöpfer eng mit der Lagerwelt verbunden.
Die Bilder sind deshalb beides: Sowohl historische Quelle und Zeugnis, als auch eigenständiges Kunstwerk. Beide Sichtweisen zu vereinen ist eine Aufgabe für jetzige und für zukünftige Generationen, um der Kunst der Häftlinge und Überlebenden gerecht zu werden.
Amishai-Maisels, Ziva: Depiction & Interpretation. The Influence of the Holocaust on the Visual Arts, Oxford, New York, Seoul, Tokyo 1993.
Geve, Thomas: „Es gibt hier keine Kinder …“. Auschwitz. Groß-Rosen. Buchenwald. Zeichnungen eines kindlichen Historikers, Göttingen 1997.
Kaumkötter, Jürgen: Der Tod hat nicht das letzte Wort. Kunst in der Katastrophe 1933 – 1945, Berlin 2015.
Melamed, Vladimir (Hg.): They Shall Be Counted. The Theresienstadt Ghetto Art of Erich Lichtblau-Leskly, Los Angeles 2010.
Suderland, Maja: Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager, Frankfurt/M. 2004.
Weissová, Helga: „Zeichne, was Du siehst“. Zeichnungen eines Kindes aus Theresienstadt/Terezín, Göttingen 1998.
Wendland, Jörn: Bildgeschichten von Häftlingen der Konzentrations- und Vernichtungslager. Kontinuität und Wandel in Funktion, Ikonografie und Narration vor und nach 1945, in: Christiane Heß/Julia Hörath u.a. (Hg.): Kontinuitäten und Brüche. Neue Perspektiven auf die Geschichte der NS-Konzentrationslager, Berlin 2011, S. 142–164.