Auf das Unbekannte zugehen zu können, ist Grundlage wie Ziel einer erfolgreichen Stadtrallye (nach: Gerhard Knecht, Rallyes. Eine Einführung, gruppe & spiel Nr. 3/08). Zur Erinnerung: Die Teilnehmenden entdecken in einer Gruppe einen Stadtraum, lösen gemeinsam verschiedene Aufgaben und erreichen ein bestimmtes Ziel. Eine oft unbekannte Stadt, in der man sich auf ungewohnte Weise bewegt, zusammen mit Menschen, die man meistens kaum kennt – eine Menge "Unbekanntes" also. Wie nutze ich nun diese methodischen Gegebenheiten für meine pädagogische Arbeit, und wie verbinde ich das Format Rallye mit Elementen der historisch-politischen Bildung?
In einem Tages-Workshop erarbeiten Freiwillige eines FSJ-Jahrgangs (Freiwilliges Soziales Jahr) eigenständig eine Rallye für die gesamte Gruppe. Nach einem Brainstorming zu wichtigen Prinzipien einer Rallye und der Klärung des organisatorischen Rahmens erkunden die Freiwilligen selbständig Möglichkeiten in der Stadt, entwerfen Route und Aufgaben, gestalten das benötigte Material und leiten am Ende die Durchführung der Rallye.
Zehn Jugendliche aus Weißrussland und Deutschland, die sich in ihrem Austauschprojekt mit Menschenrechten beschäftigt haben, kommen zu einem Abschlusstreffen in Berlin zusammen. Auf zwei verschiedenen Routen entdecken sie im Stadtraum Orte, die mit einzelnen Menschenrechten bzw. ihrer Verletzung verbunden sind. Sie erweitern nicht nur ihr historisches Wissen, sondern analysieren und dokumentieren auch den aktuellen Stand der Menschenrechte im Alltag der Stadt.
Altersmäßig gemischte Gruppen erkunden ihre Stadt in Hinblick auf das Zusammen- bzw. Nebeneinanderleben von Jung und Alt. In einer Art „Biografie-Arbeit vor Ort“ tauschen sie sich über die persönliche Nutzung bestimmter Stadträume oder ihre Verbindung zu konkreten Ereignissen aus ("Kennst du diesen Stadtteil, gefällt er dir, wie hat er sich verändert? "; "Wo warst du, als die Mauer fiel? " bzw. "Wie und wo hast du etwas über den Mauerfall gelernt? ")
Zum einen zeigen die drei Beispiele das mögliche inhaltliche Spektrum von Stadtrallyes. Grundsätzlich ist jedes Thema geeignet, das sich in irgendeiner Form im Stadtraum abbildet. Historische Ereignisse stellen sich in Denkmälern dar, sind lesbar in bestimmten Architekturstilen oder im Stadtaufbau selbst. Stadt funktioniert für verschiedene gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich (oder gar nicht), und so kann der Stadtraum auch auf Teilhabe und Diskriminierung hin untersucht werden.
Zum anderen zeigen die Beispiele unterschiedliche Stufen der Mitgestaltung. Im ersten Fall erstellten die Jugendlichen selbst die Rallye, nur die eigentliche Idee kam von den Trainerinnen. Für Jugendaustausche ist diese geteilte Verantwortung überaus geeignet. In den anderen beiden Beispielen waren Route und Aufgaben vorgegeben. Allerdings gestalteten die Teilnehmenden ihre Dokumentation nach eigenen Vorstellungen, auch in vielen Aufgaben ging es um sie selbst und nicht um das Sammeln von reinen Fakten. Im Allgemeinen sind die Gruppen auch immer mit einem Stadtplan ausgestattet, sodass sie sich eigenständig orientieren könn(t)en.
Die hier nur angedeuteten, vielfältigen Möglichkeiten der Methode "Stadtrallye" unterstützen auch einige wichtige pädagogische Ziele der nonformalen Bildungsarbeit. Denn die Teilnehmenden
setzen sich auf interaktive Weise mit dem Stadtraum auseinander, sie analysieren ihre Umgebung, überprüfen und revidieren unter Umständen ihre eigenen Gewohnheiten, Vorstellungen und Stereotypen;
tauschen sich über ihre Beobachtungen aus und lernen so die Lebensrealitäten der anderen kennen ("Hier gibt es viel weniger Polizei auf den Straßen"; "Bei uns gibt es viel mehr freie WiFi-Hotspots ... ");
arbeiten in einem Team, müssen sich selbst organisieren und gemeinsam Entscheidungen treffen (und sei es nur die über das Lauftempo ...);
arbeiten kreativ, nutzen verschiedene Medien und unterschiedliche Lernkanäle;
lernen den Stadtraum zu „lesen“, und trainieren so die für interkulturelles Verstehen wichtige Fähigkeit der nonverbalen Kommunikation;
kommunizieren aber auch verbal in unter Umständen herausfordernden Situationen (oder haben Sie schon einmal versucht, ohne umfassende Sprachkenntnisse ein Ei zu tauschen?) und lernen mit Ablehnung und Wertschätzung umzugehen.
Der Nutzen von Stadtrallyes bei der Entwicklung sogenannter soft skills oder beim Erwerb von Methodenkompetenz liegt demnach auf der Hand. Aber als Pädagogin oder Pädagoge will ich ja auch Inhalte und Wissen vermitteln – ist die Methode dafür nicht zu offen? Kann ich nicht zu wenig steuern, ob und was meine Teilnehmenden lernen? Und überfordere ich damit nicht auch manche Teilnehmende, die sich einen klaren Rahmen (und nicht zu viel Unbekanntes) wünschen?
Zuerst zwei Gegenfragen: Wie viel bleibt bei einer normalen Stadtführung – denn damit muss ich die Stadtrallye ja fairerweise vergleichen – hängen? Gibt es umgekehrt nicht Teilnehmende, die man mit einer Stunde Zuhören im Stadtgetümmel überfordert? Eine entsprechende Vor- und Nachbereitung, die Erstellung passender Materialien, aber auch Mischformen (halb Führung, halb Rallye) können darüber hinaus die berechtigte und ernst zu nehmende Kritik an der Methode entkräften.
Vor allem aber soll hier eine Lanze für mehr Beteiligung gebrochen werden – Stadtrallyes eröffnen da insgesamt mehr Chancen als klassische Stadtführungen. Sie ermöglichen selbstbestimmtes, offenes Lernen und können dadurch auch die Vielfalt, die in Städten existiert, direkter erfahrbar machen. Durch entsprechende Aufgabenstellungen können sogar Mechanismen der Ausgrenzung und die (Un-) Zugänglichkeiten von Stadträumen wahrgenommen, analysiert und diskutiert werden.
Nach einer Stadtrallye wissen Teilnehmende vielleicht nicht, wann ein Schloss gebaut oder ein Denkmal errichtet wurde. Dafür haben sie gemeinsam den Weg gesucht oder Hemmungen überwunden, fremde Menschen anzusprechen. Sie haben den Stadtraum auf historische Spuren und aktuelle Nutzung hin untersucht – und sind dem Unbekannten dabei wahrscheinlich ein Stück näher gekommen.
Legen Sie zuerst Ihr Ziel fest – methodisch und planerisch macht es einen Unterschied, ob sich die Teilnehmenden in erster Linie kennenlernen oder gemeinsam bestimmte Inhalte erarbeiten sollen.
Beginnen Sie mit Ihrer Planung auf der Straße – nur so lässt sich eine Rallye wirklich an Gruppe und Thema anpassen. Viele Aufgaben und Aktivitäten ergeben sich erst vor Ort.
Setzen Sie verschiedene Aufgabentypen ein, bleiben Sie nicht beim puren Sammeln von Informationen. Erfahrungsaufgaben, bei denen Wissen und Meinungen abgerufen und in der Gruppe ausgetauscht werden, sollten neben Erlebnisaufgaben stehen (Interviews und Kontaktaufnahmen, Sammlung von Fundstücken, Spielelemente etc.).
Überlegen Sie, welche Materialien und Informationen Ihre Teilnehmenden brauchen – zur Vorbereitung oder auf dem Weg, zum Verständnis konkreter Orte oder einfach für ein sicheres Gefühl.
Nutzen Sie verschiedene Medien, um Rallyes zu erstellen oder zu dokumentieren. In Zeiten des Smartphones stehen Foto, Film, Ton und Text ohne allzu großen Aufwand zur Verfügung und entsprechen dem Medienverhalten Ihrer Teilnehmenden mehr als ein DIN-A-4-Blatt.
Werten Sie Ihre Rallye aus – die Erfahrungen und Erkenntnisse der Teilnehmenden können so inhaltlich wie methodisch eine Rolle für Ihre weitere Arbeit spielen.